MEXIKO: Mörderische Eskalation

Seit Mexikos Präsident Felipe Calderón mit einem Großaufgebot an Bewaffneten der Drogenmafia den Krieg erklärt hat, nimmt die Gewalt in Ciudad Juárez ein desaströses Ausmaß an. Die Regierung reagiert spät und hat nun einen schrittweisen Abzug der Streitkräfte angekündigt.

„Auf der Straße heult man nicht!“ Alles klar? Und noch einmal für die, die es immer noch nicht kapiert haben: „Seit ich klein bin, haben sie mich gelehrt: Auf der Straße heult man nicht!“. Wenn Aarón mit seinen Freunden von MC Crimen auf der Bühne steht, geht es um mehr als harte Breaks und schnelle Worte. Mit dem Rap versucht er, den täglichen Wahnsinn zu verarbeiten: die Schüsse, die Militärkontrollen, die ständige Angst vor dem Tod. „Ich bin kein Engelchen, ich war drogensüchtig und habe einer Jugendbande angehört“, gibt der junge HipHopper zu. Seinem jugendlichen Publikum in der Don Quintin Mexican Bar in Ciudad Juárez ruft er entgegen: „Die Morde werden niemals aufhören.“

Für Jugendträume und Illusionen ist in der nordmexikanischen Metropole kein Platz. Wer hier aufwächst, der kann den Kämpfen zwischen Jugendbanden, Mafia, Soldaten und Polizisten nicht entkommen. Die Gewalt eskaliert immer mehr, seit Mexikos Präsident Felipe Calderón mit einem Großaufgebot an Bewaffneten der Drogenmafia den Krieg erklärt hat. Kein Tag vergeht mehr ohne Tote in dieser 1,3-Millionen-Einwohner-Stadt an der Grenze zu den USA. Im Jahr 2007, bevor die Militärs kamen, seien es noch rund 300 Morde gewesen, erklärt Perla de la Rosa vom Bürgernetzwerk SOS Juárez, „2009 haben 2.637 Menschen ihr Leben verloren“.

Die Sicherheitskräfte sollen eine Situation in den Griff bekommen, die militärisch nicht zu lösen ist. Nach Angaben der städtischen Behörde für Öffentliche Sicherheit agieren in Ciudad Juárez 521 Banden, mindestens 14.000 der Mitglieder sind Jugendliche zwischen 13 und 17 Jahre. Einige Gangs sind in die Dispute zweier großer Drogenclans verwickelt, die um die Vorherrschaft kämpfen: das Sinaloa- und das Juárezkartell. So etwa die „Azteken“. Die Bande entstand in den Gefängnissen des nahegelegenen Texas, um sich gegen weiße US-Amerikaner zu verteidigen. Heute agieren sie für das Sinaloakartell des Drogencapos Joaquín „El Chapo“ Guzmán. „Los artistas asesinos“ – die „Künstler des Mordens“ und die „Mexicles“ töten dagegen für das Juárezkartell.

„Anstatt uns zu beschützen, sind die Polizisten und Soldaten gekommen, um uns zu massakrieren.“

Auch viele kleine Banden arbeiten für die Drogenmafia. Doch wer genau wo steht, darüber wisse man wenig, erklärt Carlos Murillo von der Universität El Colegio de Chihuahua. „Es gibt keine Informationen“. Der Sozialwissenschaftler kritisiert zugleich das Stigma, das gegenüber vielen Jugendlichen geschaffen werde: „Sie werden für alles Schlechte verantwortlich gemacht, das in dieser Stadt passiert.“ Wer entsprechend aussieht, könne Probleme bekommen. „Klar, ich kleide mich auch wie ein Bandenmitglied“, bestätigt Aarón und zeigt auf seinen roten Kapuzenpulli, seine weite Hose und die Basecap. Und die HipHopperin Susana Molina, „La Oveja Negra“ – „das schwarze Schaf“ – ergänzt: „Niemand fragt, was du tust. Wir werden einfach kriminalisiert, weil wir anders sind.“

Rapper Aarón hatte jüngst einen ungewöhnlichen Auftritt. Er sang am Grab des 18jährigen Juan Cazarez, der zusammen mit zwei Freunden von „Pandilleros“ – Bandenmitgliedern – aus dem eigenen Stadtviertel erschossen wurde. Juans Mutter hatte Aarón zum Begräbnis eingeladen. „Ihm gefielen deine Lieder“, schrieb sie dem Musiker. Und so sangen sie, der HipHopper von MC Crimen und die Freunde des Verstorbenen, auf dem Friedhof die „Chronik seines Lebens“, wie Aarón diesen Song nennt: „Hör hin, schau zu und schweige! Sonst wirst du durch die Kugeln einer Maschinenpistole sterben.“

Es kann jeden treffen. Doch die Opfer werden immer jünger. „80 Prozent sind jung, 30 Prozent sind weniger als 19 Jahre alt“, erklärt Victor Quintana, Abgeordneter der sozialdemokratischen PRD im Parlament des Bundesstaates Chihuahua. Selbst Kinder sterben im Drogenkrieg – als Passanten oder weil sie zum Beispiel ihren Bruder begleitet hatten. Im September 2009 traf es 18 Jugendliche aus einer Drogenentzugsanstalt. Ob die jungen Männer, wie behauptet wird, den „Azteken“ angehörten und einem Rachefeldzug zum Opfer fielen, steht in den Sternen. In Zeiten des Drogenkriegs wird nicht mehr ernsthaft ermittelt. „Wir wissen in keinem Fall, was passiert ist und wer die Täter sind“, erklärt Edgar Cortez vom Menschenrechtsnetzwerk „Todos los derechos para todos“.

Dennoch spricht Präsident Calderón gebetsmühlenartig davon, 90 Prozent der Ermordeten hätten „eine Verbindung zur Kriminalität“. Auch ein Massaker, bei dem am vergangenen 30. Januar 15 Menschen auf einer Party in Ciudad Juárez hingerichtet wurden, ordnete er einem Bandenstreit zu. Doch die meist Jugendlichen hatten einen Geburtstag und den Sieg einer Football-Mannschaft gefeiert. Mit der Drogenmafia hatten sie nichts zu schaffen. Es hatte sich um ein Versehen gehandelt: Die Täter vermuteten in dem Haus Mitglieder der „Künstler des Mordens“, erklärt ein festgenommener „Azteke“. Als Calderón zwei Wochen später anreiste, um sich zu entschuldigen, wurde er heftig angegriffen. „Sie sind hier nicht willkommen“, rief Luz María Dávila, die durch das Massaker zwei Söhne verloren hat.

Der Präsident steht unter Druck und verweist auf die Mitverantwortung der USA. Schließlich würden dort die meisten Drogen konsumiert, und auch die Waffen kämen aus dem Nachbarland. Erst Ende März statteten hochrangige US-Vertreter dem mexikanischen Staatschef einen Besuch ab. Der Anlass: Eine Angestellte des US-Konsulats sowie deren Ehepartner waren in Ciudad Juárez erschossen worden. Also reisten Außenministerin Hillary Clinton, Verteidigungsminister Robert Gates und Heimatschutzministerin Janet Napolitano zu Krisengesprächen ins Nachbarland. Gemeinsam werde man „die Probleme lösen, die von den kriminellen Kartellen ausgehen und die Straßen unserer Städte unsicher machen“, ließ Clinton wissen. Bislang konzentriert sich die Unterstützung aus dem Norden jedoch auf militärisches Material und blieb damit auf Calderóns Linie

Doch nach seinem Faux Pas mit den ermordeten Jugendlichen Ende Januar tritt auch der mexikanische Staatschef etwas leiser. Auf einen entsprechenden Regierungsbeschluss von vorvergangenem Donnerstag folgt zurzeit ein schrittweiser Abzug der Armee aus der Stadt. „Mittelfristig“ soll die örtliche Polizei dort wieder allein die Verantwortung für die Sicherheit übernehmen. Nebst dieser sicherheitspolitischen Maßnahmen will Calderón im Rahmen eines „Eingriffsplans Juárez“ rund 200 Millionen Euro in Sozialarbeit, Bildung und Gesundheitsprojekte investieren. Zuvor waren Luz María Dávila, andere betroffene Mütter und die SOS-Aktivistin de la Rosa nach Mexiko-Stadt gegangen, um ihrer Wut Luft zu machen. „Anstatt uns zu beschützen, sind die Polizisten und Soldaten gekommen, um uns zu massakrieren“, klagte de la Rosa im Parlamentspräsidium und kritisierte die zunehmende Gewalt als Ergebnis der Militarisierung. In Anlehnung an die „Feminicidios“, die unzähligen unaufgeklärten Frauenmorde in Ciudad Juárez, spricht die mexikanische Wochenzeitung „Proceso“ bereits von einem „Juvenicidio“. Für die Soziologin Teresa Almada vom „Haus zur Förderung Jugendlicher“ sind die junge Menschen im doppelten Sinn Opfer: „Entweder sie sind in das Verbrechen verstrickt, werden verletzt und ermordet, oder sie leiden darunter, dass sie keine Möglichkeiten haben, sich anders zu entwickeln.“

Auch Aarón von MC Crimen singt von den „Arbeitslosen, die zum Rauben gezwungen sind, um nicht zu verhungern“. Von der „generación ni-ni“, der „Weder-Noch-Generation“ ist die Rede. Davon, dass sieben Millionen Jugendliche in Mexiko weder arbeiten noch die Schule besuchen. Einst Anziehungspunkt für Arbeitssuchende, findet man inzwischen kaum mehr Beschäftigung in Ciudad Juárez. Die Weltmarktfabriken, in denen internationale Unternehmen Hosen, Hemden und T-Shirts anfertigen lassen, leiden unter der Wirtschaftskrise. Zudem schrecken Investoren vor den gefährlichen Verhältnissen zurück. Hunderttausend Menschen haben ihre Arbeit verloren, rund 30 Prozent der Jugendlichen gehören hier bereits mit 15 Jahren zur „generation ni-ni“. Ihnen bleibt neben der Migration nur das Bandenleben, und auch das verspricht keine große Zukunft. Die wenigsten „Pandilleros“ werden älter als dreißig Jahre, die Capos zahlen den „Azteken“ wöchentlich knapp 150 Euro – ein Hungerlohn für Auftragsmörder. Drogenbaron „El Chapo“ wurde indes in die Forbes-Liste der weltweit Reichsten aufgenommen.

HipHopper Victor Aguera alias „Obio 13“ hat die Schnauze voll. Einige Freunde wurden niedergeschossen, seine Familie bedroht, seine kleine Tochter erzählt zuhause von Waffen. In einem Rap prangert er die verhassten Capos an: „Wieder kommt der Dämon, heute in einem luxuriösen Mercedes.“ Dann singt er von zwei Jugendlichen, die jüngst gestorben sind, „in einem Krieg, in dem keiner gewinnt, in dem keiner siegt“. Rapperin Susana will sich mit ihrer Musik den Verleumdungen Calderóns entgegenstellen. „Wir setzen auf die Kunst, um klarzumachen: wir sind keine Kriminellen.“ Gemeinsam mit drei befreundeten HipHopperinnen hat sie das „Frauenbataillon“ gegründet. Sie spielen in den marginalisierten Zonen, auf Straßen, in Bussen, auf Märkten. „Wir wollen, dass die Menschen wenigstens ein bisschen Freude haben“, sagt das „Schwarze Schaf“. Der HipHop sei zu einer sozialen Bewegung geworden. „Mit unserer Lyrik erzählen wir, was in dieser Stadt passiert. Niemand will das hören, aber wir müssen darüber sprechen“, erklärt die junge Frau mit der dunklen Brille und dem schwarzen Kapuzenpulli. Und als müsse sie es noch einmal betonen: „Das Leben ist nicht immer rosig, schon gar nicht in Ciudad Juárez.“

Wolf-Dieter Vogel berichtet für die woxx aus Lateinamerika, insbesondere aus Mexiko.


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