Nichi Vendola ist der hoffnungsvollste Aspirant der Linken auf das Amt des italienischen Ministerpräsidenten. In seinem programmatischen Buch für ein „besseres Italien“ präsentiert der christliche motivierte Politiker jedoch vor allem eine moralisierende Ideologie der Vergemeinschaftung. Indes setzt ihn eine sich radikalisierende Protestbewegung unter Druck.
Als Nichi Vendola in einem Interview zu Beginn des Sommers den Wunsch ausplauderte, sich gerne aus der Öffentlichkeit zurückzuziehen, um als Schriftsteller durch die Welt zu reisen, schreckten seine Anhänger auf: Apuliens Regionalpräsident ist der Hoffnungsträger der italienischen Linken. Seit er im Frühjahr letzten Jahres zunächst in koalitionsinternen Vorwahlen den Kandidaten der Demokratischen Partei deklassiert und später mit deutlicher Mehrheit gegen seinen rechten Herausforderer gewonnen hat, gilt er als einzige linke Alternative für das Amt des Ministerpräsidenten. Nach dem Vorbild seiner regionalen Wahlkomitees, den sogenannten „Fabbriche di Nichi“, bildeten sich mittlerweile in ganz Italien und über die Landesgrenzen hinaus neue Unterstützergruppen. Im Anschluss an die erste Vollversammlung der „Fabriken“ im Juli 2010 veröffentlichte Vendola das Manifest „Es gibt ein besseres Italien“. Es erscheint dieser Tage im Münchner Kunstmann Verlag.
Die beiden Übersetzerinnen Friederike Hausmann und Petra Kaiser nennen Vendolas Unterstützergruppen nicht „Fabriken“, sondern „Werkstätten“. Damit betonen sie deren Werkcharakter und die kleine, oft stadtteilbezogene Organisation. Andererseits gehen dieser Übersetzung wichtige Konnotationen, die im Namen „Nichis Fabriken“ mitschwingen, verloren. Die Arbeiterkämpfe machten lange Jahre die Stärke der italienischen Linken aus. An diese Tradition versucht Vendola immer wieder konkret anzuknüpfen, zuletzt durch seine Solidarität für das Bündnis „Vereint gegen die Krise“, einem Zusammenschluss der Metallgewerkschaft Fiom mit prekären Kulturschaffenden. Darüber hinaus kann der Name auch als postmodernes Zitat gelesen werden. Vendola versteht Politik als Deleuze`sche „Gedankenfabrik“: ihm geht es nicht mehr um die Frage der Repräsentation durch Parteien, sondern um die Produktion von Ideen.
Da diese außerparlamentarische Opposition bisher vornehmlich als virtuelle Facebook-Gemeinde in der Realität des Internets existiert, ist für Vendola „die kontinuierliche Expansion der digitalen Demokratie ein unverzichtbarer Baustein“ auf dem Weg ins Präsidentenamt. Das Buch ist deshalb auch mit der Graphik seines Internetauftritts abgestimmt. Jedem Kapitel sind drei Icons vorangestellt, die auf Musik, Literatur und Filme verweisen. Die Links sind nicht zur Erweiterung des kulturellen Horizonts angelegt, sie umgrenzen vielmehr das Feld, auf dem sich die potenziellen Wähler ihrer kulturellen Identität vergewissern können.
Auch die von Vendola immer wieder erzählte biografische Anekdote wirkt identitätsstiftend: „In unserem Haus in Terlizzi hingen zwei große Portraits nebeneinander: Das eine zeigte Juri Gagarin, das andere Papst Johannes XXIII. Für meine Eltern war es ganz selbstverständlich, den Namen des Schutzpatrons von Bari, Nicola, mit dem des damaligen Führers der Sowjetunion, Nikita Chruschtschow, zu verbinden. Schon im Kindergarten nannten mich alle einfach Nichi.“
Vendolas Buch ist ein Zeitdokument über den Zustand der italienischen Linken.
Der kindliche Kosename und die „ruhelose Religiosität“ jener undogmatischen katholischen Basisgruppen, die nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil entstanden, sind Programm. Die „neue Erzählung“, mit der Nichi die kulturelle Hegemonie der Rechten brechen will, erhebt keinerlei ästhetisch-intellektuelle Ansprüche: „Wir brauchen ein Vokabular ohne lexikalische Täuschung, ein Vokabular, das jedem Durchschnittsbürger verständlich ist.“ Der Katholizismus wirkt als kollektiver Kitt. Nichis Poesie ist von der Rhetorik der Bergpredigt durchdrungen: „Die Werkstätten können die frohe Botschaft verkünden, dass nach dieser langen Nacht in jedem Dorf, jedem Viertel, jeder Stadt ein neuer Tag anbricht, der uns alle verändern wird.“
Dass an den Wänden der Werkstätten noch vergilbte Porträts sowjetischer Helden hängen, ist unwahrscheinlich. Für nostalgische Reminiszenzen an die kommunistische Vergangenheit ist kein Platz mehr. Vendola hat den Partito della Rifondazione Comunista (PRC) längst verlassen, an einer Neugründung des Kommunismus ist er nicht mehr interessiert. Zwar fungiert er noch als Vorsitzender der Sammelbewegung Sinistra Ecologia e Libertà (SEL), die den Anspruch einer Linkspartei immerhin im Namen trägt, doch die „neue Politik“ bemüht sich nicht um eine neue Linke, sie sorgt sich um „ein besseres Italien“.
In der Einleitung des Manifests verortet Vendola die italienische Krise im Kontext der europäischen Misere. Er wirbt dafür, Italien, trotz der Skandale um seinen amtierenden Ministerpräsidenten, nicht als kuriosen Sonderfall zu betrachten. Mit der Globalisierung hätten sich die Koordinaten verschoben: „Der Atlantik ist nicht mehr das Zentrum der Welt.“ Da das Mittelmeer wieder an Bedeutung gewinne, müsse man Europa politisch stärken und funktionsfähiger machen. „Aus diesem Grund muss eine europäische Wirtschaftspolitik den Finanzkapitalismus bekämpfen, den aus Renditen resultierenden Reichtum auf die Arbeit umverteilen und den sozialen Rechten breite Geltung verschaffen.“ Die Doppeldeutigkeit des Satzes ist zwar der deutschen Übersetzung geschuldet, doch nähert sich Vendola mit dem antisemitischen Topos vom „raffenden“ und „schaffenden“ Kapital tatsächlich dem Argumentationsmuster der so genannten „sozialen Rechten“. Im Kontext einer neuen Mittelmeerpolitik wünscht er sich, Italien möge sein kulturelles Selbstverständnis zur Geltung bringen: „Dazu muss man die Invasion fremder kultureller Standards eindämmen und die Ausbildung einer multikulturellen lokalen Identität fördern.“ Die Kritik an der repressiven Immigrationspolitik der Rechten ist in diesem Zusammenhang zwar eindeutig, sie wird aber nicht politisch motiviert. Für Vendola ist die Aufnahme von Flüchtlingen vor allem ein Gebot der christlichen Barmherzigkeit. Er zitiert das Losungswort eines apulischen Bischoffs: „Vergib uns, Bruder aus Marokko. Wenn du an meinem Haus vorbeikommst, tritt ein.“
Während in seinen geopolitischen Reflexionen die antiamerikanischen Ressentiments der antiimperialistischen Linken nachhallen, bekundet Vendola an anderer Stelle offen seine Wertschätzung für den US-Präsidenten. Selbst gerne als „weißer Obama“ betitelt, geht seine Begeisterung für den ehemaligen „community organizer“ so weit, dass er sich eine italienische Version der amerikanischen „community action“ wünscht. Denn man soll „die Städte nicht mehr der Ideologie der individuellen Selbstverwirklichung überlassen, sondern muss sie wieder als Schauplatz gemeinschaftlichen Handelns verstehen.“ Nichis Fabriken kommt beim Aufbau der neuen urbanen Gemeinschaften aufgrund der „Vertrautheit mit den örtlichen Gegebenheiten“ eine zentrale Rolle zu. Ihre Kooperation „ist der gute Samen, der in vielen gesellschaftlichen Bereichen aufgehen und reiche Früchte tragen kann“. Dieses Bibelzitat ist wörtlich zu verstehen. Zu einer achtsamen Verwaltung für eine gerechte Stadt gehört für Vendola, dass auf städtischen Brachen und stillgelegten Industrieanlagen wieder Schulgärten und Gemüsebeete zur Selbstversorgung angelegt werden. „In der Stadt der Zukunft wird die Verantwortung der Bürger für die Umwelt gestärkt, und Herstellung und Verbrauch von Lebensmitteln rücken wieder näher zusammen.“ Nichis urbane Hoffnung besteht darin, Stadtteile in Dörfer mit „Gemeinschaftseinrichtungen“ zu verwandeln: „das ist die ethische Wahrheit der Nachhaltigkeit“.
Im Kapitel, das für den Aufbau einer italienischen Kreativindustrie wirbt, kritisiert Vendola einerseits die neoliberalen Bildungsreformen der vergangenen Jahrzehnte, übernimmt aber andererseits klassische Forderungen der neoliberalen Humankapitaltheoretiker. Er will eine „lebenslange Fort- und Weiterbildung“, Schulen, die „Talente fördern“ und „Leistung belohnen“. Pathetisch werden Lehrer als „Helden der Zivilgesellschaft“ bezeichnet, als die „eigentlichen Unbekannten Soldaten der Republik“. Die militaristische Metapher verrät, dass die autoritäre Vergemeinschaftung zum Wesen des propagierten Zivilgesellschaftskonzepts gehört.
Das „Manifest für eine neue Politik“ ist Vendolas Wahlprogramm, mit dem er sich als zukünftiger Ministerpräsident Italiens empfehlen will. Es ist nicht für seine linken Anhänger geschrieben, sondern darauf ausgerichtet, möglichst breite Wählerschichten anzusprechen. Dennoch ist es ein Zeitdokument über den Zustand der italienischen Linken. In Vendolas Abrechnung mit der Ära Berlusconi, seiner Beschreibung des ökonomischen, sozialen und kulturellen Niedergangs Italiens, spiegelt sich das Ausmaß ihrer historischen Niederlage. Die fehlende politische Aufarbeitung dieser Niederlage sollte durch die Ideenproduktion von Nichis Fabriken ersetzt werden. Doch nur ein Jahr nach ihrer ersten Vollversammlung und der Entstehung des Manifests, zeigt die politische Realität, dass es nicht reicht, die moralische Wende zu predigen und „ein besseres Italien“ zu beschwören. Infolge der erfolgreichen Mobilisierung zu den Volksentscheiden gegen die Privatisierung der Wasserversorgung entstand in den letzten Monaten eine radikalere Protestbewegung, die sich nicht damit begnügt, ihre Empörung auf die Straße zu tragen. Für den Herbst prophezeit Vendola als Reaktion auf das neue Sparprogramm der Regierung deshalb nichts weniger als eine „Revolution“. Darin mag sich die Ahnung aussprechen, dass es noch ein „anderes Italien“ gibt.
Nichi Vendola – Es gibt ein besseres Italien. Manifest für eine neue Politik. Verlag Antje Kunstmann, 173 Seiten.