GENERATIONENROMAN: Geschichte als Ansichtssache

Antonio Pennacchis Roman „Canale Mussolini“ ist ein Dokument des zeitgenössischen italienischen Revisionismus. Im deutschsprachigen Feuilleton wird seine Aufwertung des Faschismus als literarisches Ereignis gefeiert.

Die Jury der renommierten Bestenliste des deutschen Südwestrundfunks war sich einig: Ein Buch wie Antonio Pennacchis „Canale Mussolini“ wäre in der deutschen Literatur „wohl nicht möglich“, nein, „völlig unmöglich“, sogar „vollkommen undenkbar“. Mit diesem Urteil wurde der Roman im Mai auf Platz 1 der literarischen Rangliste gewählt. Andere Rezensenten forderten in ihrer Begeisterung das Publikum auf, sich das vermeintlich Unvorstellbare doch einmal auszudenken: Im Zentrum des fehlenden deutschen Gegenwartsromans stünde „Hitler als düstere Witzfigur, aber verdienstvoll, weil er ja auch Autobahnen gebaut hat“ (Neue Zürcher Zeitung) und das ganze „verknüpft mit einem brillant, witzig und warmherzig erzählten Generationenroman“ (Süddeutsche Zeitung). Der Autor müsste kein weltberühmter Nobelpreisträger sein, der endlich erzählte, was erzählt werden muss, sondern einfach ein „Paradiesvogel“ – einer wie Antonio Pennacchi.

Der 62-jährige Pennacchi war dreißig Jahre lang Fabrikarbeiter, nutze dann eine längere Periode erzwungener Arbeitslosigkeit zum Literaturstudium und ist nun seit einigen Jahren als Journalist und Autor erfolgreich. In „Canale Mussolini“ lässt Pennacchi einen Nachkommen der Bauernfamilie Peruzzi aus dem Familiengedächtnis die faschistische Vergangenheit Italiens erzählen. Als Pachtbauern in Venetien fristen die Peruzzi ein beschwerliches, karges Dasein. Anfänglich sozialistisch gestimmt, sympathisieren sie früh mit der faschistischen Bewegung. Die Verehrung für den ehemaligen Genossen Benito Mussolini wird zum festen Treuebund, als die Großfamilie nach der Trockenlegung der Pontinischen Sümpfe 1931 in das südliche Latium umsiedeln darf und zwei neu angelegte Höfe zugesprochen bekommt. Aus Dankbarkeit und Überzeugung sind die Peruzzi nun endgültig „hundertprozentige Faschisten“. In festem Glauben an den imperialen Traum ziehen ihre Söhne in den Abessinienkrieg, später kämpfen schon die ersten Enkel für den hochverehrten Duce an allen Fronten des Zweiten Weltkriegs. Die Daheimgebliebenen versuchen dagegen bis zuletzt gemeinsam mit den deutschen Besatzern den Vormarsch der angloamerikanischen Alliierten aufzuhalten.

Die Urbarmachung von brachliegenden landwirtschaftlichen Gebieten gehörte zu den großen Propagandakampagnen des Faschismus. Insbesondere die Entsumpfung der Pontinischen Ebene südlich von Rom wurde zu einem Prestigeprojekt. Jahrhunderte lang war der Versuch, das malariaverseuchte Gebiet zwischen der Mittelmeerküste und den Lepinischen Bergen dauerhaft bewohnbar und landwirtschaftlich nutzbar zu machen, gescheitert. Anfang der Dreißigerjahre beauftragte Mussolini den Nationalen Frontkämpferverband (ONC) mit der Organisation zum Bau eines Kanalsystems und zur Gründung neuer faschistischer Vorzeigestädte wie Littoria und Sabaudia. Vor allem aber sorgte die ONC für die Verteilung von freien Ländereien an die ehemaligen Weltkriegsveteranen. Mehr als dreißigtausend Familien zogen damals aus Norditalien in das neu erschlossene Anbaugebiet des Agro Pontino. Für Pennacchis Erzähler ist Mussolini deshalb ein linker Revolutionär „und die ONC war die ?rote Garde` dieser Revolution, ein bisschen faschokommunistisch.“ Mussolini habe das rote gegen das schwarze Hemd getauscht, um sein „linkes Programm“ durchzusetzen. „Den Reichen den Grund wegnehmen und ihn den Armen geben – lesen Sie das nur nach in den heiligen Schriften von Marx, Lenin und Mao Tse-tung -, das ist nichts, was üblicherweise die Rechte macht.“

In der Süddeutschen Zeitung bekommt man Skrupel: „Darf man auf solche Weise vom Keim des Faschismus erzählen? Bedeutet diese Perspektive eine nachträgliche Verharmlosung?“ Der Rezensent der Neuen Züricher Zeitung wischt solche Fragen mit einem flotten Eingangssatz beiseite: „Entwarnung sei gleich zu Beginn gegeben: Eine ?Aufwertung des Faschismus in Italien` betreibt der Roman ?Canale Mussolini` nicht.“

Tatsächlich ist der Erzähler, der seine Identität erst auf der letzten Seite offenbart, kein Nostalgiker. Pennacchi betreibt keine triviale Apologie des Faschismus. Er fingiert einen filò, eine mündliche Erzählung, die zur bäuerlichen Tradition Venetiens gehört. In diesem Erzählmonolog vermengen sich historische und familiäre „Tatsachen“. Der Erzähler plaudert, verfestigt durch Wiederholungen bestimmte Bilder, manchmal reflektiert er aber auch die Gefahr der intergenerationellen Überlieferung. Er gibt zu, dass er die Anekdoten nur vom Hörensagen kennt, dass sie Übertreibungen enthalten. Andererseits kann niemand ernsthaft an der Aufrichtigkeit der Familienangehörigen zweifeln. Das Kollektivgedächtnis des Agro Pontino, der Pontinischen Ebene, ist unantastbar, „einen Gründungsmythos untersucht man nicht auf seinen Wahrheitsgehalt.“

„Einen Gründungsmythos untersucht man nicht auf seinen Wahrheitsgehalt.“

Selten nur lässt sich der Erzähler durch Einwände unterbrechen: „Wie bitte, was sagen Sie? Dass das so nicht in den Geschichtsbüchern steht? Ah, das weiß ich auch, dass das so nicht geschrieben steht, aber was kann ich da machen?“ Er lässt den Zweifel gelten, nur um sich umgehend auf eine höhere Instanz zu berufen: „Ich – damit das klar ist – habe nicht den Anspruch, Ihnen hier die geoffenbarte Wahrheit zu erzählen, die absolute und vollkommene Wahrheit, die nur Gott allein kennt.“ Die Wissenschaft von der Geschichte ist reine Ansichtssache, das entscheidende Urteil fällt erst am Tag des Jüngsten Gerichts.

Pennacchi ist mit „Canale Mussolini“ kein großer Roman gelungen, wohl aber ein großartiges Dokument des zeitgenössischen italienischen Revisionismus. Diesem geht es nicht um eine Leugnung der faschistischen Verbrechen, sondern um eine pseudowissenschaftliche, emotionale Umdeutung der ehemals hegemonialen Nachkriegserzählung vom antifaschistischen Italien. Durch die Kolportage von Meinungen und Erinnerungen werden die „Scheußlichkeiten“ des Regimes bagatellisiert und gegen die vermeintlichen sozialen Errungenschaften aufgerechnet. „Sie sollten doch versuchen – mahnt der Erzähler sein Publikum – sich in unsere Lage zu versetzen.“ Dieses wiederholt beschworene „Wir“ bezieht sich auf all diejenigen, die wie die Peruzzi überzeugte Faschisten waren und nach dem Krieg entweder, wie viele Bewohner des Agro Pontino, der neofaschistischen Nachfolgepartei MSI beitraten oder aus Opportunismus bei den neu entstandenen Volksparteien untertauchten. Nicht den „einfachen Leuten“, sondern diesen ganz gewöhnlichen italienischen Faschisten hat Pennacchi ein „literarisches Denkmal“ (ORF) gesetzt. Dabei bewegt sich der Autor nie „jenseits der üblichen Wahrnehmungsmuster“ (Deutschlandradio), sein Erzähler folgt vielmehr stets dem üblichen revisionistischen Erzählschema.

Der Duce ist kein gewalttätiger Diktator, sondern das treusorgende Oberhaupt der faschistischen Gemeinschaft. Propagandabilder des Regimes, auf denen Mussolini in der Pontinischen Ebene bei der Weizenernte zu sehen ist, klebt der Erzähler als Erinnerungsfotos ins Familienalbum: Die Frau im geblümten Kleid, die dem Duce die Ähren hinhält, ist die Tante des Erzählers. Der Mann, der auf dem Traktor sitzt, mit dem Mussolini eben noch die Ackerfurche gezogen hat, ist sein Lieblingsonkel. Mit der Behauptung, die Judenverfolgung habe begonnen, „weil der Unsrige sich mit Händen und Füßen – mit Leib und Seele, Geist und Seele – an seinen neuen germanischen Verbündeten gekettet hatte“, wird nicht nur eine längst widerlegte Legende propagiert, es wird auch weiterhin jede Auseinandersetzung mit dem italienischen Antisemitismus abgewehrt. Der ORF-Rezensent kommt prompt zu der Ansicht: „Die Tatsache, dass seine [Pennacchis] Protagonisten in ?Canale Mussolini` überzeugte Faschisten sind, ohne zu Antisemiten zu werden, macht sie, jedenfalls für einen vorurteilslosen Leser, in keiner Weise unsympathisch.“

Damit ist die Identifikation des vorurteilslosen Rezensenten mit der Peruzzi-Sippe vollzogen. Die Gräuel des Kolonialkrieges sind aus dieser Perspektive zwar bedauerlich, werden aber weiterhin gerechtfertigt, schließlich wollte man bei den Afrikanern die Zivilisation einführen. „Wie bitte, was sagen Sie? Dass Sie diese Argumentation nicht wirklich überzeugend finden? Keine Frage, ich ja auch nicht, wenn es darum geht. Aber Sie gestatten doch: Die Idee, um jeden Preis – mit Panzern oder Raumschiffen – die Demokratie in den Irak, nach Afghanistan oder auf die Planeten des Orion zu bringen, kommt mir auch nicht viel sinnvoller vor.“ Die Verharmlosung des Faschismus mittels Vergleich ist eines der beliebtesten Stilmittel des Erzählers, wobei insbesondere an diesen Stellen
der Originalton des Autors herauszuhören ist.

Pennacchis Bücher sind alle autobiographisch geprägt und müssen nach Auskunft des Autors als Vorarbeiten für „Canale Mussolini“ verstanden werden. Tatsächlich verbinden sich in diesem Roman seine beiden großen Lebensthemen: die Aufhebung der Unterscheidung zwischen rechts und links in der Politik und die Erinnerung an die faschistischen Neugründungen. Mehr als einhundert „Städte des Duce“ hat Pennacchi in den vergangenen Jahren bereist und viele davon in einer Serie von Zeitschriftenartikeln vorgestellt. In dem Roman „Der Faschokommunist“ hat er seine politisch bewegte Jugend in Latina, dem einstigen Littoria, literarisch aufgearbeitet und damit einen ersten Bestsellererfolg gelandet. Für „Canale Mussolini“ wurde Pennacchi 2010 mit dem Premio Strega, dem höchsten italienischen Literaturpreis ausgezeichnet. Der Autor ist Mitglied der Demokratischen Partei und gern gesehener Gast bei den selbsternannten „Faschisten des 3. Jahrtausends“ in der Casa Pound von Latina. Dass er von beiden poltischen Lagern hofiert wird, ist kein Beweis für seine politische Theorie, vielmehr zeigt sich darin, dass die revisionistische Umdeutung der Vergangenheit nach zwanzig Jahren der Vorherrschaft rechter Regierungsbündnisse auf einen breiten gesellschaftlichen Konsens trifft. In Italien ist die Aufwertung des Faschismus kein Skandal mehr, im deutschsprachigen Feuilleton wurde sie in diesem Frühjahr als literarisches Ereignis gefeiert.

Antonio Pennacchi – Canale Mussolini. Aus dem Italienischen von Barbara Kleiner. Hanser Verlag, 448 Seiten.


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