Die kubanische Regierung hat angekündigt, in den kommenden Monaten eine halbe Million Staatsangestellte zu entlassen. Diese sollen sich im Privatsektor neue Jobs suchen. Das soll eine Maßnahme gegen die von Experten monierte geringe Produktivität der kubanischen Wirtschaft darstellen.
Der 1. April 2011 ist der Stichtag. Bis dahin sollen 500.000 Angestellte aus dem kubanischen Staatsdienst entlassen werden. Der Beschluss, der vom kubanischen Gewerkschaftsdachverband vergangene Woche bekannt gegeben wurde, ist die bisher einschneidendste Maßnahme der Regierung von Staatschef Raúl Castro. Lange war sie erwartet worden, denn in mehreren Reden seit der Übernahme der Regierungsgeschäfte von seinem Bruder Fidel Ende Juli 2006 hatte der jüngere Castro strukturelle Reformen angekündigt. Dabei war auch auf die Tatsache aufmerksam gemacht worden, dass sich mehrere Kubaner einen Job teilen. Insgesamt rechnet die Regierung mit bis 1,3 Millionen Entlassungen in den nächsten Jahren. Das wären immerhin gut 25 Prozent der 4,9 Millionen Staatsbediensteten auf der Insel. Die sollen zukünftig eigenständig klarkommen. Die Komitees zur Verteidigung der Revolution sollen, so hat es die kommunistische Partei angeregt, den Menschen erklären, weshalb sie entlassen wurden und wie sie sich selbständig machen können. Da herrscht durchaus Bedarf, denn schließlich wurde jahrelang gerühmt, dass Kuba nahezu Vollbeschäftigung habe. In den offiziellen Statistiken sank die Arbeitslosenquote sogar in den vergangenen Jahren. Nun wird offen von aufgeblähten Belegschaften und Unterbeschäftigung gesprochen.
Die geringe Produktivität sei das zentrale Problem der kubanischen Wirtschaft, monieren Wissenschaftler der kubanischen Wirtschaftsinstitute und unabhängige Ökonomen wie Oscar Espinosa Chepe seit Jahren. Gleichwohl hat sich die politische Führung lange Zeit gelassen, um zu reagieren. Finanziell geht es der Insel schlecht: „Reserven gibt es seit Ende 2008 nicht mehr“, mutmaßt Omar Everleny Pérez, Vizedirektor am Studienzentrum der kubanischen Wirtschaft (CEEC). Wie andere Wissenschaftler auch, hat er den zuständigen Ministerien seine Sicht der Dinge dargelegt und Möglichkeiten aufzuzeigen versucht, um der Wirtschaft wieder Dynamik zu verleihen und den zerrütteten Haushalt und das Finanzsystem zu entlasten. „Diese Maßnahme ist der Anfang vom Ende einer Ära, in der vier Angestellte eine Maschine bedienten. Das wird es so nicht mehr geben“, sagt der Ökonom, der die Entscheidung gleich aus mehreren Gründen begrüßt. „Kubas Wirtschaft wird zwangsläufig produktiver werden, die Wirtschaftsstatistiken werden wieder aussagekräftiger, der Staat kann etwas sparen und das Haushaltsdefizit abbauen.“ Obendrein wird im Finanzministerium auch erwartet, dass die neuen Selbständigen den einen oder anderen Peso in die leeren Kassen bringen. 460.000 Jobs sollen im Privatsektor, wo Schätzungen zufolge derzeit 143.000 Kubaner arbeiten, bis zum Jahresende entstehen. Zu diesem Zweck plant die Regierung nach Angaben des Senders „BBC Mundo“ die Ausgabe von 460.000 Lizenzen für das so genannte Arbeiten auf eigene Rechnung. Gemeint sind vor allem kleine Handwerksbetriebe und Einzelhandelsgeschäfte, aber auch die Herstellung von Ziegeln, die Kaninchenzucht oder das Sammeln und Recyceln von Müll sollen zukünftig in private Hände übergehen.
„Es ist das erste Mal, dass in Kuba der Privatsektor öffentlich eine Aufgabe zugewiesen bekommt“ – eben Arbeitsplätze zu generieren. Wir Kubaner sollen selbständiger werden“, meint Everleny Pérez. Dabei haben die politischen Verantwortlichen endlich auf die eigenen Fachleute gehört, die seit Jahren monierten, dass es nicht deren Aufgabe sein könne, den Bedarf und Umsatz eines Friseursalons, Barbiers oder Schusters zu planen. Damit ist nun endgültig Schluss, denn was in Havanna im Versuch seit zwei oder drei Jahren läuft, soll nun auch auf nationaler Ebene gelten. So arbeiten Havannas Friseure auf eigene Rechnung und zahlen einen Obolus für die Steuer und eventuell für das in Staatsbesitz befindliche Lokal.
Vieles hängt davon ab, wie viel Freiraum der Staat den neuen Kooperativen und den Selbständigen künftig lässt.
Das 2008 eingeführte Modell funktioniert ohne viel Bürokratie, auch Genossenschaften sollen nach den neuen Bestimmungen möglich sein. Ein Novum, denn so wären kleinere, aber auch größere Betriebe abseits der staatlichen Strukturen denkbar, und theoretisch wären sie auch lebensfähig, denn anders als früher ist es staatlichen Betrieben und Einrichtungen erlaubt, von den neuen privaten Anbietern zu kaufen. Für die Wissenschaftler vom CEEC ist das der Beweis, dass es diesmal ernst gemeint ist mit der Förderung der Privatinitiative. Schon einmal hat die Regierung auf dieses Modell gesetzt, um die darbende Wirtschaft zu beleben. 1993, mitten in der schwersten Wirtschaftskrise nach der Revolution von 1959, waren erstmals rund 120 Berufe für die Selbständigkeit freigegeben worden.
Darunter befand sich auch das Betreiben der weltbekannten paladares, der kleinen Privatrestaurants, die damals aus dem Boden schossen. Von denen gibt es nur noch wenige, die über gute Kontakte nach oben verfügen, die meisten mussten längst schließen, weil sie den staatlichen Restaurants die Touristen wegschnappten. Auch Lizenzen für die Selbständigkeit wurden unter Vorwänden wieder eingezogen, so dass die Zahl der Selbständigen wieder zurückging oder sie ohne Lizenz auf dem Schwarzmarkt tätig waren. Das soll sich nun ändern. Heute wird in Kuba über die Einrichtung von Märkten, von Läden und Messen für die Selbständigen diskutiert, wo sie Rohmaterialien, Geräte und ähnliches kaufen können. Wie das allerdings bezahlt werden soll, darüber herrscht noch keine Klarheit.
Raúl Castro hatte zwar im August noch mitgeteilt, es müsse Schluss sein mit der Vorstellung, dass in Kuba ohne Arbeit gelebt werden könne, aber beim Schaffen der Rahmenbedingungen für die neuen Selbständigen wird sich die Regierung schwer tun. Der Grund ist einfach – es fehlt an Kapital. Dieses ist auch nötig, sagt Everleny Pérez, um den Neuunternehmern Kredite zu sichern. All das ist noch nicht geregelt, und ein weiterer Aspekt macht dem 69-jährigen Ökonomen und Dissidenten Oscar Espinosa Chepe große Sorgen. „Die 1993 gegründeten Kooperativen in der Landwirtschaft, die Unidades Basicas de de Producción Cooperativa, sind gescheitert, weil man die Bauern anwies, was sie anbauen und zu welchem Preis sie es an den Staat verkaufen sollten. Sie waren nicht autonom, sondern von vorne bis hinten kontrolliert. In Kuba herrscht ein Kontrollwahn“, sagt Espinosa Chepe.
Vieles hängt davon ab, wie viel Freiraum der Staat den neuen Kooperativen und den Selbständigen lässt, und die erste größere Reform Raúl Castros, die Verteilung von bisher rund einer Million Hektar Brachland, war, so urteilen selbst staatliche Agrarspezialisten, ein Misserfolg. „Hyperbürokratisch, bis ins Detail reguliert und mit Vorschriften und Pflichten gespickt“ seien die Vorgaben, kritisiert auch Espinosa Chepe. Mehr Unabhängigkeit und mehr Verantwortung wünscht er den Bauern und auch den neuen Selbständigen. Die ersten können sich gleich um die Lizenzen bewerben, denn die Entlassungen haben bereits begonnen. Im Juli wurden Angestellte aus dem Ministerium für Zucker, das aufgelöst wurde, entlassen, und auch im Gesundheits-, Tourismus- und Landwirtschaftsministerium werden demnächst Angestellte vor die Tür gesetzt. In Kuba hat sich der Wind gedreht. Man kann nicht mehr ausgeben, als man einnimmt, heißt das neue, von Raúl Castro ausgegebene Motto.
Knut Henkel berichtet aus Lateinamerika.