LUXEMBURGENSIA: Der Traum vom guten Leben

Guy Helmingers Buch „Neubrasilien“ erzählt die Geschichte der jungen Luxemburgerin Josette, die 1828 mit einer Gruppe Landbewohner versucht, nach Brasilien auszuwandern. Helminger verknüpft Josettes Erlebnisse mit jenen der Montenegrinerin Tiha, die Ende der Neunzigerjahre als Asylbewerberin nach Luxemburg kommt. Beide Frauen suchen in einem anderen Land nach einem besseren Leben und scheitern. Die woxx unterhielt sich mit dem Autor.

ZUR PERSON
Guy Helminger, geboren 1963 in Esch-sur-Alzette, studierte Germanistik und Philosophie in Luxemburg, Heidelberg und Köln. Der Weltenbummler arbeitete als Barkeeper, Schauspieler, Regieassistent und 3D-Grafiker. Seit 1985 lebt und arbeitet er in Köln. Helminger schreibt Theaterstücke, Prosa und Hörspiele. 2002 erhielt er den Prix Servais, 2007 erschien sein Roman „Morgen war schon“ (Suhrkamp). Seit Januar 2010 moderiert er die Sendung „Kultur“ bei RTL.

woxx: Wieso haben Sie Ihren neuen Roman beim deutschen Eichborn-Verlag herausgegeben?

Guy Helminger: Ich will Bücher verkaufen und der Markt in Luxemburg ist nun mal kleiner als der deutsche. Also habe ich mir einen Verlag in Deutschland gesucht. Es ist nach wie vor so, dass der Vertrieb Luxemburger Verlage im Ausland einfach nicht richtig funktioniert. Vielleicht geht das nach Frankreich besser, nach Deutschland geht es überhaupt nicht. Man findet in den Buchhandlungen keine Luxemburger Autoren, ihre Bücher werden in den Feuilletons nicht besprochen usw. Im Jahr 2004 dachte ich mir: Ich habe jetzt einige Bücher bei editions phi herausgegeben und das ist gut; für die Starthilfe, die mir der Verlag gegeben hat, bin ich Francis Van Maele noch heute dankbar. Aber irgendwann wurde mir klar, ich muss nach Deutschland, um Bücher zu verkaufen ? ich hatte immer den Traum, vom Schreiben zu leben. Ich lebe in Deutschland, ich schreibe Deutsch. Und Tatsächlich: Ich verkaufe jetzt einige tausend Exemplare mehr.

„Wenn über Migration gesprochen wird, dann immer als ein Massenphänomen. Aber der Autor kann versuchen, nah an den einzelnen Menschen zu bleiben.“

Wie ist „Neubrasilien“ entstanden?

Es waren zwei Momente, die mich inspiriert haben. Das eine war, dass ich in einer Luxemburger Zeitschrift von Auswanderern gelesen habe, die 1828 versucht haben, nach Brasilien zu gelangen, um ihrem Elend zu entfliehen. Sie scheiterten, kamen wieder zurück, gründeten ein Dorf und wurden als „Brasilianer“ beschimpft – und dann taucht plötzlich dieser Ort „Neubrasilien“ auf. Das fand ich eine phantastische Geschichte. Zweitens bin ich eigentlich kein Autor von historischen Romanen. Wenn ich so einen Stoff bearbeite, dann brauche ich einen Link zur Gegenwart. Migration ist ohnehin das Thema im Moment. Deshalb habe ich mich mit der ASTI in Verbindung gesetzt und mit ihnen über diejenigen Menschen gesprochen, die 1999/2000 nach Luxemburg gekommen sind bzw. es verlassen mussten. Mit ihrer Hilfe konnte ich mir zudem Asylbewerberheime ansehen, habe Adressen in Montenegro bekommen und dort Familien besucht. Ich bin hier im Flüchtlingsheim „Don Bosco“ gewesen. Der Großteil der Geschichte spielt ja in Esch. Weil ich ein Escher Junge bin, hab ich das Ganze in das Asylbewerberheim bei mir in die Großgasse verlegt.

Beide Familien des Romans versuchen in der Fremde ihr Glück, beide Familien scheitern an ihren Vorhaben und sind am Ende Betrogene. Ist „Scheitern“ das zentrale Motiv?

Ich glaube, wenn man Migration zum Stoff einer Erzählung macht, ist das Scheitern auf jeden Fall ein Thema. Die Wenigsten haben wirklich Erfolg, daher musste dieser Aspekt mit ins Buch. Doch wenn ich mir die historische Seite des Romans anschaue, die ein Scheitern in potenzierter Form ist, weil die beschriebenen Menschen dahinvegetieren, musste ich das auch so beschreiben und viel Schönes kommt dann nicht mehr mit hinein. Wenn über Migration gesprochen wird, dann immer als ein Massenphänomen. Aber der Autor kann versuchen, nah an den einzelnen Menschen zu bleiben, das heißt, diese individuellen Schicksale dem Leser näher zu bringen.

Ist das Ihr Bezug zur Gesellschaftskritik?

Ja. Ich glaube, es wird einfach nicht mehr darüber nachgedacht, dass das Menschen sind. Ständig geht es nur um ein wirtschaftliches Phänomen. Heutige Gesellschaften basieren immer nur auf wirtschaftlichen Strukturen und nicht auf ethischen, Ethik hat überhaupt keinen Platz mehr. Ich denke jedoch, dass Literatur noch diese Möglichkeit hat: Indem man die Kamera oder das Auge nah an die Menschen heranführt, werden auch wieder Menschen daraus, keine Phänomene. Dann tut es auch plötzlich weh. Wir wissen ja alle, wie die Realität aussieht, aber eigentlich will es niemand wissen. Man hört immer nur dieses eine Argument: „Wenn alle bleiben, dann können wir unseren Lebensstandard nicht halten“. Menschen zählen überhaupt nicht mehr.

In „Neubrasilien“ geht es um Verheißungen in der Fremde. Ist „Neubrasilien“ eine Utopie, das „Utopia“, ein Ort, der alles verspricht?

Es ist ja beides. Da steckt Brasilien drin und das ist die Utopie, aber Neubrasilien ist natürlich das komplette Scheitern. Wenn man Brasilien durch Utopie ersetzt, sagt man Neu-Utopie. Und eine Neu-Utopie ist genau das Gegenteil, also etwas, wo gar nichts mehr geht.

Steckt dahinter auch die aristotelische Frage nach dem guten Leben, nach Glückseligkeit? Das Leitmotiv, das Menschen dazu treibt, in der Ferne ihr Glück zu suchen?

Ich glaube schon. Dieser historische Strang beschreibt ja im Grunde jene, die man heute „Wirtschaftsflüchtlinge“ nennen würde. Wenn man heute über Auswanderer früherer Zeiten redet, dann benutzt man komischerweise dieses Wort nicht. Heute ist das Gang und Gäbe. Gerade die Montenegriner aus meinem Roman waren zu 99 Prozent keine Wirtschaftsflüchtlinge. Sie sind weggegangen, weil die Serben während des Kosovo-Krieges mit den Lastwägen durch die Dörfer gefahren sind und die Männer aus den Häusern geholt haben. Die wollten da nicht weg. Das war keine Suche nach Glückseeligkeit, das war Flucht. Doch in dem Moment, wo man in Luxemburg ist, wird man zum Wirtschaftsflüchtling. Man darf nicht arbeiten, hat keinen Kontakt mit der normalen Bevölkerung und darf nicht an diesem Wohlstand teilhaben. Das zerbricht einen, glaube ich, weil man nicht einen Monat hier hängt, sondern fünf, sechs, sieben Jahre.

Es gibt zahlreiche Parallelen in beiden Erzählsträngen, gerade zwischen den beiden jungen Frauen Tiha und Josette. Ist es Zufall, dass Sie die Frauen selbstbewusst und klug zeichnen, die Männer eher tölpelhaft?

Ich glaube, sowohl die frühere wie die heutige Gesellschaft, die ich zeichne, sind patriarchalische Gesellschaften. Da hatten Frauen nicht viel zu sagen. Wer heute davon redet, dass wir Gleichberechtigung haben, lügt. Es ist nach wie vor so, dass Frauen nicht so viel verdienen, obwohl sie denselben Beruf ausüben etc. – da brauchen wir uns gar nicht darüber zu unterhalten. Es ist einfach interessant, zu fragen, warum das so ist. Ich glaube, dass das sehr viel mit Aggressionen zu tun hat, mit Ellenbogenmentalität. Deshalb habe ich natürlich Männer gezeichnet, wie etwa Marc, die sehr schnell ihre Ideale aufgeben. Der redet groß davon, in Luxemburg etwas für die Selbstbestimmung zu tun, doch sobald er in eine prekäre Situation kommt, sind seine Ideale sofort vergessen und er wird sogar kriminell. Die Frauen sind diejenigen, die viel konsequenter sind. Vielleicht sind sie am Anfang durch die Unterdrückung naiver, ruhiger und hören auf die Jungs. Aber dann, wenn es darauf ankommt, bringen sie es zumindest fertig, sich wirklich zu emanzipieren und tatsächlich etwas zu erreichen. Die Männer dagegen sind privilegiert, sie müssen nur ihre Ellenbogen einsetzen, um noch mehr Erfolg zu haben.

„Ich denke, dass Literatur noch diese Möglichkeit hat: Indem man die Kamera oder das Auge nah an den Menschen heranführt, werden wieder Menschen daraus, keine Phänomene. Dann tut es auch plötzlich weh.“

Allein Ihre weiblichen Figuren schaffen es, trotz ihrer Situation so etwas wie Glück zu empfinden, während sich die Männer schwer damit tun.

Bei der modernen Geschichte habe ich einen Kunstgriff vorgenommen. Man muss sich nur fragen: Wo lerne ich die meisten Freunde kennen? Auf der Arbeit. Wenn man in Luxemburg lebt und nicht arbeiten darf, dann bekommt man auch keinen Kontakt zu anderen Menschen. Bei den Kindern ist das anders. Sie gehen in die Schule, sie haben Kontakte und deshalb gibt es auch Tiha in meinem Roman. Sie ist neun Jahre alt und lernt in der Schule eine Luxemburgerin kennen. So konnte ich diesen Kunsteffekt erreichen, dass auch ihre Eltern sich kennenlernen. Entsprechend kann ein Mädchen wie Tiha sich schneller integrieren und sich viel besser zurechtfinden und Glück empfinden in dieser Situation. Bei Josette ist es ein wenig anders. Sie wächst mit ihren Aufgaben, weil sie endlich welche bekommt und nicht mehr nur ihre Schürze sauber halten und auf dem Feld ein paar Kartoffeln einsammeln muss. Sie merkt plötzlich, dass sie eine ganz andere Position in der Familie bekommt und sie nimmt diese Aufgabe an.

Wieso wurde Esch zum Ausgangspunkt beider Erzählstränge Ihrer Geschichte?

Bei meinen Recherchen hat mir Jean-Marie Reding, der Bibliothekar der Nationalbibliothek, sehr geholfen. Über die Zeit Anfang des 19. Jahrhunderts hat man ja für gewöhnlich nicht so viel Detailwissen. Gab es schon Dampfschiffe, wie waren die Frauen gekleidet, wie sahen die Hauben aus? Wie sahen die Schiffe aus? Reding hat mir regelmäßig einen Wust an Papieren geschickt, die ich dann durchgearbeitet habe. Ich habe viel über Esch in einem Buch gelesen und bin dort groß geworden, habe die ersten 18 Jahre meines Lebens dort verbracht. Mir fällt es also leichter, über Esch zu schreiben als über Luxemburg-Stadt. Da ich Parallelen herstellen wollte, um die Moderne auf der Folie des Alten mitzuerzählen, war für mich schnell klar, dass ich vieles in Esch spielen lassen wollte. Aber die Geschichte wächst eben auch. So gut ich dieses Korsett, das ich mir vorher anlege, plane, um erzählen zu können, ist es nur dazu da, um es zu überschreiten.

An einigen Stellen Ihres Romans klingt diese Ur-Luxemburger Pfaffenkritik durch. Die Figur des Pfarrers beschreiben Sie sehr ironisch.

Ich bin kein großer Anhänger der Kirche. Meine Kinder sind nicht getauft und ich bin aus der Kirche ausgetreten. Aber ich würde jetzt nicht über die Pfaffen herziehen. Das ist wirklich urluxemburgisch – das kommt allerdings von den Alt-68ern. Ich bin keiner mehr. Aber es ist Fakt, dass zum Beispiel die „Brasilianer“ damals an keinem Gottesdienst teilnehmen durften. Und damals hatte das noch eine andere Bedeutung als heute. Es waren „Outlaws“, und zwar auf allen Gebieten. Nur in Rindschleiden durften sie im Glockenturm stehen. Das sagt schon einiges über die Situation aus. Gleichzeitig war es allerdings so, dass der Pfarrer ihnen den Tipp gegeben hat, wo sie sich niederlassen können.

„Tschechow hat einmal gesagt, wenn im ersten Akt ein Gewehr an der Wand hängt, dann muss es im fünften abgefeuert werden. Dieser Meinung bin ich auch.“

Zugleich sind die „schwarzen gottlosen Augen“ ein zentrales Motiv Ihres Romans.

Das ist die Zusammenführung der beiden Stränge ? über die schwarzen Augen. Tschechow hat einmal gesagt, wenn im ersten Akt ein Gewehr an der Wand hängt, dann muss es im fünften abgefeuert werden. Dieser Meinung bin ich auch. Es gibt ja viele Bücher, in denen zwanzig, dreißig Figuren auftauchen, einmal erwähnt werden und dann wieder vergessen sind. Das mache ich nicht. Meistens ist es so, dass – wenn ich jemanden erwähne – er später wieder auftaucht. Es fängt an mit den Orten, wo Tiha in die Schule geht, diese Großgasse, da stand früher die Kirche von Esch. Ich schaffe nach und nach solche Verbindungen, auch auf der sprachlichen Ebene. Es gibt wirklich Parallelszenen, in denen Tiha und Josette ganz ähnliche Sachen erleben. Und am Ende werden die Geschichten zusammengeführt.

Das „Ankommen“ hat in Ihrem Roman zwei Dimensionen: Das räumliche Ankommen, aber auch das Nicht-Ankommen in der Gesellschaft. Ist die dritte Generation Einwanderer in Luxemburg „angekommen“?

Ja und nein. Ich glaube nicht, dass man in Deutschland von „den Türken“ reden kann oder von den Muslimen und ich glaube nicht, dass man hier von „den Portugiesen“ reden kann. Es ist völlig richtig, dass ein Teil angekommen ist und dass andere nicht angekommen sind – es gibt auch hier in Luxemburg Parallelgesellschaften. Und zwar auf beiden Seiten. Ich glaube, dass da zum einen das Interesse der Luxemburger Bevölkerung gar nicht vorhanden ist, sich kulturell mit den Einwanderern auseinanderzusetzen. Auf der anderen Seite ist es für diese viel einfacher, sich erstmal an diejenigen zu wenden, deren Sprache sie sprechen. Allerdings finde ich so eine Diskussion, wie sie zum Beispiel in Deutschland Thilo Sarrazin angestoßen hat, unsinnig. Wenn man sein Buch anfängt zu lesen, ist es allein vom Sprachduktus voller Verachtung. Es behauptet ständig Objektivität, aber im gleichen Satz wertet es Menschen permanent ab. Es ist außerdem wahnsinnig schwierig zu lesen, weil es offensichtlich von einem Mann geschrieben ist, der aus Kreisen kommt, die nie etwas zu tun hatten mit Migranten, sondern von einem, der mit seinen Kumpels da oben sitzt und so einen Ton anschlagen kann.

Sind es prototypische „europäische Schicksale“, die Sie beschreiben? Oder ist „Neubrasilien“ ein Luxemburger Roman?

Ich glaube, die Frage, die sich bei Literatur, bei Theater immer stellt, ist, wie viel Regionalität ein Werk braucht, um international zu sein. Und das ist eben etwas, das alle großen Autoren machen und was ich eben auch versuche. Ich komme aus Luxemburg, ich bin mit diesem Roman wieder zurück zu meinen Wurzeln gegangen, bedingt durch diese alte Geschichte. Doch ich glaube, man kann ihn in Deutschland und Schweden auch lesen, und die Leute werden sagen, „Ja klar, bei uns ist es auch so“. Ich glaube schon, dass ich damit ein internationales Phänomen beschreibe, aber dass die Wurzeln nach Luxemburg führen.

Guy Helminger – Neubrasilien. Eichborn Verlag, 320 Seiten.


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