Nach den rassistisch motivierten Kundgebungen und Ausschreitungen in Moskau wird nicht zuletzt deutlich, dass sich in Russland ein ethnisch-russisch definiertes Selbstverständnis der Nation etabliert. Die extreme Rechte hat ihre Agenda erfolgreich durchgesetzt.
„Hier haben sich Menschen versammelt, für die die Ereignisse vom 11. und 15. Dezember unerträglich waren“, sagte der Schriftsteller Viktor Schenderowitsch. Etwa 3.000 Menschen waren gekommen, um für ein „Moskau für alle“ zu demonstrieren. Ausnahmsweise wurde die Kundgebung am 16. Dezember nicht von der Miliz gestört, sie war sogar genehmigt worden.
Viele Protestierende befürchten, dass es in Russland erneut zu Pogromen kommen könnte. Das Wort stammt aus dem Russischen und wird meist mit den antijüdischen Ausschreitungen im Zarenreich verbunden. Auch wenn Pogrome beileibe kein rein russisches Phänomen darstellen, war die Bereitschaft zum Pogrom am 11. Dezember bei einer Versammlung mitten in Moskau unverkennbar.
An jenem Samstagnachmittag fanden sich am Manezhnaja-Platz über 5.000 Fußballfans, Neonazis, Nationalbolschewisten, allerlei alkoholisierte Männer und Schaulustige ein. Milizionäre waren verhältnismäßig wenige vor Ort, obwohl im Internet zuvor etliche Aufrufe zu einer „antikaukasischen“ Kundgebung zu finden gewesen waren, darunter auch solche, deren Zuordnung zu rechtsextremen Gruppen nicht schwerfiel.
Die Stimmung war gereizt. Repräsentanten rechtsextremer Organisationen nutzten die Kundgebung, um Agitation zu betreiben. Es kam zu einem Angriff auf eine Gruppe junger Männer aus dem Kaukasus. Drei Milizionäre, die zufällig anwesend waren, stellten sich dem aggressiven Mob entgegen. Damit verhinderten sie zwar schlimmere Verletzungen bei den Angegriffenen, zogen dafür jedoch den Zorn der Versammelten auf sich, was zu Zusammenstößen mit der angerückten Omon, einer Sondereinheit der Polizei, führte. Aufrufe des Polizeichefs, den Platz zu verlassen, wurden zunächst ignoriert.
Als die Menge endlich abzuziehen begann und sich in die nächstgelegene Metrostation, Ochotnyj Rjad, begab, dienten ihr als Angriffsziel alle sich dort aufhaltenden Menschen, deren Äußeres auf eine nichtslawische Herkunft hindeutete. Der Metroverkehr wurde vorübergehend eingestellt. Ein Augenzeuge berichtete, dass ein gut gekleideter muskulöser Mann durch die offenen Türen des angehaltenen Zuges stürmte und zielstrebig einen Passagier, der dem Aussehen nach aus dem Kaukasus stammen könnte, herausgriff, um ihn zu verprügeln. Ein zweiter Mann kam hinzu, den Mitfahrern gelang es allerdings, die beiden Angreifer abzudrängen. Der Tag endete mit mehreren Dutzend Festnahmen, 34 Menschen mussten ärztlich behandelt werden.
Die Regierung wirft der liberalen Opposition vor, die Ausschreitungen seien die Folge einer Kampagne für die Versammlungsfreiheit.
Der russische Innenminister Raschid Nurgalijew machte bei seinem anschließenden Auftritt im Fernsehen „Linksradikale“ für die Ausschreitungen verantwortlich. Um einen Versprecher dürfte es sich dabei kaum gehandelt haben. Doch auch als Erklärung für das Versagen seines Ministeriums, das eine nicht genehmigte Kundgebung direkt vor den Toren des Kremls nicht verhindern konnte oder wollte, wirkt die Aussage gelinde gesagt irreführend. Formaler Anlass der Kundgebung war der Tod des FC Spartak-Anhängers Jegor Swiridow am 6. Dezember. Bei einer Auseinandersetzung zwischen einigen jungen, aus dem Nordkaukasus stammenden Männern und einer Gruppe Fußballfans im Moskauer Norden wurde Swiridow durch einen Kopfschuss aus einer Gaspistole getötet, ein Freund von ihm wurde verletzt.
Den Tatverdächtigen, einen 26-jährigen Mann aus der Kaukasusrepublik Kabardino-Balkarien, fasste die Miliz nach nur wenigen Minuten, alle anderen Beteiligten ließen die Ermittler zunächst wieder frei. Dieser Umstand veranlasste am Folgetag mehr als 1.000 Fans und Neonazis zu einer halbstündigen Blockade einer der Moskauer Hauptstraßen vor der zuständigen Staatsanwaltschaft. Dort war zu hören: „Russland den Russen! Moskau den Moskauern!“ Die Miliz verhielt sich auffällig zurückhaltend, ganz anders, als man es sonst bei nicht genehmigten Protestkundgebungen in der Stadt gewohnt ist.
Erst durch die Eskalation am 11. Dezember aufgeschreckt, veranlasste die Moskauer Polizeibehörde die Unterbindung weiterer, für den 15. und den 18. Dezember angekündigter Ausschreitungen. Die Mobilisierung erfolgte erneut per Internet, dieses Mal waren auch auf Foren von Angehörigen der Diaspora aus dem Kaukasus Gegenaufrufe zu finden. Der von Rechtsextremisten seit langem prophezeite „Krieg zwischen Russen und Kaukasiern“ blieb allerdings aus. Die Miliz nahm knapp 1.500 mit allen möglichen Gegenständen bewaffnete Personen fest, darunter etliche Jugendliche. Über 100 Wehrpflichtige unter den Festgenommenen wurden unverzüglich zum Dienst eingezogen und zur Strafe überwiegend in entlegene Regionen des Landes verschickt.
Wer hinter den jüngsten Ausschreitungen steckt, ist offiziellen Angaben zufolge ungeklärt. Die Ermittlungen laufen. Von den Gewalttaten distanzierten sich Fanclubs ebenso wie etablierte Vertreter rechtsextremer Organisationen und die Kremljugend. Die Regierung und Repräsentanten sämtlicher Fraktionen ihrer Hauspartei „Einiges Russland“ werfen unisono der liberalen Opposition vor, die Ausschreitungen seien eine Folge der „Strategie 31“. Dabei handelt es sich um eine Kampagne zur Durchsetzung der Versammlungsfreiheit, die in Artikel 31 der russischen Verfassung zwar garantiert, von Behörden und Miliz aber selten gewährt wird. Die Opposition ruft deshalb zur Teilnahme an nicht genehmigten Kundgebungen auf. Beim „Einigen Russland“ heißt es, dass die Opposition die „Leute auf die Barrikaden treibt“, da sie „unfähig zum konstruktiven Dialog“ sei. In liberalen Gruppen herrscht indes die Überzeugung vor, die Regierung selbst habe die Eskalation herbeigeführt. Als Beweis dafür dient die Festnahme eines Mitglieds der regierungstreuen Jugendorganisation „Junges Russland“ auf dem Manezhnaja-Platz am 11. Dezember.
Präsident Dmitrij Medwedjew behauptete schlicht, dass alles unter Kontrolle sei. Doch dürften die jüngsten Unruhen das politische Establishment allemal aufgeschreckt haben. Die Fußballfans selbst stellen für die Regierung zwar keine Gefahr dar, denn die meisten ihrer Mitglieder stehen dem Staat absolut loyal gegenüber. Während der Ausschreitungen wurden keine politischen Forderungen erhoben. Dass sich allerdings eine so große Anzahl Spartak-Anhänger nicht nur zu einem Trauermarsch einfinden, wie am Morgen des 11. Dezember, sondern auch zu einer nicht genehmigten Kundgebung, weist zumindest auf ein gewisses Maß an Unzufriedenheit hin, die nicht allein auf den Tod von Jegor Swiridow zurückzuführen ist.
Gründe dafür gibt es gerade in ökonomischer Hinsicht genug, sozialer Aufstieg etwa ist im heutigen Russland praktisch nicht vorgesehen. Dass sich der Unmut ausgerechnet in Form rassistischer Ausschreitungen entlädt, ist ebenso wenig verwunderlich. Die Regierung propagiert den Nationalismus, und statt eines Staatsbürgerkonzeptes, das die gesamte Bevölkerung einschließt, herrscht mehr und mehr ein ethnisch-russisch definiertes Selbstverständnis der Nation vor. Jahrelang wurde gegen Migranten gehetzt. Auch die Einschränkung politischer Handlungsoptionen kanalisiert das rechte Protestpotenzial in Richtung Pogrom. Damit hat es die extreme Rechte geschafft, ihre Agenda durchzusetzen.
Ute Weinmann arbeitet als freie Journalistin und lebt in Moskau.