ISRAEL: „Die Aufbruchstimmung ist geblieben“

Daniel Gutwein ist Professor an der Fakultät für jüdische Geschichte der Universität Haifa. Er hat die israelischen Proteste des Sommers von Beginn an begleitet. Die woxx sprach mit ihm über die Dynamik der jüngsten sozialen Konflikte in Israel sowie über deren Ursachen.

„Die Proteste in Israel hängen sehr stark mit den Wurzeln der globalen Krise zusammen“: Der Historiker Daniel Gutwein von der Universität Haifa.

woxx: Die israelische Gesellschaft erfährt unter der Regierung von Ministerpräsident Benjamin Netanjahu und Außenminister Avigdor Liebermann einen Rechtsruck. So nimmt etwa die Gewalt von Seiten der ultra-orthodoxen Juden zu, und es wird darüber diskutiert, ob Frauen und Männer in Bussen getrennt sitzen sollen. Auch die Pressefreiheit wurde vor kurzem eingeschränkt.

Daniel Gutwein: Die Geschlechtertrennung in Bussen findet in der israelischen Gesellschaft keine Unterstützung – die Mehrheit verurteilt das. Und ich glaube, auch die Mehrheit in der Politik. Allein die Ultra-Orthodoxen provozieren die Auseinandersetzungen, wie zum Beispiel in Beit Shemesch. Die überraschend große Demonstration gegen sie hat gezeigt, dass sie nach wie vor nur eine Minderheit hinter sich wissen. Und was die Pressefreiheit angeht: Sie wurde nicht tatsächlich eingeschränkt. Es handelt sich vielmehr um einen Einschüchterungsversuch. Die Regierung hat die Regeln verschärft. Wer eine falsche Tatsachenbehauptung verbreitet, kann belangt werden, bis hin zu strafrechtlichen Konsequenzen. Das Problem ist nicht diese Beschränkung selbst, es ist die damit verbundene Einschüchterung, die sich auch gegen bestimmte Fernsehsender richtet.

Ist Israel als demokratischer und säkularer Staat gefährdet?

Die Demokratie und der säkulare Staat sind herausgefordert durch den rechten Flügel und ultra-orthodoxe Kräfte. Aber ich glaube, dass die säkulare Mehrheit gegen diese Entwicklungen ist. Es ist eine Frage der politischen Kräfteverhältnisse. Ich denke aber, es gibt für die linken und säkularen Kräfte derzeit mehr Herausforderungen als wirkliche Risiken. Die Linke ist sich ihrer Verantwortung dabei bewusst. Wir sollten uns zunächst ansehen, was los ist. Das Schema, wonach die Rechte demokratiefeindlich und die Ultra-Orthodoxen gegen den säkularen Staat seien, ist zu einfach und erklärt wenig. Es ist nicht der Kampf der „Guten“ gegen die „Bösen“. Die Frage ist, welche sozialen Kräfte diese Phänomene ermöglichen. Wir dürfen nicht vergessen: Im Sommer sind allein in Tel Aviv 400.000 Menschen auf die Straße gegangen – wenn wir über Demokratie in Israel reden, sind das die demokratischen Verhältnisse.

Gibt es einen Zusammenhang zwischen den sozialen Protesten im Sommer und dem sich aktuell verstärkenden öffentlichen Widerstand gegen ultra-orthodoxe Vereinnahmungen des Alltags?

Ich denke, es sind dieselben Kräfte, die im Sommer wie auch diesen Winter die Proteste getragen haben. Ich bin nicht so optimistisch zu behaupten, dass wir auf ein sozialistisches säkulares Israel zusteuern. Was wir sehen können, ist eine Auseinandersetzung zwischen ungefähr gleich starken Kräften der israelischen Gesellschaft. Wenn die 400.000 Menschen vom Sommer das Richtige tun, können die Risiken minimiert werden. Man muss die sozialen Kräfte betrachten, nicht das ideologische Bild, beispielsweise der Ultra-Orthodoxen. In gewisser Weise prägt seit zwei bis drei Jahrzehnten das propagierte Bild einer multikulturellen Gesellschaft die Wahrnehmung, das ideologische Moment verstellt den Blick auf die soziale Basis. Doch all die Debatten um Demokratie und die Ultra-Orthodoxen sind Produkte des israelischen Privatisierungssystems. Ich glaube, dass diese Herausforderungen Ergebnis verschiedener Etappen des israelischen Privatisierungsregimes sind.

„Die Siedler und die Ultra-Orthodoxen sind Produkte des neoliberalen Systems.“

Die Siedler und die Ultra-Orthodoxen sind meiner Meinung nach Produkte des neoliberalen Systems in Israel. Sie sind keineswegs seit langem Teile der israelischen Gesellschaft. Sie wurden geschaffen. Und wenn ich sage, die Politik ist herausgefordert, dann weil ich glaube, dass eine soziale Politik die Gesellschaft wieder verändern könnte.

Worauf fußt die zunehmende Bedeutung der Nationalreligiösen und Ultra-orthodoxen?

In Israel werden vor allem Arme religiös. Und die Ungleichheit nimmt zu, der Graben zwischen Religiösen und Säkularen, zwischen arm und reich wächst. Die verelendenden Schichten finden in den religiösen Gemeinschaften soziale Absicherung und bekommen diese insofern, anders als säkulare Israelis, auch vom Staat. Das Problem in diesen Tagen ist, dass die Regierung eine neoliberale ist, die an Privatisierung und Wachstum für jeden glaubt.

Warum ist die israelische Linke so schwach, dass sie der neoliberalen Privatisierungspolitik nichts entgegensetzen kann?

Das Problem der Linken in Israel ist, dass ihr eine sozioökonomische Analyse der Gesellschaft fehlt. Die israelische Linke ist eine ideologische Linke und deshalb fehlt es ihr an wirklicher sozialer politischer Kraft. Also ist die Frage nicht die Bejahung oder Ablehnung der Demokratie, sondern, was wir machen können, um die Entwicklung einer kapitalistischen Klasse in Israel, an der Netanjahu feilt, zu bekämpfen. Beispielsweise sollte versucht werden, die Privatisierung des öffentlichen Sektors zu stoppen. Die neoliberale Restrukturierung der israelischen Gesellschaft verschärft die gesellschaftlichen Widersprüche und schafft eine neue kapitalistische Klasse. Und diese Veränderungen schlagen sich, wie wir jetzt beobachten können, auch im politischen und kulturellen Klima nieder. In der israelischen Linken sprechen wir die ganze Zeit nur über die Auswirkungen, anstatt über die Gründe dafür – das ist das wesentliche Problem. Wir müssen wieder die Ursachen analysieren.

Waren die Sozialproteste des Sommers eher vom Mittelstand getragen oder war auch das so genannte Prekariat beteiligt?

Wenn in Tel Aviv 400.000 Menschen auf die Straße gehen, dann ist das schon ein unglaubliches Bild – so etwas haben wir hier noch nie gesehen! Bei solch einer Menge – immerhin etwa fünf Prozent der israelischen Bevölkerung – sind alle gesellschaftlichen Schichten vertreten. Dennoch hat die Mittelschicht dominiert. Viele Dienstleistungen wurden in den Siebziger- und Achtzigerjahren des vorigen Jahrhunderts privatisiert – vom öffentlichen Sektor bis hin zu sozialen Diensten. Damals unterstützte die israelische Mittelschicht diese Privatisierungen. Doch die daran geknüpften Hoffnungen erwiesen sich als Illusion. Die Verlierer der Privatisierung fanden sich vor allem in der Mittelschicht. Eine vergleichbare Entwicklung also wie in Europa. Die Leute verloren ihre sicher geglaubten Arbeitsplätze, Bildung wurde immer teurer, das Gesundheitssystem ebenso. Was dann im Sommer geschah, war, dass die Mittelschicht, sagte „Hey, wir verstehen, was los ist“ und man konnte selbst Slogans wie „Stopp Privatisierung“ und „Wir wollen den Wohlfahrtstaat“ lesen. Viele dieser Gruppen protestierten schlicht, weil sie persönlich betroffen waren.

Profitiert die israelische Linke von diesem gesteigerten Bewusstsein oder wird es der aktuellen Regierung gelingen, die Situation zu befrieden?

Das ist der riskante Punkt, an dem wir jetzt stehen. Netanjahu hat sich öffentlich mit den Protesten identifiziert. Er arbeitet daran, die Leute davon zu überzeugen, dass er ihre Wünsche erfüllen kann. In einer Weise, die natürlich ohne Wohlfahrtstaat funktioniert und ohne einen aktiveren öffentlicheren Sektor. Ein Teil der Gesellschaft glaubt, dass Israel nach den kommenden Wahlen sozialer wird. Dieser Teil wählt zwischen den sozialdemokratischen Parteien in Israel, die den Wohlfahrtstaat in Aussicht stellen. Ein anderer Teil neigt zum rechten Flügel der Parteienlandschaft, der andere Wege anbietet, wie etwa steuerliche Erleichterungen.

Warum sind die Proteste schwächer geworden?

Das ist ganz einfach. Die Proteste begannen im Juli – das war der israelische Sommer. Und sie endeten mit dem Beginn des Herbstes und dem Beginn des Wintersemesters. Drei Monate in Zelten zu verbringen, ist eine lange Zeit! Aber die Proteste haben nicht aufgehört. Nur die Zelte wurden abgebaut. Der Protest ist noch immer spürbar. Die Aufbruchstimmung ist geblieben. Wenn man sich das Potenzial in den sozialen Parteien anguckt, die sozialen Kräfte in Israel ? Ich denke, was sich verändert hat, ist, dass die Menschen mit neuen Ideen konfrontiert wurden. Es sind zahlreiche Zirkel entstanden, die wir davor nicht hatten. Der Protest hat lediglich sein Gesicht verändert, aber er ist nicht zu Ende.

Die Proteste waren in erster Linie national ausgerichtet. Gab es auch eine Verbindung zu den Sozialprotesten im Ausland, vielleicht sogar zu den arabischen Ländern?

Zunächst sind die israelischen Sozialproteste natürlich ein israelisches Phänomen. Der Neoliberalismus jedoch ist ein globales Phänomen. Wir sind daran gewöhnt zu glauben, dass der Neoliberalismus allein den Finanzbereich betrifft, also die Banken usw. Doch auch Ausbeutung wird globalisiert, und wenn man die Proteste in Spanien, in den USA und in Griechenland betrachtet, sieht man viele ähnliche Forderungen. Und die israelischen Protestierenden wussten sehr gut, weswegen die Menschen in Spanien auf die Straße gingen, sogar die Mimik haben wir von ihnen abgeschaut. Der arabische Frühling ist sozial und wirtschaftlich dagegen etwas ganz anderes. Ich glaube, die israelischen Proteste trugen eigentlich mehr die Züge der „Occupy“-Bewegung. Jedoch war unser Slogan „Wir wollen ein bisschen Gerechtigkeit“ wiederum den Forderungen in den arabischen Ländern ganz ähnlich. Die israelischen Proteste haben ihren eigenen Charakter, aber klar, wenn man sich das global anschaut, ist diese weltweite Unruhe das Resultat einer globalen Krise des Kapitalismus, die 2008 begann. Es gab nur eine Verzögerung. Aber die Proteste hier hängen sehr stark mit den Wurzeln der globalen Krise zusammen.

Wie gestaltet sich die neoliberale Umstrukturierung der Gesellschaft in Israel konkret?

Das Wichtigste ist, die israelischen Gesellschaftsverhältnisse zu verstehen. Es gibt große Ähnlichkeiten zwischen Israel und den Vereinigten Staaten. Das israelische neoliberale System ist viel näher am US-amerikanischen Neoliberalismus, als an Europa. So kann man beispielsweise sagen, dass die Ultra-Orthodoxen in gewisser Weise das israelische Äquivalent der Tea-Party-Bewegung sind. Zudem haben wir in Israel eine einzigartige Form der Privatisierung erlebt.

Inwiefern einzigartig?

Soziale Dienste wurden von Bürgerrechten in Waren transformiert. Die soziale Unterschicht hat sich daraufhin selbst in politischen Parteien organisiert, um politisch das durchzusetzen, was ökonomisch für die Einzelnen unerreichbar war. So bekamen die Ultra-Orthodoxen mehr Macht. Wenn man in Israel diesen ultra-orthodoxen religiösen Gemeinschaften angehört, profitiert man von sozialen Vergünstigungen, von Vorteilen, die andere Israelis nicht haben. Diese Sektoralisierung der israelischen Gesellschaft ist ein Wesenszug der israelischen Neoliberalisierung. Das ist auch ein Grund, warum heute gegen die Religiösen und deren Vorstellungen demonstriert wird. Die Mittelschicht, die säkular ist, hat herausgefunden, dass sie wesentliche Rechte eingebüßt hat. Sie blickte auf das, was der gesellschaftliche Sektor, zu dem sie zählt, vom Staat bekam und was die Sektoren vom Staat erhielten und das löste den Protest gegen die Ultra-Orthodoxen aus. Die Frage ist ja nicht allein, wieso die Ultra-Orthodoxen auf diese oder jene Weise mit den Frauen umgehen. All diese Phänomene haben viel mehr mit der jüngsten Krise zu tun, als mit einfachen ideologischen Gründen oder Frauenrechten oder solchen Dingen.


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