Nach dem Ende des Regimes von Ben Ali beginnt in Tunesien die Diskussion über die Form der künftigen Gesellschaft. Eine Reportage mit Eindrücken von den Debatten in den Straßen von Tunis.
Nach einer Revolution gibt es keinen Grund für falsche Bescheidenheit. „Der 14. Januar stellt den 14. Juli in den Schatten“, schreibt Ghazi Ben Jaballah in der linken tunesischen Zeitung Attariq Aljadid. Denn nur Paris habe den 14. Juli, die Erstürmung der Bastille erlebt, aber die ganze tunesische Republik den Sturz Ben Alis am 14. Januar.
Das ist Tunis dieser Tage: Eine arabische Hauptstadt und überall Graffiti, die „Freiheit“, „Demokratie“, „Laizismus“ fordern. Und daneben junge Leute, Mädchen inmitten ihrer Freunde, die mit erhitzten Gesichtern über die nächsten Schritte der Revolution diskutieren. Straßenbilder, die Ben Jaballah vermutlich inspirierten, von der „tunesischen Marianne“ zu schreiben, die mit ihrer Fahne die „arabischen Völker“ in die Freiheit führe.
Was gestern noch die tägliche Existenz bestimmte – Misstrauen gegenüber allem und jedem und vor allem „la peur“, die in vielen arabischen Ländern so wohl bekannte Angst vor den allgegenwärtigen Geheimdiensten, ist endlich Vergangenheit. Passanten auf der Straße verfluchen laut den alten Präsidenten und lachen dann erleichtert auf. Jetzt kann man es endlich: reden, diskutieren, über alles sprechen. Und zwar öffentlich, nicht nur heimlich und hinter verschlossenen Türen. Die Flaniermeile der Avenue Bourguiba, eine einzige Agora.
Und die neue Freiheit wird genutzt, von jungen Demonstranten ebenso wie von traditionell gekleideten Beduinen aus dem Süden des Landes. An Häuserwänden überall in der Stadt sind Graffiti in Arabisch oder Französisch zu sehen: „Vive la Revolution“, „Für eine parlamentarische Demokratie“ und „liberté, égalité, fraternité“. Grüne Fahnen islamistischer Gruppierungen oder Allahu-Akbar-Rufe sucht man hier vergebens. Hier gibt es nur die allgegenwärtige tunesische Fahne.
Arm in Arm posieren Paare vor dem Panzer, der das Innenministerium schützt. Eben flogen da noch Tränengasgranaten, aber das ist zehn Minuten später schon vergessen. Die Soldaten schützen die Revolution, erklären die Passanten. Die Polizei sei ein Gegner, das Militär nicht. Der ehemalige Mathematikprofessor und Altlinke Taoufik Karkar schmunzelt: „Das ist wie 1975 bei der Nelkenrevolution in Portugal.“
Der beißende Geruch von Tränengas und die ständig gereizten Augen gehören dazu. Wenn sich die Gaswolke verzogen hat, stehen die Menschen sofort wieder beisammen. Eine Frau fordert mit geballter Faust, dass der Islam künftig nicht mehr Staatsreligion sein dürfe. Dutzende Männer lauschen gespannt.
In den Seitenstraßen geht das Leben seinen normalen Gang, außer dass in den Cafés nicht Fußball, sondern der Aufstand in Ägypten die Gemüter erhitzt. Auf dem Weg zur Zentrale der linkszentristischen Ettajdid-Partei ertönen aus einem Café Jubelrufe und Applaus. Gerade haben Protestierende in Kairos Straßen wieder ein Polizeifahrzeug in die Flucht geschlagen. Hier in Tunis nennen sie die Ereignisse voller Stolz die „tunesische Welle“. Der Journalist Ben Jaballah drückt es so aus: „Wenn Tunesien erwacht, dann bebt die arabische Welt.“ Das Beben in Ägypten verfolgen die meisten allerdings mit gemischten Gefühlen. 70 Prozent Analphabeten, so viele Arme und dann die Muslimbrüder? ob das gut geht? Tunesien sei da anders, mediterraner, mit hohem Bildungsniveau und niedrigerer Geburtenrate. Doch was gut sei, man habe ein Modell geschaffen, das die anderen kopieren können. Man stelle sich nur vor, es hätte im Jemen angefangen! Wie europäische Schreibtischstrategen, die in Talkshows diskutieren, ob Mubaraks Diktatur nicht doch die bessere Alternative für den Koloss am Nil sei, redet hier niemand. Mubarak, Omar al-Bashir, Assad und wie sie sonst noch alle heißen, müssen weg. Darin ist man sich einig.
Und so denkt Professor Karkar auch nicht nur an Portugal, sondern an 1989. So etwas wie in Osteuropa stünde nun für die Region an. Und sein Kollege Hishem Skik, Chefredakteur der Adariq Aljadid, dem Zentralorgan der Ettajdid-Partei, reflektiert in der Parteizentrale über Tunesiens Zukunft: „Am 14. Januar fing mit Ben Alis Sturz eine neue Epoche an, alles geht sehr schnell, und wir müssen die Situation stabilisieren, damit die Revolution nicht entgleist. Wir haben uns von Anfang an an der Übergangsregierung beteiligt, aber zugleich den Druck von der Straße auf sie unterstützt – eine Doppelstrategie. Die Regierungsbeteiligung hat uns jede Menge Kritik eingebracht, denn wir kommen aus einer Kultur der Opposition. Drei Dinge sind jetzt wichtig: Erstens muss die neue Regierung konkrete Verbesserungen auf den Weg bringen. Zweitens soll ein Komitee für politische Reformen zusammentreten, um eine neue, säkulare parlamentarische Verfassung auszuarbeiten und um Gesetze zu reformieren. Zum Dritten brauchen wir eine Kommission zur Untersuchung der Verbrechen des Ben-Ali-Regimes.“ Und lächelnd fügt er hinzu: „Hoffentlich macht die Regierung nicht zu viele Dummheiten.“
Mubarak, Omar al-Bashir, Assad und wie sie sonst noch alle heißen, müssen weg. Darin sind sich hier alle einig.
Draußen ertönen Rufe. „Das sind die Islamisten, sie haben heute zur Großkundgebung aufgerufen“, erklärt Skik. Auf der Straße stehen 50 Bärtige und fordern Freiheit für die politischen Gefangenen. Richtig glücklich sehen sie nicht aus, und sie fallen auf mit ihrem Outfit. Derweil verteilen junge Frauen Aufrufe für eine Demonstration am nächsten Tag. Dort soll es um die Forderung gehen, aus Tunesien eine echte laizistische Republik zu machen. „Tunesien ist zwar in der arabischen Welt am fortschrittlichsten. Aber das reicht uns nicht. Denn in der jetzigen Verfassung steht, der Islam sei Staatsreligion. Das muss weg“, erklärt eine von ihnen. „Morgen“, so verspricht sie uns, während die Gruppe der bärtigen Männer in einer Seitengasse verschwindet, „werdet ihr das wahre Gesicht Tunesiens sehen“.
Um drei Uhr am folgenden Nachmittag ist Treffpunkt dieser ersten wirklich organisierten Demonstration der Revolution. Denn bislang war alles spontan, über SMS und Facebook organisiert. Wie Ali*, der sich als „Revolutionär der ersten Stunde“ vorstellt, erklärt, sei alles völlig spontan von der Jugend ausgegangen. Deshalb sieht man heute auch zum ersten Mal gedruckte Plakate. Und auf denen steht: „Liberté“, „Freedom“ und „Für eine laizistische Demokratie“. Wann hat die arabische Welt so etwas schon einmal gesehen? Anfangs sind es rund 500, die sich da auf der Avenue Bourgiba versammeln. Gerade endete eine andere Spontandemo gegen, ja gegen was eigentlich? Auf jeden Fall, wie alles dieser Tage, für die Revolution und das Neue und gegen das Alte. Und dann tauchen sie plötzlich auf, mit Schlagstöcken bewaffnet, die gefürchteten Milizionäre Ben Alis. Einige Demonstranten flüchten, andere halten stand, es kommt zu Prügelszenen. Aber den Protestierenden gelingt es, die Schläger abzudrängen. Inzwischen sind es bestimmt 2.000, Frauen und Männer, ganz viele Junge, aber auch Alte. Einer trägt die traditionelle tunesische Kopfbedeckung, den Fez. Und vielleicht ein Viertel der Frauen trägt Kopftuch. Ali meint: „Freiheit, die ich meine, ist auch die Freiheit, sich so anzuziehen, wie man mag.“ Am Ende der Demonstration sind es 4.000. Für echte Gleichberechtigung, gegen Xenophobie und Obskurantismus werben sie auf ihren Plakaten, und für Emanzipation, modernité und immer wieder Freiheit und Demokratie.
Am nächsten Tag sucht man in den europäischen Medien jedoch vergebens Berichte über das Event. Dort ist man viel zu beschäftigt mit der Ankunft des Führers der bis vor einer Woche verbotenen hiesigen Islamistenpartei En-Nahda. Befragt, was dies für Tunesien bedeute, meint Karim, ein junger Journalist: „Nicht viel.“ Die Islamisten seien völlig desorganisiert und bestenfalls in ein paar Jahren eine Bedrohung. Einem Begrüßungskomitee von geschätzten 1.000 Verehrern standen dann auch etwas über 100 laizistische Gegendemonstranten gegenüber. Vor seinem Abflug hatte der Muslimbruder, der früher durch besonders unangenehme antisemitische Äußerungen auffiel, noch erklärt, die Sharia werde es in Tunesien mit ihm nicht geben. Ob er nur Kreide gefressen hat oder seine Äußerungen, man strebe eine demokratische Republik nach skandinavischem Vorbild an, ernst meint, wird sich zeigen. Die meisten tunesischen Zeitungen, die dieser Tage ihre neu gewonnene Pressefreiheit auskosten, lassen an dem 70-Jährigen jedenfalls kaum ein gutes Haar.
Auf den Straßen geht außerdem das Gerücht um, er habe heimliche Absprachen mit Ghaddafi getroffen. „Ghaddafi ist seit 1969 an der Macht, er ist der libysche Ben Ali“, sagt Moemen, ein junger Philosophiestudent, „und er hat Angst, dass die tunesische Revolution nach Libyen übergreift. Er könnte die tunesischen Islamisten nutzen, wenn er die Lage hier destabilisieren möchte.“ Aber auch Moemen treibt die Frage nach einer neuen Verfassung weit mehr um.
Ali dagegen glüht vor politischem Eifer und führt aus, wie man bei Zusammenstößen mit der Polizei nach Fußballspielen deren Strategie gelernt und dieses Wissen nun für die Revolution nutzbar gemacht hat. Er als Muslim habe Jihad für die Freiheit und die Republik gemacht. Er ist überzeugter Citoyen und sieht in solchen Äußerungen keinerlei Widerspruch. Sollte man jedoch die Islamisten erstarken lassen, könnten sie in den Gruppen all dieser Jugendlichen, die sich stolz als Wächter der Revolution bezeichnen, erfolgreich agitieren. Denn die Verschwörungstheorien, die ihnen al-Jazeera und die Staatsmedien jahrelang eingetrichtert haben, sind alle noch da. Sie scheinen aber derzeit nicht präsent zu sein: Vor der ägyptischen Botschaft gab es Demonstrationen, die amerikanische ist dieser Tage in Tunis ein ruhiger Ort.
Auf diesen Kundgebungen ist der Nahost-Konflikt erstaunlich wenig präsent. Auf der Place de Kasbah sind Graffitis zu sehen, in denen die tunesische Regierung als Nazis und Zionisten zugleich beschimpft wird. Hier hatte sich die Freiheitskarawane niedergelassen, eine Gruppe von Menschen aus Süd- und Zentraltunesien. Von da, wo die Revolution mit der Selbstverbrennung Mohamed Bouazizis ihren Anfang nahm. Fünf Tage kampierte man vor den Ministerien, dann räumte die Polizei ohne Vorankündigung den Platz unter Einsatz von Tränengas und brutaler Gewalt.
Ben Jaballah hat in seiner Hymne an die kommende Freiheit Arabiens fast alle „Völker Arabiens“ aufgezählt, aber ausgerechnet die Palästinenser fehlen in seiner Aufzählung. Unangenehm wäre es ihm wohl, spräche man ihn drauf an. Aber es ist zugleich symptomatisch. Denn dies ist eine Revolution und keine Intifada. Im Fernsehen laufen Bilder von jungen Frauen und Männern, die singend Arm in Arm auf den Boulevards demonstrieren. Das Ziel dieser Demonstrantinnen und Demonstranten ist es, normale Bürger in einem normalen demokratischen Staat zu sein. Citoyens eben. Der libanesische Autor Fouad Ajami sprach einmal von „arab exceptionalism“: Nationalistische Despoten, islamistische Opposition und der Westen seien in der Haltung geeint, dass im Nahen Osten und im Maghreb die Menschen eben irgendwie anders seien als im Rest der Welt. Mit diesem Vorurteil haben die Tunesier schon jetzt aufgeräumt. Nichts spricht dafür, dass ihre Revolution scheitern sollte. Doch selbst in diesem Fall wird niemand mehr sagen können, in dieser Region der Welt zähle nur der Dialog der Kulturen und nicht etwa Freiheit und Würde. Marianne sei Dank.
* Name von der Redaktion geändert.
Bernd Beier und Thomas von der Osten-Sacken berichten für die woxx aus Tunis.