Pakistan erlebt die schlimmsten Überschwemmungen seiner Geschichte, etwa 14 Millionen Menschen sind von der Katastrophe betroffen. In der Bevölkerung steigt die Wut auf die Regierung, islamistische Gruppen können sich als Wohltäter profilieren.
Die Katastrophe zeichnete sich früh ab. Als Ende Juli der Monsunregen über den Nordwesten Pakistans in ungewöhnlicher Stärke hereinbrach, warnte Mian Iftikhar Hussain, Informationsminister der Provinz Khyber Pakhtunkhwa, in der Washington Post: „Wir sind hilflos. Die Infrastruktur dieser Provinz war bereits durch den Terrorismus zerstört worden. Dem, was noch übrig war, gaben die Fluten den Rest.“
Die Niederschläge hörten nicht auf. Immer mehr Regenwolken ballten sich vor der Karakorum-Gebirgskette und der östlich angrenzenden Südflanke des Himalaya. Meteorologen vermuten, die Ursache sei die ungewöhnliche globale Wetterlage: Das Hoch über Russland und Zentralasien habe den Monsun nach Westen geschoben. Im indischen Teil Kaschmirs verursachten die Regenfälle ebenfalls schwere Schäden, auch in Nepal kam es seit der zweiten Augustwoche zu Erdrutschen und Überschwemmungen.
Während in Nepal die Folgen des Monsuns fast jährlich zu humanitären Krisen führen, auf die sich die Hilfsorganisationen inzwischen eingestellt haben, war im Norden und Westen Pakistans niemand vorbereitet. Der Indus und seine Nebenflüsse traten über die Ufer. Schlammlawinen bahnten sich vielerorts ihre Wege. Abholzungen haben eine Bodenerosion verursacht, die geschädigten Berghänge konnten den Wassermassen nicht mehr standhalten. Erschwerend wirkte sich dabei auch aus, dass das Wasser wegen der zunehmenden Sedimentablagerungen nicht schnell genug abfließen konnte. Das ist eine Folge der landwirtschaftlichen Nutzung, für die inzwischen rund die Hälfte des Wassers abgezweigt wird. Die Hochwasserkatastrophe breitete sich über alle Provinzen entlang der Flüsse auf dem Weg zum Arabischen Meer aus.
Die pakistanische Regierung ging in der vergangenen Woche von mehr als 1.600 Toten aus, allerdings könne sich die Zahl der Flutopfer noch erhöhen, da aus abgelegenen Regionen kaum Informationen vorlägen. Die Vereinten Nationen schätzen, dass rund 20 Millionen Menschen von den Überschwemmungen direkt betroffen sind. Sechs Millionen von ihnen sollen akut auf Nothilfe angewiesen sein. Unter den Überlebenden sei eine zweite „Todeswelle“ durch Infektionskrankheiten und Hunger zu erwarten.
Ein Drittel des pakistanischen Territoriums ist vom Hochwasser in Mitleidenschaft gezogen worden. Angesichts der verzweifelten Lage wächst der Unmut über die Regierung, die Behörden und das Militär, die offenbar den Ernst der Lage anfangs unterschätzten. Wie schon bei früheren Notlagen scheinen sie völlig überfordert gewesen zu sein. Weder die vom Erdbeben in Kaschmir im Jahr 2005 Betroffenen noch die Hunderttausenden, die im vergangenen Jahr vor den Kämpfen zwischen Militär und Taliban in der Nordwest-Grenzprovinz flohen, erhielten schnelle und effektive Hilfe.
Auch die internationale Hilfe läuft nur schleppend an. Die USA stellten anfangs ein halbes Dutzend Hubschrauber zur Verfügung, andere an der Isaf-Mission im benachbarten Afghanistan beteiligte Staaten mussten erst ein Hilfsgesuch Pakistans an die Nato abwarten. Nur zögerlich werden staatliche Hilfsgelder bewilligt. Die Uno forderte 460 Millionen Dollar Soforthilfe von den Mitgliedsstaaten an, zugesagt wurde nur ein Drittel dieser Summe. Anders als nach dem Tsunami Ende 2004 ist auch die private Spendenbereitschaft in den reicheren Staaten gering, was zum Teil am schlechten Image Pakistans liegen dürfte.
Am schnellsten reagierten islamistische Wohltätigkeitsorganisationen in Pakistan. Sie bewiesen wie schon bei vorherigen Katastrophen, dass sie innerhalb kürzester Zeit ihre Kräfte mobilisieren können. Die Hilfe reicht von der professionellen Errichtung mobiler Krankenstationen, Trinkwasserwiederaufbereitungsanlagen und Feldküchen bis zu lokal organisierten Transporthilfen und der Verteilung von Nahrungsmittelspenden.
Diese Organisationen unterscheiden sich in ihrer Ideologie und regionalen Ausprägung. Das Spektrum reicht von der al-Khidmat im Umfeld der Jamaat-e-Islami, der einflussreichsten islamistischen Partei des Landes, über die Jamaat-ud-Dawa, die Beziehungen zu der für die Terrorattacken im indischen Mumbai verantwortlichen Jihadistengruppe Lashkar-e-Taiba unterhalten soll, bis hin zu Helfern der Sipah-e-Sahab, einer Gruppe, aus deren Umfeld wiederholt Anschläge auf Angehörige der schiitischen Minderheit und Christen verübt wurden.
Auch die pakistanischen Taliban versuchen, sich zu profilieren. Ein Sprecher der Tehreek-e-Taliban Pakistan forderte die Regierung auf, keinerlei ausländische Hilfsangebote anzunehmen: „Wir verachten Amerika und andere Hilfe durch Ausländer. Sie führt zu Unterwerfung.“ Für den Fall eines Verzichts auf ausländische Hilfe boten die Taliban 20 Millionen US-Dollar und die Verteilung von Hilfsgütern an – sofern man sie gewähren ließe.
Es zeichnet sich eine propagandistische Konkurrenz bei den Hilfsbemühungen ab, von der die Islamisten profitieren dürften. Die Regierung setzt vor allem das Militär ein, das von den Überschwemmungen mancherorts selbst direkt betroffen ist und der Lage nicht gewachsen zu sein scheint. Dass etliche halbmafiöse Netzwerke versuchen, aus der Not Kapital zu schlagen, verschlimmert die Situation zusätzlich. So haben sich vielerorts die Lebensmittelpreise und die Transportkosten vervierfacht.
Besonders verärgert ist man in Pakistan über Präsident Asif Ali Zardari, der bereits zuvor unpopulär war. Er weilte während der Katastrophe fernab der Überschwemmungsgebiete. Bei seinen Staatsbesuchen in Frankreich und Großbritannien versuchte er, die diplomatischen Verstimmungen der vergangenen Wochen zu beseitigen. Ihn empfing der britische Premierminister David Cameron, der Pakistan bei seinem Indien-Besuch Ende Juli noch als „Terror-Exporteur“ bezeichnet hatte.
Es regte sich heftige Kritik in einem Großteil der pakistanischen Presse, die dem Präsidenten vorwarf, dass er trotz der Flutkatastrophe seine Reise unbeirrt fortsetze. Zardari versicherte, dass sein Premierminister Yousaf Raza Gilani daheim auch ohne ihn alles im Griff habe. Diese für Zardari typische Aussage scheint die Vorwürfe seiner Kritiker zu bestätigen. Der mit einem geschätzten Privatvermögen von 1,5 Milliarden Euro ausgestattete Präsident repräsentiere lieber und halte sich aus der tagespolitischen Arbeit heraus, solange es nicht um seine machtpolitischen Interessen oder um die Erschließung weiterer Einnahmequellen gehe.
Zardaris Reise wurde zu einem PR-Desaster. Anfangs hatte er noch gehofft, seinen 21jährigen Sohn Bilawal öffentlichkeitswirksam in die Ränge der Pakistani People’s Party (PPP) erheben zu können. Viele Parteianhänger sehen den Sprössling der Politikerdynastie als den würdigen Erben von Zardaris im Jahr 2007 ermordeter Ehefrau an, der populären ehemaligen Premierministerin Benazir Bhutto. Doch der frisch examinierte Oxford-Absolvent zog es kurzfristig vor, in London ein Spendenbüro für die pakistanischen Flutopfer zu eröffnen, während sein Vater sich im Kongresszentrum in Birmingham mit einem erzürnten Schuhwerfer konfrontiert sah.
Ein Drittel des pakistanischen Territoriums ist vom Hochwasser betroffen.
Als die pakistanische Presse die Attacke auf den Präsidenten genüsslich aufgriff, verfielen PPP-Aktivisten in altbekannte Verhaltensmuster. Sie errichteten Scheiterhaufen aus Tageszeitungen, die den Schuhwurf auf dem Titelblatt zeigten. Die Ausstrahlung von privaten TV-Sendern, die die Attacke schleifenartig wiederholten, wurde zeitweilig behindert. Die seitdem im Internet kursierenden virtuellen Throw-the-shoe-at-AAZ-Games erfreuen sich trotz der staatlichen Zensurbemühungen großer Beliebtheit. Mit Zardaris Rückkehr Anfang vergangener Woche legte sich die mediale Aufregung. Die danach hastig organisierten Besuche Zardaris an der Hochwasserfront dürften jedoch zu keinem Imagegewinn geführt haben.
Die mediale Kritik an Premierminister Gilani hält sich derweil in Grenzen. Der 58-jährige studierte Journalist und Vizeparteivorsitzende der PPP arbeitet an seinem staatsmännischen Bild und stellt sich als fleißiger Politiker mit über drei Jahrzehnten Erfahrung dar. Auf internationaler Ebene verhandelt er recht sicher, was ihm beim Einwerben von Hilfsgeldern und Krediten zugute kommen dürfte, auch weil er im Gegensatz zu Präsident Zardari bescheiden auftritt. Gilani saß zwar wie Zardari während der Herrschaft von General Pervez Musharraf wegen Korruptionsvorwürfen mehr als fünf Jahre in Haft, scheint jedoch über gute Beziehungen zur Militärführung zu verfügen, die weiterhin eine sehr wichtige Rolle im Land spielt.
Nun ist er mit der größten Herausforderung in seiner zweijährigen Regierungszeit konfrontiert. Die Folgen der für Millionen Pakistanis lebensbedrohlichen Katastrophe werden das Land noch jahrelang beschäftigen. Die Infrastruktur, darunter auch der wichtige Karakorum Highway zum bedeutenden Handelspartner China, ist vielerorts zerstört worden. Die Flut hat erhebliche Ernteausfälle verursacht. Der wirtschaftliche Aufschwung der vergangenen Jahre dürfte zum Erliegen kommen. Die ohnehin bescheidenen Staatseinnahmen werden sinken, die horrende Staatsverschuldung wird weiter ansteigen. Die bislang von der korrupten Oligarchie praktizierte Klientelpolitik dürfte die Konflikte noch verschärfen.
Doch bei jeder Katastrophe gibt es auch Gewinner. Das Transportgewerbe kann von der steigenden Nachfrage profitieren und die Preise erhöhen. Die Holzmafia, deren Gewerbe dazu beitrug, die Folgen der Katastrophe zu verschlimmern, dürfte noch aggressiver agieren. Die Bauwirtschaft, die zu einem nicht unbedeutenden Teil mit dem Militär verbunden ist, wird zwangsläufig boomen. Die Jihadisten könnten ihren Einfluss steigern und weiteren Zulauf erhalten, wenn es dem Staat auch dieses Mal nicht gelingen sollte, die Versorgung zu gewährleisten und den Wiederaufbau voranzubringen.
Peer Bruch ist Politologe und unter anderem als Redakteur für das Internetportal Suedasien.Info tätig.