BRIEFWECHSEL: Fragile Freundschaft

Der Briefwechsel zwischen Hannah Arendt und dem jüdischen Religionsphilosophen Gershom Scholem berührt drängende Fragen des europäischen Judentums und die verzweifelte Suche nach einer Antwort auf das Scheitern der Assimilation.

Hannah Arendt und Gershom Scholem fanden durch Walter Benjamins Tod zusammen. Sie waren sich zwar schon vor dem Krieg in Paris begegnet, doch erst in der Trauer um den gemeinsamen Freund, begannen sie sich regelmäßig zu schreiben. Für beide waren diese Briefe „dünne, feste Fäden“ mit denen sie Reste ihrer verlorenen Welt zusammenzuhalten suchten. Wie schwierig der Dialog zwischen dem Kabbala-Gelehrten und der Philosophin des Politischen werden sollte, deutet sich jedoch bereits im ersten Brief an. Beide sind sich einig in ihrer Kritik der Assimilation; Arendt beschreibt sie in ihrem Buch über Rahel Varnhagen als „Geschichte eines Bankrotts“, Scholem spricht von einem „Schwindel“. Dennoch bekommt die Kritik jeweils einen biographisch bedingten „anderen Akzent“.

Scholem, 1897 in Berlin geboren, war bereits als Schüler von der geistigen Welt des Ostjudentums fasziniert, das vom assimilierten Milieu, in dem er aufwuchs, verachtet wurde. Nach Abschluss seines Studiums 1923 entschloss er sich zur Auswanderung nach Palästina, wo der Völkerbund der britischen Kolonialmacht das Mandat zur Aufbauhilfe einer „Heimstätte für das jüdische Volk“ übertragen hatte. Arendt, die 1906 geboren wurde, war das sozialdemokratisch säkulare Umfeld ihrer Familie dagegen selbstverständlich. Als Jüdin erfuhr sie sich erst infolge judenfeindlicher Angriffe. Arendts Kritik an der Assimilation folgt also auf die Erfahrung des Antisemitismus, Scholem geht es um die Rettung und Erneuerung des Judentums.

Blieb die unterschiedliche Akzentuierung in der Assimilationskritik zunächst unausgesprochen, kommt es bezüglich der Frage, welche Konsequenzen aus dem Scheitern der Assimilation gezogen werden sollten, zwischen den beiden schon früh zum offenen Streit und schließlich zum Bruch. Dank des im Herbst vergangenen Jahres im Jüdischen Verlag erschienenen, von Marie Luise Knott sorgfältig editierten und klug kommentierten Briefwechsels, lassen sich die frühen Risse und die vergeblichen Kittversuche dieser „fragilen Freundschaft“ nun erstmals deutlich nachvollziehen.

Auslöser für das erste, ernsthafte Zerwürfnis ist Arendts 1946 erschienener Aufsatz „Zionism Reconsidered“. Darin behauptet sie, „der Zionismus aus heutiger Sicht“ – so der Titel der deutschen Übersetzung – unterscheide sich nicht von anderen Nationalbewegungen: „Der Zionismus bedeutet nichts anderes als die kritiklose Übernahme des Nationalismus.“ Da die Forderung nach einem Nationalstaat aber nur unter dem Schutz einer imperialen Großmacht durchgesetzt werden kann, fürchtet Arendt nicht nur eine gefährliche Abhängigkeit von fremden Interessen, sondern auch neue Anfeindungen: „Der Antisemitismus von morgen wird behaupten, die Juden hätten nicht nur von der Präsenz der fremden Großmächte in dieser Region profitiert, sondern hätten sie im Grunde angezettelt und seien folglich für die Konsequenzen verantwortlich.“ Tatsächlich gehört die Diffamierung Israels als „Brückenkopf des US-Imperialismus“ seit den Sechzigerjahren zu den antisemitischen Elementen im Diskurs der Neuen Linken. Insofern sich die antijüdische Feindseligkeit seit jeher „gegen das Volk insgesamt richtet, gleichgültig, wo es gerade lebt“, hält Arendt die nationalistische Politik der Zionisten für keine adäquate Antwort auf den Antisemitismus. Illusionslos stellt sie fest, dass die Alternative, „gestützt auf eine große revolutionäre Bewegung“ die Internationalität des Judentums zu verteidigen, nie mehrheitsfähig war.

Dennoch bleibt sie skeptisch gegenüber dem „revisionistischen Erdrutsch“ des Zionismus: „Sowohl die Juden zu retten als auch Palästina zu retten wird im 20. Jahrhundert nicht leicht sein; dass es sich mit den Kategorien und Methoden des 19. Jahrhunderts erreichen lässt, erscheint zumindest sehr unwahrscheinlich.“ Scholem ist von Arendts Aufsatz „ungewoehnlich tief enttaeuscht“. Das Staatsproblem sei ihm während seiner 22 Jahre in Jerusalem immer „vollkommen schnuppe“ gewesen, aber „ich kann es den Juden nicht uebelnehmen, wenn sie auf progressive Theorien, die von niemand anderem praktiziert worden sind, keine Ruecksicht nehmen.“ Für Scholem kann es als Antwort auf den Antisemitismus keine „simplere Wahrheit“ geben als den Aufbau Palästinas. „Ich bin Nationalist“, betont er, auch wenn, „die politische Laufbahn des Zionismus in einer ausschließlich reaktionaer bestimmten Welt, gerade weil sie sich nicht auf dem Mond vollzog, die zweifelhaftesten bedenklichsten und kompromittierendsten Situationen geschaffen hat.“ Fast trotzig fügt er hinzu, er weigere sich, den „harmlosen Golus [Exil]-Nationalismus, der sich bei Ihnen [Arendt] neben einem munteren amerikanischen ich-weiss-nicht-was einstellt“, zu teilen. Arendt überrascht die „zionistische Weltanschauung“ des Freundes, „weil ich eigentlich hoffte, dass Sie gar keine hätten“. Trotzdem liegt ihr viel daran, die „menschliche Beziehung“ zu retten: „Lassen Sie es uns versuchen, Freunde zu bleiben.“

Wie schwierig der Dialog zwischen dem Kabbala-Gelehrten und der Philosophin des Politischen werden sollte, deutet sich bereits im ersten Brief an.

Versöhnend wirkt zunächst das gemeinsame Bemühen, den Nachlass Benjamins zu retten und eine Auswahl seiner Arbeiten postum zu veröffentlichen. Beide hegen Vorbehalte gegenüber den von Benjamin mündlich bestimmten Nachlassverwaltern, den „Haifischen“ vom Institut für Sozialforschung. Arendts Aversionen gegen Theodor W. Adorno, von dem sie behauptet, er verursache ihr „physische Uebelkeit“, sind hinlänglich bekannt. Scholem gesteht, dass Max Horkheimer auch in ihm „heftigste Antipathie“ ausgelöst habe. Doch die Abneigung gegen „Porkheimer“ hindert ihn nicht, seine „viel bessere Meinung“ über Adorno beizubehalten. Nachdem alle Bemühungen
Arendts, eine Auswahl von Benjamins Essays in einem amerikanischen Verlag unterzubringen, erfolglos bleiben, unterstützt Scholem die von Adorno angeregten Publikationen des Frankfurter Suhrkamp Verlags.

„Wofür sind wir hier nun aufgehoben worden?“ hatte Scholem Arendt während des Krieges in einem seiner Briefe gefragt. Ende der 1940er Jahre sind sich beide einig, dass es zu den vornehmlichen Aufgaben der Überlebenden gehört, das Erbe der ermordeten Juden Europas zu retten. Scholem und Arendt werden Mitarbeiter von Jewish Cultural Reconstruction (JCR), einem 1947 gegründeten Zusammenschluss internationaler jüdischer Organisationen zur Bestandsaufnahme und Rettung geraubter jüdischer Kulturgüter in Europa. Sie sind somit maßgeblich am Aufbau einer einzigartigen, für die Jerusalemer Universitäts- und Nationalbibliothek bestimmten Sammlung von ehemals zerstreutem Material beteiligt. Die Briefe jener Zeit geben interessante Einblicke in das erst in den letzten Jahren wissenschaftlich aufgearbeitete Kapitel zum nachkriegsdeutschen Umgang mit NS-Beutekunst und Kulturgegenständen. Wem die Lektüre dieser „Geschäftsbriefe“ zu detailliert ist, kann sich darauf beschränken, Arendts zusammenfassende „Field-Reports“ nachzulesen. Im Anhang liefert der Mitherausgeber David Heredia darüber hinaus eine prägnante Darstellung der Geschichte von JCR.

Persönliches findet sich in dieser Zeit kaum noch in den Briefen. Arendt und Scholem beglückwünschen sich höflich zu ihren Neuerscheinungen, nur selten teilen sie sich private Eindrücke von ihren Reisen durch Nachkriegsdeutschland mit. Arendt beklagt das „Zurueckstroemen der Entnazifizierten“, Scholem fürchtet, die Erfahrungen seiner Europareisen hätten sein Herz gebrochen: „Die Distanz zwischen den verschiedenen Judentümern in Europa und Amerika und Palästina ist meines Erachtens katastrophal und nicht mehr einzuholen, durch keine wie immer ausdenkbare Theorie. Es zerfällt alles und man versteht sich nicht mehr.“ In den wenigen Briefen, die Scholem und Arendt nach Abschluss der Arbeit für JCR noch wechseln, zeigt sich, dass auch zwischen ihnen die Distanz unüberbrückbar geworden ist. „Wir geben uns beide Mühe“, schreibt Arendt an einen Freund, „aber es kommt doch nichts dabei heraus.“ Immer wieder wird die Möglichkeit eines Treffens in Betracht gezogen, immer wieder verpassen sie sich.

Anlässlich Arendts Buchs über den Jerusalemer Prozess gegen Adolf Eichmann, der für die Organisation der Deportation und Vernichtung der europäischen Juden mitverantwortlich war, kommt es 1963 zum endgültigen Bruch. Dass Arendt auch in Anbetracht der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik den distanzierten Blick der politischen Theoretikerin beibehält, empfindet Scholem als „herzlos“. Er stört sich an dem „voellig inadaequaten Tonfall“ der Gerichtsreportage. Arendts Stil, „ich meine das englische flippancy“, sei keine „Liebe zu den Juden“ anzumerken. Scholem fürchtet, dass das „Schlagwort“ von der „Banalität des Bösen“ sogar zum „Benefit“ der deutschen Täter geraten könnte, weil es das Unglück der Ermordeten aus dem Blick verliert. Einen Gedanken Adornos paraphrasierend könnte man sagen, Scholem weht aus Arendts Reflexionen jene Kälte entgegen, „ohne die das Unheil nicht sich wiederholen könnte“. Scholem war nicht der einzige, der Arendt wegen ihres Eichmann-Buchs harsche Vorwürfe machte, aber er war der einzige, für den Arendt eine schriftliche Erwiderung formulierte. In ihrem Antwortbrief steht ihr berühmt gewordenes Bekenntnis: „Ich liebe in der Tat nur meine Freunde und bin zu aller anderen Liebe völlig unfähig.“ Politisch betrachtet könne es keinen unkritischen Patriotismus geben, das bedeute für sie, „dass Unrecht, begangen von meinem Volk, mich selbstverständlich mehr erregt als Unrecht, das andere Völker begehen“. Eine Maxime, von der man sich wünscht, auch europäische Israelkritiker würden sich an sie halten.

Zu Recht hielt Scholem seine Auseinandersetzung mit Arendt schon zu seinen Lebzeiten nicht nur für den „jüdischen Sektor“ von Interesse. Doch erst die gesamte, über mehr als zwei Jahrzehnte geführte Kontroverse lässt erkennen, worum es Arendt von New York und Scholem von Jerusalem aus immer ging und wofür sich die europäische Linke nie ernsthaft interessierte: um die Rettung einer in Europa vernichteten Tradition.

Hannah Arendt / Gershom Scholem – Der Briefwechsel – 1939-1964.
Suhrkamp Verlag, 695 Seiten.


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