Nach dem so genannten Pisa-Schock kämpft die Mittelschicht in Deutschland um den Schulerfolg ihres Nachwuchses. Bildungspolitiker beugen sich immer häufiger den Forderungen der Elternlobby.
Der Blaue Brief ist das Damoklesschwert, das über einer Schullaufbahn in Deutschland schwebt. Im deutschen Bildungssystem wird man bei Problemen in der Schule abgestraft und aussortiert. Bildungsexperten sprechen von einer spezifischen Abstiegsmobilität, die es so kaum woanders auf der Welt gibt. Die meisten Länder ersparen den Schülern das „Sitzenbleiben“. Anstelle der demütigenden „Ehrenrunde“ bevorzugt man die individuelle Förderung und investiert in Schulpsychologen und Pädagogen. Wenn Eltern dagegen in Deutschland Post von der Schule erhalten, bleibt den Familien das Krisenmanagement überlassen. Die Angst vor dem drohenden Schulversagen des Nachwuchses kann zur Eskalation führen, auch in stabilen Familien. Derzeit erleben Erziehungsmethoden der Fünfzigerjahre, wie Hausarrest und Taschengeldentzug, eine Renaissance, und Eltern, die sonst den erklärten Anspruch hegen, einen partnerschaftlichen Umgang mit ihren Kindern zu pflegen, fordern Fleiß und eiserne Disziplin, um die Katastrophe abzuwenden.
Unbegründet sind die Ängste vor dem Schulversagen nicht. Deutsche Schulen gewähren ihren Schülern nur wenige Chancen: im Sanktionskatalog des dreigliedrigen Systems folgt auf das Sitzenbleiben der Schulverweis. Wilfried Bos, Bildungsforscher an der Dortmunder Universität, kommt zu dem Ergebnis, dass es in den vergangenen Jahren immer mehr Abstiege und immer weniger Aufstiege gibt. Mit der spezifisch deutschen Abstiegsmobilität assoziieren Eltern die Hauptschule.
Familien, die es sich finanziell leisten können, engagieren Nachhilfelehrer. Mittlerweile wird in Deutschland jährlich eine Milliarde Euro in Nachhilfe investiert. An ihr nehmen längst nicht mehr nur jene Schüler teil, die schlechte Noten nach Hause bringen. Auch der Klassenprimus gehört zum Kundenstamm der privaten Nachhilfe-Institute. Im zehnten Jahr des Pisa-Schocks sehen viele Gutsituierte im Extra-Unterricht eine Möglichkeit, die Erfolgsaussichten ihrer Kinder zu optimieren.
Viele Eltern treten gegenüber der Lehrerschaft durchaus selbstbewusst auf, wenn es um den Schulerfolg des Nachwuchses geht. Immer häufiger prozessieren sie gegen eine als unfair empfundene Benotung oder kommen gleich im Beisein des Anwalts in die Elternsprechstunde. Die Mitarbeiter in den Beschwerdeabteilungen der Bildungsbehörden sind ganzjährig mit der Beantwortung böser Briefe und
E-Mails beschäftigt.
In der Zeit, in der für einen Jahrgang der Wechsel auf eine weiterführende Schule ansteht, beginnt das „saisonale Geschäft“. Belebt wird es vor allem von Bildungsbürgern, deren Kindern von Grundschullehrern die Empfehlung für das Gymnasium verweigert wurde. „Kein Gesetz der Welt kann Eltern verbieten, die Sache der Bildung selbst in die Hand zu nehmen“, erklärt der Pädagogikprofessor und Präsident der Hamburger Universität Dieter Lenzen im Spiegel. Lenzen wünscht sich denn auch so etwas wie eine neue „Bildungs-Apo“. Seine Hoffnung scheint sich gerade zu erfüllen. In Niedersachsen gibt es derzeit ein Volksbegehren gegen die so genannte G8-Reform, mit der die Schulzeit an Gymnasien von neun auf acht Jahre verkürzt worden war. Elternverbände kritisieren die Überforderung der Schüler und fordern eine gründliche Überprüfung des Unterrichtspensums. In Berlin protestiert das „Aktionsbündnis gegliederte Schule“ gegen die Zusammenlegung von Haupt- und Realschule, und in Hamburg wurden mit einem Plebiszit die vom schwarz-grünen Senat geplanten Schulreformen gekippt.
Der Begriff der „Bildungs-Apo“ ist nicht schlecht gewählt, die gegenwärtigen Auseinandersetzungen um die Schulpolitik kann man durchaus als Klassenkampf bezeichnen. Die Generation der 68er rebellierte gegen ihre bürgerliche Herkunft, solidarisierte sich mit Fabrikarbeitern, engagierte sich für Heimkinder und forderte die Einheitsschule für mehr Chancengleichheit. Derzeit ist eine gegenläufige Bewegung zu beobachten, praktiziert wird ein Klassenkampf von oben.
Rein statistisch gesehen gibt es dafür keinen Grund. In der Bundesrepublik lief der Sohn eines Chefarztes nie ernsthaft Gefahr, sein Schülerdasein auf der Hauptschule bestreiten zu müssen, und daran hat sich bis heute nichts geändert.
Das deutsche Bildungssystem ist im internationalen Vergleich eines der ungerechtesten.
Die Pisa-Studien bescheinigen dem deutschen Bildungssystem regelmäßig, im internationalen Vergleich eines der ungerechtesten zu sein. In Deutschland verlassen jährlich 20 Prozent eines Geburtenjahrgangs die Schule ohne Abschluss, und bei diesen Bildungsverlierern handelt es sich ausschließlich um Schüler aus sozial schwachen Familien, das Abitur ist für die Kinder der sogenannten bildungsnahen Schichten reserviert. Bildungsexperten, die im Rahmen einer internationalen Studie der Vereinten Nationen auch deutsche Schulen besichtigten und an Unterrichtsstunden teilnahmen, äußerten die Befürchtung, dass im Mitgliedsstaat Deutschland das Menschenrecht auf Bildung verletzt werde.
Eine Umfrage der Bertelsmann-Stiftung kam zu dem Ergebnis, dass mehr als die Hälfte der Bundesbürger die bildungspolitische Situation ähnlich einschätzt. Fast jeder zweite der Befragten plädierte für ein längeres gemeinsames Lernen der Kinder und empfand das Aussortieren nach dem vierten Schuljahr als sozial ungerecht. Drei Viertel der Bundesbürger bezweifeln, dass für alle Jugendlichen die gleichen Berufschancen gelten. Eltern von schulpflichtigen Kindern sind noch skeptischer: 86 Prozent glauben nicht an Chancengleichheit für sozial Schwächere und Kinder mit Migrationshintergrund auf dem Arbeitsmarkt. Fast 90 Prozent der Befragten forderten, Kinder aus sozial schwachen Familien individuell stärker zu fördern, und immerhin 62 wünschten sich mehr Unterstützung für Kinder und Jugendliche mit Migrationshintergrund.
Sobald sich die Kultusminister der Länder jedoch um Reformen des Bildungssystems bemühen, ist diese Empathie kaum noch wahrnehmbar. „Mein Kind first“, lautet die Devise, die Christian Füller im Spiegel beschreibt. Es sind vor allem gutsituierte Eltern, die zum Boykott der Reformpläne aufrufen und sich politisch in Elternvertretungen oder Verbänden organisieren. Was wohlhabende und bildungsbürgerliche Eltern in der Bildungspolitik verfolgen, ist Statussicherung. Darin spiegelt sich wohl auch die Angst der Mittelschicht vor dem Abstieg, eine Angst, die durch die Hartz-IV-Gesetze verstärkt wurde. Die Auswahl der Schule wird genutzt, um sich deutlich von potenziellen Bildungsversagern aus sozial schwachen Schichten abzugrenzen.
Die von der konservativen Konrad-Adenauer-Stiftung herausgegebene Studie „Eltern unter Druck“ spricht in diesem Zusammenhang von einer regelrechten „Kontaktsperre“. Bildung und Schulerfolg seien für Eltern inzwischen absolute Werte, und die Schule sei zum beherrschenden Thema des Familienlebens geworden.
Protest gegen Umstrukturierungen im Bildungssystem setzt immer dann ein, wenn Eltern um den elitären Status des Gymnasiums fürchten. Bildungsforscher Wilfried Bos geht nicht davon aus, dass die Gymnasien in absehbarer Zeit so reformiert werden, dass Schüler aus sozial schwachen Familien einen Zutritt zum Biotop der Bildungsbürgerkinder haben. Im Gespräch mit dem Spiegel begründet er diese Einschätzung mit der besonderen „Kampagnenfähigkeit“, die Eltern von Gymnasiasten haben. Dass das Gymnasium sakrosankt ist, wird von keinem der amtierenden Kultusminister in Frage gestellt.
Konfliktpotenzial in der Bildungspolitik bot in den vergangenen Jahren nicht nur die G8-Reform, sondern vor allem die Entscheidung, dass die Empfehlung von Lehrern bindend dafür ist, welche Schule das Kind nach der Grundschule besucht. Mittlerweile beugen sich in der Schulpolitik viele Landesregierungen der Macht der Elternklientel. Bereits Anfang des Jahres hat die Jamaika-Koalition des Saarlands den Übergang auf die weiterführenden Schulen auf ihre Forderungen hin neu geregelt. In Hamburg wich der schwarz-grüne Senat wegen Differenzen mit der Elterninitiative von seiner ursprünglichen Planung ab, das Elternwahlrecht beim Übergang von der Grundschule weitgehend einzuschränken. Kultusminister haben nicht nur verstanden, dass mit Bildungspolitik kaum Wahlen zu gewinnen sind, sondern auch, dass Bildungspolitik inzwischen zur Abwahl führen kann.
Die neue rot-grüne Koalition in Nordrhein-Westfalen hat mit einem Bildungsthema Wahlkampf gemacht. Nun kündigte sie als eine ihrer ersten Amtshandlungen zur Beruhigung der Elternlobby an, dass sie im Unterschied zu ihren Vorgängern den Eltern die Entscheidung überlässt, welche Schulform sie für ihre Kinder wählen möchten. Und sogar in Bayern hat die Landesregierung an Unnachgiebigkeit verloren. Dort bleibt das Abschlusszeugnis der Grundschule zwar weiterhin bindend für die weitere Schullaufbahn, aber dafür lässt man beim Notendurchschnitt, der für die gymnasiale Aufnahme verlangt wird, Großzügigkeit walten. Nachdem die Eltern jedes vierten abgelehnten Gymnasialkandidaten bei der bayrischen Bildungsbehörde Widerspruch eingelegt hatten, beugt man sich auch in dem Bundesland, das stets mit seinen schönen Hauptschulen geworben hatte, dem Elternvotum. Die Wochenzeitung „Zeit“ nannte die Hamburger Initiative „Wir wollen lernen“, die das Plebiszit mit einer Unterschriftenkampagne angestrengt hatte, spöttisch den „Gucci-Protest“ des Bildungsbürgertums. Dieser Protest ist mittlerweile ähnlich erfolgreich wie die Modemarke, nach der er benannt wurde.
Martina Mescher arbeitet als Journalistin unter anderem für die Berliner Wochenzeitung „Jungle World“.