Über die Krise in der Euro-Zone, das Verhältnis zwischen den Nationalstaaten und den Euro-Institutionen und die Bedeutung der sozialen Kämpfe sprach die woxx mit Werner Bonefeld. Er ist Professor für Politologie in Großbritannien an der Universität York und steht der „Schule“ des Open Marxism nahe.
woxx: Vier Jahre Krisenpolitik in der Eurozone, und die Krise blüht und gedeiht. Was passiert da?
Werner Bonefeld: Die konkrete Krisenlösungspolitik entwickelt sich genau so, wie die Europäische Währungsunion (EWU) es vorsah: Die Geldpolitik ist hart, sie refinanziert nicht die armen Staaten. Das ist nicht die Aufgabe der EZB, ihre einzige Aufgabe ist es, eine stabile starke Währung zu sichern. Und das macht sie eben. Also gibt es über die Geldpolitik keine Möglichkeit, etwas aufzufangen. Die Fiskalpolitik verhält sich genau so, wie es vorgesehen ist. Statt dass Schulden gemacht werden, sollen sie zum Zwecke eines harten Euro bezahlt werden. Ebenso sieht die EWU vor, dass der Anpassungsdruck nach unten weitergeleitet wird, das heißt Abbau des Sozialstaates – die Krankenhäuser (und nicht das Verteidigungsministerium) werden quasi im Orkus versenkt, für die Arbeitslosen gibt es kaum mehr Unterstützung, der Wohlfahrtsstaat wird in einen Arbeitsstaat umgewandelt, und die Arbeiter sehen sich gezwungen, geringere Löhne zu akzeptieren oder in Gegenden in der EU zu migrieren, wo Arbeit zu finden ist. Nochmal: Was gerade abläuft, ist genau das, was nach der Architektur der EWU ablaufen soll.
Einer Sichtweise zufolge ruiniert die Sparpolitik die Euro-Länder der Peripherie, was aber im Interesse Deutschlands, wo die Ökonomie floriert, durchgesetzt worden ist. Was meinen Sie dazu?
Die europäische Ökonomie konkurriert auf dem Weltmarkt, wo die Ökonomie ja zu Hause ist. Die Frage, die Sie in Wirklichkeit gestellt haben, ist folgende: Soll sich die deutsche Ökonomie den südeuropäischen anpassen? Dann verliert sie an Konkurrenzfähigkeit. Oder soll die deutsche Ökonomie das tun, was im Begriff kapitalistisch organisierter Produktionsverhältnisse liegt, das heißt konkurrenzfähig sein und profitabel den abstrakten Reichtum akkumulieren?
Aus der Perspektive eines Staats der Euro-Peripherie sieht es doch eher so aus, als würde der deutsche Staat seine Macht nutzen, um ihn zu erwürgen??
Charles de Gaulle hat gesagt, die EU bestehe sozusagen aus einem Pferd und einer Kutsche. Deutschland sei das ökonomische Pferd, Frankreich der politische Kutscher. Ihm zufolge ist die EU eine Koppelung der ökonomischen Macht Deutschlands und der politischen Hegemonie Frankreichs. Das hat sich geändert: Mittlerweile sitzen die Franzosen und die Deutschen zusammen auf dem Kutschbock. Angela Merkel will nicht allein Kutscher sein.
Die Frage, die gestellt werden muss, ist nicht: Warum will Deutschland die Euro-Zone? Sondern: Warum wollen Spanien, Portugal, Italien und Griechenland den Euro haben? Sicherlich waren diese Ökonomien in den vergangenen zehn Jahren unglaublich wachstumsträchtig, es stellte sich aber heraus, dass da nicht viel wuchs. Es wuchs viel Fiktives.
Die kritische Einsicht, dass das Kapital ein krisenhaftes Verhältnis ist, verschwindet hinter dem Schein, die Krise sei von einzelnen Nationen verschuldet.
In der Eurozone zu bleiben, könnte auch einfach das kleinere Übel sein, obwohl es einen mittelfristig vielleicht ruiniert – angesichts der desaströsen Aussicht eines Staatsbankrotts.
Das ist richtig. Man ist entweder arm innerhalb der Eurozone oder arm außerhalb der Eurozone. Aber die Armut bleibt. Damit stellt sich die Frage der Alternative. Es handelt sich dabei um das Problem der bürgerlichen Gestaltung der europäischen Wirtschaft und der europäischen politischen Form, das Problem der bürgerlichen Organisation. Das Problem für die Linke ist ein ganz anderes: Wie können wir eine Wirtschaft schaffen, in der die Sicherung unseres Lebensunterhalts sich nicht in der Form des Kapitals konstituiert? Denn die Armut gehört zum Konzept des Kapitals, und das heißt, Armut ist im kapitalistischen Reichtum inbegriffen.
Stößt man derzeit nicht auch auf eine Grenze der Kämpfe selbst, wenn eine Renationalisierung nicht nur in der staatlichen Politik, sondern auch bei den Arbeitern nicht zu übersehen ist?
Klar, das ist gar keine Frage. Das ist ja gerade das Schöne an der EWU, dass ein nationalisierter Arbeitsmarkt konkurrenzmäßig gegen einen anderen ausgespielt wird, damit wird die Solidarität der europäischen Arbeiter präventiv eingedämmt.
Setzt sich bei den „Occupy“- oder „Blockupy“-Protesten die Attac-Ideologie mit ihrer Fixierung auf das Finanzkapital und den Staat als Retter in der Not durch? Steht das nicht im Widerspruch zu der Forderung nach Solidarität?
Die große Unterscheidung zwischen Finanzkapital und produktivem Kapital als zwei verschiedene, voneinander unabhängigen Sachen, die scheinbar unterschiedlich reguliert werden müssen, ist eigentlich keynesianischen Ursprungs. Das hat mit Marxscher Kritik des Kapitals wenig zu tun. Bei Marx ist das Geldkapital das Kapital par excellence, weil sich das Geld als mehr Geld sozusagen selbst setzen kann, schnell, sauber. Scheinbar braucht man auch niemanden auszubeuten. Nur bleibt es fiktiv und stellt eine Akkumulation der Ansprüche auf zukünftige Mehrwertproduktion dar. Die Garantie dieser Zukunft liegt in der Gegenwart. Die Forderung, gegen die Banken vorzugehen und für die Arbeit, heißt ja auch nichts anderes, als dass die Arbeiter arbeiten sollen. Das ist natürlich eine große Sache, der fast jeder zustimmen kann: Denn die Arbeiter brauchen die Arbeit, um zu überleben, und die Kapitalisten brauchen die Arbeit, damit der abstrakte Reichtum auch gilt.
Nach der Wahl von François Hollande in Frankreich und angesichts der Rezession in Spanien und Italien wird derzeit auch diskutiert, ob nicht ein gegenhegemoniales Modell, das keynesianische Maßnahmen einschließt, gegen die von Deutschland forcierte Sparpolitik entsteht. Was denken Sie darüber?
Falls das klappen sollte, wäre das nicht so schlecht, weil dann die Fesseln, die man den Menschen anlegt, vergoldet werden, doch auch goldene Fesseln sind Fesseln. Mit einer solchen Idee eines „anderen Europa“ soll aber auch nur erreicht werden, die Arbeiter anders zum Arbeiten zu bringen. Politische Ökonomie beinhaltet den veritablen Streit darüber, wie der erarbeitete Wert verteilt werden soll, und dies setzt die Konsumtion der Arbeitskraft voraus. Für diese Konsumtion ist Unruhe eine schlechte Bedingung.
Aber in Griechenland ist ein Ende des Desasters gar nicht mehr abzusehen??
Die griechische Bourgeoisie entschied sich, die Demokratie, die sich nach der Junta etablierte, über die Europäische Union abzusichern und damit quasi einen externen Anker zu haben, der bestimmte Strukturen, bestimmte Freiheiten konsolidiert. Das zog sich bis in die Euro-Mitgliedschaft hinein. Nun befindet sie sich in einer Zwangslage. Solange das Land in der Euro-Zone ist, kann Griechenland kein Argentinien werden, das sich über einen wirtschaftlichen Einbruch neu gründete. Nun sind sie europäisch fundiert, aber in dieser Fundierung, die sie gewollt haben, gehen sie offenbar bald unter. Und die argentinische Lösung ist eine, die ihnen Albträume verschafft.
Die Kritik an der Sparpolitik wächst, nun gibt es auch noch Differenzen in der Wachstumspolitik zwischen Frankreich und Deutschland. Wie ist das zu beurteilen?
„Deutschland“, das ist doch eine schlechte Abstraktion – für eine Gesellschaft mit Arbeitsteilung, unterschiedlicher Reichtumskonzentration, Kapitalbesitzern, Armen und Arbeitern. Und die Kritik der Sparpolitik ist nicht notwendigerweise eine mündige Kritik, die es ja vermögen soll, den Menschen zur Emanzipation zu verhelfen. Ein Geert Wilders oder eine Marine Le Pen oder die rechtsextremen Parteien Griechenlands sind ja auch gegen die Sparpolitik und suchen die Nation als Beweggrund der Erneuerung. Man gibt sich national und kritisiert nationalistisch – und damit verschwindet vom Begriff des kapitalistischen Reichtums die Armut, und die kritische Einsicht, dass das Kapital ein krisenhaftes Verhältnis ist: Sie verschwinden hinter dem Schein, dass die Krise eine nationale Untat sei.
Von linker Seite darf aber die Politik nicht auf diese Weise kritisiert werden, damit es nicht zu einer Transformation der Marktfreiheit in den Nationalismus und von dort in die Bestialität kommt. Es soll mit Vernunft kritisiert werden – und der Vernunft geht es nicht um schlechte Abstraktionen, es geht ihr um die Frage, warum die Art und Weise unserer Subsistenz sich in derart unmenschlicher Form konstituiert und wie das zu ändern ist. Ob die EWU die in ihr liegende Logik der Sparpolitik aushalten kann oder ob die Sparpolitik durch Wachstumsmaßnahmen ergänzt wird, wie Hollande es fordert, ist offen. Die Spannungen sind überaus groß. Die eine Regierung pocht aufs Sparen, und die zum Sparen aufgerufene Regierung fällt quasi in sich zusammen, weil die Gesellschaft die Sparmaßnahmen nicht ohne Proteste hinnimmt. Die Demokratie tagte auf der Straße, massenhaft, gerade in Griechenland, und jetzt scheint dort der Staat regierungsunfähig zu sein. Sparpolitik ohne Regierbarkeit ist aber ein Ding der Unmöglichkeit. Sicher ist nur, dass es noch ungemütlicher werden wird.
Wird dabei nicht das spezifische deutsche Staatsinteresse unzulässig mit dem Interesse des europäischen Gesamtkapitals gleichgesetzt?
Die anderen Staaten, die bürgerlichen Klassen dort waren ziemlich zufrieden damit, die wirtschaftliche Stärke Deutschlands über die europäischen Institutionen zu nutzen, so dass die „eigenen“ Arbeiterklassen konkurrenzfähiger werden. Zunächst gab es da kein Problem. Jetzt aber, da das nicht mehr klappt, wird natürlich geschimpft. Plötzlich wird festgestellt, dass ihre Arbeiter nicht nur nicht so schnell arbeiten, sondern auch noch demonstrieren, wegen der Auswirkungen der Krise, die über sie hereingebrochen sind. Ein Beispiel: Als de Gaulle gefragt wurde, warum er denn die europäischen Verträge unterstütze, sagte er, das sei doch ganz klar, der Druck, der über die Europäische Gemeinschaft auf die französische Industrie ausgeübt werde, wäre derart, dass sie vermittelst höherer Produktivität konkurrenzfähiger werden müsse. Und er, de Gaulle, bräuchte nicht mal seine Politik zu ändern. Das ist die Komplizenschaft, nach der Sie gerade gefragt haben.
Bernd Beier ist Redakteur der in Berlin erscheinenden Wochenzeitung „Jungle World“.