In ihrem dritten Roman „Der einzige Mann auf dem Kontinent“ schildert die in Ungarn geborene Schriftstellerin Terézia Mora den Aufstieg und Absturz eines gewöhnlichen Mannes in einer globalisierten und digitalisierten Welt.
Darius Kopp, die Hauptfigur in dem neuen Roman der Autorin Terézia Mora, die in Deutschland zu den vielversprechenden Nachwuchsstimmen der Gegenwartsliteratur gezählt wird, ist eine naive Natur. Weder Sunnyboy noch Intellektueller, sondern ein ganz und gar durchschnittlicher 40-jähriger selbstzufriedener Geschäftsmann – eine Figur, die wie gemacht für eine moderne Welt wirkt. Als einziger Vertreter einer US-amerikanischen Firma für drahtlose Netzwerke, Standort: Mittel- und Osteuropa, ist er „ein kleines Rädchen im Business der virtuellen Geschäfte“ und funktioniert als solches, bis die New-Economy-Blase platzt. Er selbst sieht sich jedoch bis zuletzt als Gewinner einer neuen Zeit. In der DDR aufgewachsen, ist er als Informatiker nach ‚der Wende‘ ein gefragter Mann, der seinen Erfolg in vollen Zügen auskostet: „Je näher die Jahrtausendwende rückte, um so rauschender die Feste, die Band spielte Baila, baila bis hoch unters Messehallendach, und einmal blieb Kopp auf einer Empore stehen und warf jauchzend seine Visitenkarten in die tanzende Menge, und dann öffnete er den Mund ganz weit, damit ihm weitere gebratene Krammetsvögel hineinfliegen konnten, bis sein Bauch endgültig rotund davon wurde, wie ein ey“, beschreibt ihn Mora ironisch.
Die Autorin erzählt eine Woche aus dem Leben des übergewichtigen, an einen Teddybären erinnernden Computernerds, der zwar irgendwie liebenswert ist, von der Autorin aber mit schonungslosem Blick seziert wird. Mit Ironie und manchmal offenem Hohn zeichnet sie seine Existenz: träge, gefräßig, selbstzufrieden lebt er in den Tag hinein, kichert bisweilen vor sich hin und schaut öfters in den Spiegel, um festzustellen, dass er zwar ein „fetter Mensch“ sei, aber trotzdem ganz gut aussehe. Im berauschten Zustand erklärt er seiner Frau schon mal, er sei Gott oder zumindest gottähnlich, wobei er sich ins Profil dreht, damit das Licht vom Flur seinen vollen Bauch beleuchten kann: „Schau, Flora, wie eine Kathedrale“.
So virtuell die Computernetze in der beruflichen Arbeit des Romanhelden sich darstellen, so handfest sind die Dinge, die sein privates Leben bestimmen. Als genügsamer Charakter, der sich ganz der Befriedigung seiner Primärbedürfnisse verschrieben hat, gern isst, gern schläft, gern Sex hat, und dem im Grunde, ähnlich einem Homer Simpson, einzig an der Zufriedenheit des Augenblicks liegt, dreht sich Moras Held um seine eigene Achse und bewegt sich in seinem Mikrokosmos, gerade so, als wäre er der einzige Mann auf dem Kontinent. Wirkliche Freunde oder feste Sozialbindungen hat er nicht, in welcher Stadt er wohnt, spielt keine Rolle. „Ich liebe diese drei Dinge: meine Arbeit, Essen und Trinken, Flora“, lässt die Erzählerin ihn räsonieren. „Was ist das Leben?“ fragt ihn an einem gemeinsamen Zechabend sein bester Freund Jury. „In guten Schuhen gehen und jeden Tag Cocktails“, antwortet Kopp daraufhin lapidar.
Romanprotagonist Darius Kopp ist der Inbegriff des egoistischen Mannes.
Es verwundert wenig, dass der Romanheld, der im Grunde eher das Gegenteil eines Helden ist, die Gelegenheit, sich illegal zu bereichern, ohne langes Zögern beim Schopfe ergreift. Als ein säumiger Kunde einen Koffer mit Schwarzgeld in seinem Büro stehen lässt, gibt er rasch der Versuchung nach und freut sich kindlich über den Anblick des Geldes: „Am Freitag, den 5. September, nachmittags gegen 18 Uhr, während draußen der Feierabend- oder bereits der Abendverkehr rauschte, saß Darius Kopp leicht federnd in seinem Drehstuhl und wog ein Bündel Papiergeld in der Hand. Merkwürdig. Ich mag Geld ? als Zahlen. Ich mag 126.000, mehr als 3.500.“
Scheinbar beiläufig und ohne über mögliche Konsequenzen nachzudenken, schlittert der tragikomische Held ins Unglück. Auf amüsante Weise erzählt die Autorin, wie Kopp sich mit dem gefundenen Geld dem Konsumrausch hingibt und beim Gang durch ein Einkaufszentrum den dort angepriesenen kulinarischen Verlockungen erliegt: „Kopp probierte zahlreiche Stücke durch. Mit gebratenem Lachs und Frühlingszwiebeln. Mit Meersalz und Gurke. Mit Räuchertofu und Paprika. Mit Krabben und Chili. Mit Krebsfleisch, Avocado und Flugfischrogen. Mit Teriyaki-Hühnchen. Mit Seeigel-Eierstöcken.“ Man verspürt durchaus etwas wie Sympathie mit dieser unbedarften Figur, die kurzsichtig durch die Welt trottet und alles abgrast, was ihr die globalisierten Feinschmeckerauslagen bieten. Es ist sein Versuch, dem ereignisarmen Leben ein wenig Glück abzuringen.
Zugleich ist Darius Kopp ein zeitgemäßes Opfer der digitalen Welt. Langweilt er sich, schaltet er den Computer ein und besucht Internetforen. Sein monotoner Alltag scheint aus dem Löschen von Spammails, erfolglosen Telefonaten und Kaffeepausen zu bestehen. Dennoch reicht die Identifikation mit seinem Job so weit, dass er meint, ohne das Internet nicht mehr leben zu können. Einer Freundin seiner Frau kann er seinen Job nicht erklären, ohne sich ganz in der internalisierten Vermarktungssprache zu verlieren. Das Wesentliche an den Bedrohungen, die sich gegen drahtlose Netzwerke richten, sei, dass sie, im Gegensatz zu denen gegen konventionelle Netzwerke, unsichtbar seien. „Mit unserer neuen zentralen Kontrollbox von Fidelis Wireless haben wir eine Bildschirmoberfläche, auf der alle Access Points hierarchisch angeordnet sind, man ihre Standorte und die Ausdehnung der von ihnen ausgehenden Funkzellen graphisch aufbereitet sehen kann, was zum einen nützlich beim Konfigurieren und Verwalten der APs ist und auf der anderen Seite das Netz mit all seinen Aktivitäten sichtbar macht.“
Moras Sprache ist nuanciert, bisweilen umbarmherzig und in ihrer Klarheit erfrischend. Die Autorin spielt mit der Sprache, bricht bewusst gewohnte Formen der Syntax auf und schöpft souverän semantische Möglichkeiten aus. Voller Wortwitz und Humor, in klaren, scharfen Bildern, poppigen und trendigen Ausdrücken. Kreative Wortschöpfungen, wie „die Omega-Wetterlage“ oder für sich sprechende Alliterationen von der Art „Firma Fidelis“ machen die Lektüre des Romans zum Vergnügen. Die Erzählstruktur ist dabei wie bereits in ihrem früheren Roman „Alle Tage“ verwirrend und durch Träume, Selbstgespräche und lange imaginäre Unterhaltungen mit Abwesenden geprägt. Da Moras Romanheld die Angewohnheit, mögliche Einwände oder Reaktionen seiner Gesprächspartner zu antizipieren, auch in den realen Gesprächen zeigt ? was die Autorin durch Klammern in ihren Erzählungen kenntlich macht ?, bleibt beim Lesen manchmal unklar, was tatsächlich ausgesprochen wird und was Hirngespinste sind. So verlieren nicht nur die LeserInnen, sondern sogar der Protagonist selbst gegen Ende des Romans ein wenig den Überblick über Geschehenes und Geträumtes ? angesichts des Lesevergnügens, fällt dies jedoch kaum ins Gewicht.
Dennoch ist zumindest Kopps vorprogrammiertes Hineinschlittern ins Unglück für die LeserInnen absehbar, lange, bevor es dem trotteligen Romanhelden selbst klar wird. Dabei ist dieses Unglück hausgemacht und beruht allein auf der Ignoranz gegenüber seiner Umwelt und einer Lethargie, die sich in der Tendenz zum Aussitzen manifestiert: Er lässt seine Steuererklärung liegen und verheddert sich in unerfüllten Arbeitsplänen, verliert den Kontakt zu seiner Frau, hört ihr nicht zu und ignoriert ihre Bedürfnisse. Auf diese Weise schiebt er seine Probleme unerledigt vor sich her, bis sie sich zu einem großen Turm anstauen, der gegen Ende des Romans über ihm zusammenstürzt. So sieht Kopp seine (Um-)welt solange durch eine rosa-rote Brille, bis sie endgültig aus den Fugen gerät und die beiden Säulen seiner Existenz, seine Arbeit und seine Ehe, unter ihm wegbrechen.
Die Autorin zieht die entpersonalisierten Arbeitsabläufe einer globalisierten und durch den Computer bestimmten Arbeitswelt gnadenlos ins Lächerliche und schildert den Entfremdungseffekt der virtuell vollständig vernetzten Abläufe und Beziehungen, die real auf keiner menschlichen Kommunikation mehr beruhen, aus der so etwas wie menschliches Glück entspringen könnte. Der Romanheld ist als Prototyp des 21. Jahrhunderts beliebig austauschbar. Kopps Wertegefüge beruht auf materiellen Gütern, auf anonym bereitgestellten Waren. Er lebt und befriedigt sich allein durch Konsum: durch gutes Essen, Fernsehen, Internet und „Sex“. Doch gerade, dass dieser so ganz gewöhnliche Mann der Verlockung erliegt, trotz seiner leitenden Position Schwarzgeld auf die Seite zu bringen, dass er sich darauf dem Konsumrausch und den materiellen Verheißungen des modernen Kapitalismus voll hingibt und schließlich auf der ganzen Linie scheitert, macht ihn irgendwie sympathisch.
Mora hat nicht den großen Roman zum Ende des New-Economy-Hypes oder zum WWW-Kapitalismus geschrieben, doch ist ihr die Skizzierung eines gesellschaftskritischen Endzeit-Szenarios gelungen, in dem nicht zufällig das Klischeebild eines Mannes, der sich durch sein Verhalten in einer modernisierten Welt ins Unglück bringt, die Hauptfigur ist: Sollten sich die Menschen, ausschließlich geleitet von ihren eigenen Bedürfnissen, eines Tages nur noch triebgesteuert und auf sich selbst fixiert verhalten wie der Protagonist dieses Romans, dürfte das Ende eine Apokalypse sein. Denn Darius Kopp ist der Inbegriff des egoistischen, rücksichtslosen Mannes. So etwa hat man ihn sich vorzustellen, den letzten Mann auf dem Kontinent.
Terézia Mora – Der einzige Mann auf dem Kontinent. Luchterhand Verlag, 379 Seiten.