KÄMPFE IM TIBET: Die Wut der „kleinen Geschwister“

Die jüngsten Ausschreitungen im Tibet haben nicht zuletzt soziale Ursachen. Unterdessen geben die weltweit aufmerksam verfolgten Bilder der Gewalt denen Auftrieb, die von friedlichem Protest, wie ihn der Dalai Lama propagiert, nichts halten.

Die chinesische Regierung hatte am Wochenende eigentlich das Ende der Unruhen in Tibet und den angrenzenden Regionen beschlossen. Doch exil-tibetische Organisationen berichteten, dass in den Provinzen Gansu und Qinghai auch am Wochenende und am Montag mehrere hundert Tibeter demonstrierten. Da sich kaum Journalisten in der Region aufhalten, ist die Berichterstattung spärlich. Sicher ist jedenfalls, dass Mönche den 49. Jahrestag des tibetischen Aufstandes am 10. März zu einer Demonstration nutzten, die nach Auseinandersetzungen mit der Polizei zu heftigen Unruhen in Lhasa und anderen von Tibetern bewohnten Gebieten führten. Nach Auskunft der tibetischen Exilregierung sollen über 140 Menschen bei den Auseinandersetzungen ums Leben gekommen sein, die Regierung der „autonomen“ Region Tibet spricht von nur 22 Toten. Außerdem hat es viele Festnahmen gegeben.

Der Aufstand von 1959 spielt im Gedächtnis der Tibeter eine zentrale Rolle. Durch ihn wurde das Abkommen hinfällig, das die KPCh und der Dalai Lama 1951 geschlossen hatten: Erhalt der Priesterherrschaft als Preis für die Anerkennung der Oberhoheit Chinas über Tibet. Nach chinesischen Angaben wurden während des Aufstandes und seiner Niederschlagung durch die chinesische Armee über 5.000 Menschen getötet, verwundet oder verhaftet. Angaben exiltibetischer Organisationen zufolge starben über 65.000 Menschen. Der Dalai Lama floh nach Indien und gründete die tibetische Exilregierung.

Wie bei den Kämpfen in Tibet in den Jahren 1987 und 1989 spielten auch dieses Mal die Mönche eine zentrale Rolle. Nachdem während der „Kulturrevolution“ (1966 bis 1976) fast alle 2.500 Klöster zerstört wurden, gibt es nach offiziellen Angaben aus dem Jahr 2000 wieder über 46.000 Mönche und Nonnen sowie über 1.700 Stätten für buddhistische Aktivitäten. Die chinesische Regierung versucht, die Klöster durch die staatlichen Religionsvereinigungen und die Staatssicherheit zu kontrollieren – offensichtlich erfolglos.

Die Kämpfe in Lhasa richteten sich in erster Line gegen Geschäfte der Hanchinesen und der muslimischen Hui-Minderheit, die traditionell im Westen Chinas eine wichtige Rolle im Handel spielen. Aufständische erklärten westlichen Journalisten, was Organisationen der Exiltibeter schon seit Jahren verbreiten: Die hanchinesischen Siedler würden Tibet überschwemmen, die Wirtschaft kontrollieren und die Einheimischen in die Arbeitslosigkeit drängen. Der Bau der höchsten Eisenbahn der Welt von Golmud nach Lhasa sowie das Programm der chinesischen Regierung zur Entwicklung des Westens seien nur Strategien der kolonialen Unterwerfung. Trotz hoher Wachstumsraten gehört Tibet immer noch zu den ärmsten Provinzen Chinas. Für die Unterstützer sind die Auseinandersetzungen ein antikolonialer Aufstand gegen ökonomische Unterwerfung, für die chinesische Regierung separatistische Pogrome.

Die KPCh ist zwar seit Anfang der Achtzigerjahre bemüht, den Staatsapparat zu „tibetisieren“, doch kann sie sich der Loyalität der tibetischen Kader nie sicher sein.

Die Realität ist jedoch wie immer komplexer. Der Volkszählung von 2000 zufolge leben über 2,4 Millionen Tibeter in der „autonomen“ Region Tibet sowie über 2,8 Millionen in den angrenzenden Provinzen Sichuan, Yunnan, Qinghai und Gansu. Nach offiziellen Angaben liegt der Anteil der Han-Bevölkerung in der „autonomen“ Region Tibet nur bei etwa sechs Prozent. Die Tibeter machen über 92 Prozent der Bevölkerung aus. Die vielen tausend hanchinesischen Händler und Wanderarbeiter, die sich nur temporär in Tibet aufhalten, werden dabei ebenso wenig mitgezählt wie die stationierten Soldaten der chinesischen Armee.

Bei der hanchinesischen Migration ist zwischen zwei Gruppen zu unterscheiden. Einerseits gibt es die Kader, Techniker, Universitätsabsolventen und Ingenieure, die vom Staat für einige Jahre nach Tibet geschickt werden, um bei der „Entwicklung“ zu helfen. Sie bekommen großzügige Lohnzuschläge für ihre Bereitschaft, in eine rückständige Region im Hinterland zu gehen. Die Händler und Wanderarbeiter hingegen strömen auf eigene Faust in die tibetischen Städte, um ihr Glück zu suchen. Lukrative Arbeitsplätze in der Staatsindustrie oder im Verwaltungsapparat sind für diese Hanchinesen ohne permanente Aufenthaltsgenehmigung nicht zugänglich.

In Lhasa machen die Han wahrscheinlich die Mehrheit der Bevölkerung aus und kontrollieren große Teile des Handels und des Baugewerbes. Geschäfte werden sowohl von Tibetern als auch von den Han bevorzugt mit den Angehörigen der eigenen Bevölkerungsgruppe abgewickelt. Auch im Tourismusgewerbe existieren ethnische Trennlinien. 2005 besuchten 100.000 ausländische Touristen Tibet, von denen viele tibetische Unterkünfte und Reiseführer bevorzugten. Das Geschäft mit den 900.000 hanchinesischen Touristen machten dagegen in erster Linie chinesische Hotels und Agenturen. Auch in China lässt sich Tibet als Ort der Begegnung mit „edlen Wilden“ oder der spirituellen Erleuchtung für gelangweilte Angehörige der urbanen Mittelschicht vermarkten.

Die meisten Tibeter arbeiten immer noch als Bauern oder Hirten in der Landwirtschaft, die sich im Vergleich zu den Städten nur langsam entwickelt. Da es in China kein Privateigentum an Grund und Boden gibt, kann von einer Landnahme durch Han-„Siedler“ keine Rede sein. Allerdings verpachten tibetische Bauern in der Gegend um Lhasa das Nutzungsrecht für ihr Land an Han. In den Städten bildet sich langsam eine tibetische Mittelschicht heraus, nicht zuletzt Dank des Staatssektors. Noch 2000 standen zwei Drittel aller Stadtbewohner, inklusive der Tibeter, auf staatlichen Gehaltslisten. Soziale Unterschiede zwischen Han und Tibetern sind deshalb auch ein Stadt-Land-Problem.

In den Industriebetrieben sind die Tibeter unterrepräsentiert, was auch an ihrem niedrigeren Bildungsniveau liegt. Da die Tibeter im Gegensatz zu den Han von der Ein-Kind-Regel weitgehend befreit sind, hat Tibet die höchste Geburtenrate Chinas. Die tibetische Bevölkerung hat sich in den letzten 50 Jahren verdoppelt. Diese Zahlen zeigen, wie absurd der Vorwurf des „demographischen Genozids“ ist, der von Exiltibetern erhoben wird. In den Städten gibt es eine hohe Jugendarbeitslosigkeit unter den Tibetern, da viele nach dem Besuch der Schule nicht mehr in die Dörfer zurückgehen wollen. Obwohl in den Schulen Tibetisch und Chinesisch unterrichtet wird, bleibt Chinesisch für viele Tibeter eine Fremdsprache, wodurch sie auf dem Arbeitsmarkt benachteiligt sind. Der Eindruck, dass Hanchinesen von der Arbeitslosigkeit nicht betroffen seien, entsteht auch dadurch, dass Wanderarbeiter der Han im Fall einer Entlassung Tibet wieder verlassen.

Auch wenn die Unruhen durch das Eingreifen der Polizei ausgelöst wurden, so ist es doch auffällig, dass sich zumindest in Lhasa die Wut in erster Linie gegen Geschäfte und nicht gegen Einrichtungen des Staates richtete. In der Stadt verlaufen die Fronten nicht so eindeutig zwischen Han und Tibetern. Der Anteil der Minderheiten unter den Staatskadern in der „autonomen“ Region liegt bei über 70 Prozent, derjenige der Tibeter unter Richtern bei über 96 Prozent und auch die Mehrheit der Polizisten sind Tibeter. Mit diesem Staatsapparat kann die KPCh die Unruhen offensichtlich nicht in den Griff bekommen. Nach inoffiziellen Angaben sollen 300.000 bewaffnete Kräfte aus der Nachbarprovinz Qinghai nach Tibet abkommandiert worden sein. Die KPCh ist zwar seit Anfang der Achtzigerjahre bemüht, den Staatsapparat zu „tibetisieren“, doch kann sie sich der Loyalität der tibetischen Kader nie sicher sein. Erst im Herbst des vergangenen Jahres startete die Partei eine Loyalitätskampagne, um Kader zu erziehen, die sowohl der Partei als auch dem Dalai Lama ergeben sind.

Die Unruhen zeigen auch, dass die Strategie, Tibet durch ökonomische Entwicklung und die Förderung der Klöster – bei gleichzeitiger staatlicher Kontrolle – zu befrieden, nicht aufgeht. Zu tief sind die Wunden der kulturrevolutionären Vergangenheit. Auch auf Grund des staatlichen Entwicklungschauvinismus, der Minderheiten als folkloristische „kleine Brüder und Schwestern“ der Hanchinesen wahrnimmt, kann die chinesische Regierung die „Undankbarkeit“ der Tibeter nicht verstehen. Schon die wohl liberalste Phase der Tibetpolitik ab 1981 unter Parteichef Hu Yaobang endete mit schweren Auseinandersetzungen im Jahr 1987. Damals wie heute befürworten die Hardliner, die Klös-
ter wieder einer stärkeren Kontrolle zu unterwerfen.

Kurz vor den Unruhen von 1987 startete die US-Regierung zusammen mit dem Dalai Lama eine internationale Pro-Tibet-Kampagne. Auch dieses Mal kommt der Aufstand zur rechten Zeit, um China angesichts der hohen internationalen Aufmerksamkeit wegen der olympischen Spiele unter Druck zu setzen. Mögen die Anschuldigungen der chinesischen Regierung, dass die „Dalai-Lama-Clique“ hinter den Ausschreitungen stecke, auch haltlos sein, so ist es doch beachtlich, wie sich der Aufstand innerhalb weniger Tage von Lhasa auf die tibetischen Gebiete in den Nachbarprovinzen ausdehnte. Während Streiks und Bauernunruhen in der Regel lokal isoliert sind, scheinen die tibetischen Aufständischen über bessere Kommunikationsstrukturen zu verfügen. Dieses Mal gelang es der chinesischen Regierung nicht zu verhindern, dass Bilder der Kämpfe um die ganze Welt gingen. Zu viele Touristen und Menschen mit Handykameras hielten sich in Lhasa auf. Die Bilder der Gewalt geben den Exiltibetern Auftrieb, die die Politik des Dalai Lama ablehnen, friedlich für „weitgehende Autonomie“ zu kämpfen, und die stattdessen den bewaffneten Kampf für die Unabhängigkeit propagieren.

Gefangen in ihrer eigenen nationalistischen Ideologie, geht es für die KPCh in Tibet tatsächlich um sehr viel. Die Regierung glaubt, dass sie ihre Legitimation nur bewahren kann, wenn die Einheit dessen, was sie als die chinesische Nation definiert, gesichert wird. Zur Niederwerfung der Kämpfe setzt die KPCh jetzt auf gewaltsame staatliche Repression. Es ist jedoch zu erwarten, dass nach der Herstellung von „Ruhe und Ordnung“ die Politik des Einschüchterns, Einbindens, Überzeugens und Bestechens der tibetischen Bevölkerung fortgesetzt wird. Trotzdem: Nach den Unruhen kann jederzeit vor den Unruhen sein.

Felix Wemheuer ist Sinologe und arbeitet an der Universität Wien.


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