NIEDERLANDE: Fingerübungen in Den Haag

Die von der populistischen PVV geduldete Minderheitsregierung geht in die Vollen: das Koalitionsprogramm verbindet Sozialkürzungen mit rabiater Einwanderungsbeschränkung.

Als Mehrheitsbeschaffer keineswegs bloß geduldet: Geert Wilders und seine Partei ermöglichen Rechtsliberalen und Christdemokraten die Regierungsbildung.

Der Zähler blieb bei der Zahl 111 stehen. 111 Tage dauerte es, bis nach den niederländischen Parlamentswahlen Anfang Juni eine Entscheidung über die neue Regierung fiel. An den Hebeln der Macht sitzen künftig die rechtsliberale Volkspartij voor Vrijheid en Democratie (VVD), die erstmals die Wahlen gewann, sowie der kriselnde Christen Democratisch Appèl (CDA), dies obwohl die Partei im Juni eine historische Abfuhr kassierte. Da beide zusammen gerade mal über ein gutes Drittel der 150 Parlamentssitze verfügen, lassen sie ihr Minderheitskabinett tolerieren, und zwar just von dem Mann, der als Totengräber der sprichwörtlichen niederländischen Toleranz gilt: Geert Wilders, der mit seiner Partij voor de Vrijheid (PVV) zur drittstärksten Kraft wurde.

Über dreieinhalb Monate zogen sich die Verhandlungen hin. Im Durchschnitt dauert diese Phase, in den Niederlanden als „Formatie“ bekannt, 87 Tage. Komplikationen tauchen dabei jedes Mal auf. Im Sommer 2010 erwies sich die Bildung einer neuen Koalition allerdings als besonders mühsam. Das Wahlergebnis spiegelte eine zersplitterte politische Landschaft wider und eine tiefe Kluft zwischen progressiven und konservativen Kräften. Faktisch, das wurde schnell deutlich, würde eine Mehrheit nur schwer zustande kommen.

Auch inhaltlich, so zeigte sich bald, war hinsichtlich einer Regierungsbildung mit Hindernissen zu rechnen. Ganze drei Mal scheiterten die Verhandlungen. Die dominierende Frage dieser 111 Tage war: Kann eine Zusammenarbeit mit der populistischen PVV der Weg aus der Sackgasse sein? Die Christdemokraten, so hieß es in den besonders turbulenten letzten Wochen, trieb diese Entscheidung an den Rand der Spaltung. Was etwas übertrieben scheint, nimmt man die zwei Drittel der Stimmberechtigten zum Maßstab, die sich auf einem Sonderparteitag am Wochenende für das anvisierte Koalitionsmodell aussprachen. Von solchen Mehrheiten kann jegliche Regierungskonstellation in Den Haag nur träumen.

Unbestritten aber bescherte die Entscheidung, ob man ein Bündnis mit der PVV eingehen sollte, den Christdemokraten vom CDA eine veritable Identitätskrise. Parteiprominente warnten, Wilders und seine Jünger diskriminierten Muslime, gefährdeten die Religionsfreiheit und spalteten die Gesellschaft. Der CDA könne daher unmöglich mit ihnen zusammen arbeiten. Zwischenzeitlich kursierte eine Unterschriftenliste gegen die Kooperation, und der plötzliche Rückzug des bisherigen Gesundheitsministers Ab Klink, immerhin einer der beiden christdemokratischen Unterhändler, aus den Gesprächen und aus der Fraktion sorgte zweifellos für eine ungekannte Dramatik.

Interessant ist auch, wie die Christdemokraten, die bei den Wahlen die Hälfte ihrer Stimmen einbüßten und mit 14 Prozent das schlechteste Ergebnis ihrer Geschichte erzielten, ihren Standpunkt veränderten. Der damalige Ministerpräsident Jan Peter Balkenende schloss als Spitzenkandidat vor den Wahlen eine Koalition mit Wilders nahezu aus. Nach seinem Abtreten wollte sich der neue starke Mann der Partei, Fraktionsvorsitzender Maxime Verhagen, mit der PVV nicht einmal an einen Tisch setzen. Die Konstellation VVD, PVV und CDA, nicht als Minderheitskabinett von Wilders‘ Gnaden, sondern als ordentliche Koalition mit einer hauchdünnen Mehrheit von einem Sitz, war die erste Option, die im Juni verhandelt wurde.

Wilders‘ Partei, so hört man aus den Reihen der neuen Regierung, habe anderthalb Millionen Wähler, die man nicht einfach „ausschließen“ könne.

Nachdem sich dieses Regierungsbündnis als nicht realisierbar erwiesen hatte, folgte im Juli ein Modell mit VVD und Sozialdemokraten, erweitert um die linksliberalen Democraten66 und GroenLinks. Auch dieses kam nicht zustande. Danach blieben selbst rechnerisch nicht mehr allzu viele mehrheitsfähige Kombinationen, sodass die „Rechtskoalition“ zur letzten Möglichkeit wurde, um Neuwahlen zu verhindern. Nach einigen Tagen christdemokratischer Selbstzerfleischung blieb Anfang August die Formel „Minderheitsregierung unter Duldung der PVV“ als Schleichweg aus der Misere. Zwischen CDA und PVV, so hieß es zur Begründung, könne es keine offizielle Zusammenarbeit geben. Dem stünden grundlegende Meinungsverschiedenheiten über Wesen und Charakter des Islam entgegen. Die Partij voor de Vrijheid sieht im Islam eine politische Ideologie, der CDA, wenig überraschend, eine Religion.

Dennoch eröffnete das letztgenannte Modell genügend Spielraum für weitere Verhandlungen. Und so scheint das politische Spektrum, das den Diskurs in den Niederlande seit fast zehn Jahren maßgeblich mitbestimmt, dem Griff zur Regierungsmacht wieder ein großes Stück näher gekommen zu sein: Fortuyn, Verdonk, jetzt Wilders, nichts konnte ihren Aufstieg bremsen. Das politische Establishment, so liest man immer wieder, sucht bis heute nach einer Antwort auf diese Herausforderung. Wilders jedenfalls ist nun in der für ihn denkbar komfortabelsten Position gelandet: Ohne politische Verantwortung übernehmen zu müssen, bewegt sich die PVV „im Zentrum des Einflusses“, wie ihr Chef das Abkommen euphorisch feierte. Ihre Duldung erfährt die neue Regierung nicht umsonst. Diese ist gekoppelt an massive Konzessionen im Kerngeschäft der PVV: Zuwanderungsbeschränkung, Integration, Sicherheit und Altenpflege.

Zu den Begründungen, die aus dem Umfeld der Christdemokraten zu hören sind, zählt auch die folgende: die PVV habe anderthalb Millionen Wähler, die man nicht einfach „ausschließen“ könne. Diese Einstellung basiert auf dem noch immer spürbaren Trauma, das die etablierten Parteien seit der Zeit Pim Fortuyns umtreibt. Keinesfalls möchte man als abgehobene politische Klasse wahrgenommen werden, die sich von den Sorgen und Ängsten der Menschen entfernt hat und deren Nöte nicht ernst nimmt. Dazu gehört auch, Bedenken auf dem Gebiet der Integration nicht länger pauschal als xenophobe Ressentiments abzutun.

Wer die Minderheitsregierung, die erst in dieser Woche durch die Zustimmung der CDA-Fraktion abgesegnet worden ist, nun aber allein als Ergebnis geschickter politischer Manipulierung seitens der Populisten sieht, greift daneben. Das wird auch an den Aussagen des künftigen Ministerpräsidenten Mark Rutte (VVD) kenntlich, der seit seinem Wahlsieg keinen Zweifel daran ließ, genau diese Konstellation zu bevorzugen. Verwunderlich ist das nicht: Die VVD steht nicht nur für ein neoliberales Wirtschafts- und Sozialprogramm, sondern eben auch für eine strikte Zuwanderungsbeschränkung. Und wie die PVV ist auch sie populistischen Evergreens wie „mehr Polizei“ und „härtere Strafen“ nicht abgeneigt.

Doch es besteht noch ein weiterer Zusammenhang: Ob Fortuyn, Rita Verdonk oder Geert Wilders: sämtliche Koryphäen des rechtspopulistischen Spektrums waren früher oder später VVD-Mitglieder. Der ausländerpolitisch größte Unterschied zur PVV besteht darin, dass die Rechtsliberalen nicht von einem Kulturkampf sprechen, sondern eine Einwanderungspolitik auf der Grundlage wirtschaftlichen Nutzens propagieren. Die „muslimischen Einwanderer“ der PVV heißen bei der VVD „chancenlose Migranten“. Außerhalb der Grenzen sollen beide gehalten werden.

Der CDA seinerseits hat in den vergangenen Jahren ebenfalls sämtliche Verschärfungen der Einwanderungs- und Asylpolitik mitgetragen und stört sich als konfessionelle Partei wohl eher an Wilders‘ anti-islamischen Ausfällen denn an den gebetsmühlenartigen Forderungen der PVV, Migranten müssten sich assimilieren. Im Vorfeld ihrer Einigung machten sich VVD, CDA und PVV zudem bereits einmütig für eine Abschiebung „krimineller Antillianer“ aus den Niederlanden stark. Und im CDA wurden unlängst Stimmen für eine deutlich restriktivere Roma-Politik laut.

Auch sozialpolitisch hat es der Koalitionsvertrag mit dem Titel „Freiheit und Verantwortung“ in sich: Insgesamt sollen 18 Milliarden Euro gespart werden, unter anderem durch Kürzungen im Pflege-, Gesundheits- und Kinderbereich. Um mit gutem Beispiel voran zu gehen, wollen die drei Parteien nicht allein den Verwaltungsapparat stark abbauen, sondern auch die Zahl der Sitze im Parlament von 150 auf 100 sowie im Senat von 75 auf 50 reduzieren. Kürzen will man auch bei der Entwicklungshilfe, Integrationsmaßnahmen, dem Mitgliedsbeitrag an die EU und Kultursubventionen. Das Rentenalter steigt mittelfristig von 65 auf 66 Jahre, der Mindestlohn soll dagegen sinken. Der Kündigungsschutz, den die CDA bereits in der letzten Legislaturperiode liebend gerne abgebaut hätte, bleibt dagegen bestehen.

In der Altenpflege will man 12.000 neue Jobs schaffen, 3.000 zusätzliche Polizisten sollen das stetig wachsende Sicherheitsbedürfnis befriedigen, dazu kommen höhere Mindeststrafen und mehr Überwachungskameras. Verschärfungen stehen vor allem im Zuwanderungsbereich an. Das neue Kabinett peilt eine strengere EU-Direktive für Familiennachzug ebenso an wie die Selbstfinanzierung der Einbürgerungsmaßnahmen, von deren Ergebnis wiederum der Aufenthaltsstatus abhängt. Zusätzliche Einheiten der Grenzpolizei sollen zudem Menschen ohne Aufenthaltspapiere „aufspüren“.

Es sieht ganz so aus, als hätte Mark Rutte Recht behalten: Noch während der Verhandlungen kündigte der angehende Ministerpräsident ein Regierungsabkommen an, angesichts dessen sich „die rechten Niederlande die Finger ablecken werden“. Dem Sozialdemokraten Diederik Samsom viel dazu lediglich ein, dass dann wohl „die linken Niederlande den Mittelfinger ausstrecken“.

Tobias Müller berichtet für die woxx aus Belgien und den Niederlanden.


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