Paul Auster zeichnet in seinem neuen Roman „Sunset Park“ ein düsteres Bild von den USA – mit einem Körnchen Hoffnung und einem neuen Schreibstil.
„Im Land der letzten Dinge“ heißt ein Roman, den Paul Auster vor einem Vierteljahrhundert geschrieben hat. Um die letzten Dinge kümmert sich auch Miles Heller, eine der Personen in seinem neuesten Roman. Der 28-jährige College-Abbrecher Miles arbeitet in Miami für eine Firma, die auf Entrümpelungen spezialisiert ist. Das Geschäft boomt nach dem Immobiliendesaster, das im Jahr 2008 am Anfang der Finanz- und Wirtschaftskrise stand, bevor diese nach der Lehman-Brothers-Pleite vielen Amerikanern den Job, das Geld, die Existenz raubte. Und nicht zuletzt jenen unerschütterlichen Optimismus, der das Land einst auszeichnete.
Keine Pläne haben, nichts erhoffen, das kann nur ein Abgesang auf die Zukunft Amerikas sein.
Doch von Barack Obamas verheißungsvollen Worten „Yes, we can“ ist nur ein müdes Wispern geblieben. Was von Amerikas Hoffnung übrig bleibt, wird gefleddert. Miles` Kollegen lassen bei der Räumung der Häuser alles mitgehen, was sie brauchen können. Er hingegen fotografiert die unzähligen „aufgegebenen Dinge“: Schuhe und Ölgemälde, Klaviere und Toaster, Puppen und Geschirr, Fernseher und Tennisschläger, Plastikmonster und Briefmarkensammlungen. Miles hat seine eigenen Bedürfnisse auf ein Minimum reduziert. Das einzige, was ihn interessiert sind Bücher, denn „Lesen ist eine Sucht, von der er keinesfalls geheilt werden möchte“. Literatur als letzter Ausweg? Und das ausgerechnet in den nach den Worten des Autors leseunfreundlichen USA in einer Zeit, in der Zeitungen und Bücher Auslaufmedien einer vergangenen Epoche sind. Auster scheint wirklich solche Menschen zu kennen, wie sie in François Truffauts Bradbury-Verfilmung Bücher auswendig lernen, um ihre Inhalte zu retten.
Über ein Buch lernt Miles jedenfalls auch seine Liebe kennen, die Siebzehnjährige Pilar. Sie liest in einem Park „Der Große Gatsby“ von Francis Scott Fitzgerald. Weil Pilar, die ihre Eltern bei einem Autounfall verloren hat, minderjährig ist und mit ihm zusammenlebt, wird Miles von ihrer Schwester erpresst. Diese droht ihm mit der Polizei. Miles muss aus Florida verschwinden und kehrt in seine Heimatstadt New York zurück. Dort findet er Unterschlupf bei seinem alten Kumpel Bing Nathan, der ein verlassenes Haus im Bezirk Sunset Park in Brooklyn besetzt hat und dort zusammen mit zwei jungen Frauen lebt: der Doktorandin Alice Bergstrom, die an ihrer Dissertation über Geschlechterverhältnisse in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg schreibt, und der depressiven Ellen Brice, die für eine Immobilienagentur arbeitet und sich als Zeichnerin versucht. Die jungen Leute leben in ziemlich prekären Verhältnissen von der Hand in den Mund. Wie Miles kümmert sich auch Bing um alte Gegenstände. In seiner „Klinik für kaputte Dinge“ repariert er vor allem alte Schreibmaschinen.
Wurde „Freiheit“ von Jonathan Frantzen noch als ein großer Familienroman konzipiert, so ist „Sunset Park“ nicht zuletzt eine Bankrotterklärung der familiären Werte Amerikas. Denn diese liegen ebenso in Trümmern wie die Existenzen der unzähligen Krisenverlierer. Das gilt auch für Miles Heller: Den Kontakt zu seinen geschiedenen Eltern, seinem Vater, einem Verleger, und seiner Mutter, einer Filmschauspielerin, hat er vor sieben Jahren abgebrochen, weil er sich am Unfalltod seines Bruders schuldig fühlte. Immer wieder kommt der Film „Die besten Jahre unseres Lebens“ von William Wyler vor, der von drei US-Soldaten handelt, die aus dem Zweiten Weltkrieg zurückkehren. Eine ähnliche Bedeutung hat in der Handlung Samuel Becketts Theaterstück „Glückliche Tage“, in dem Miles Hellers Mutter eine Rolle hat.
Der Traum vom Tellerwäscher zum Millionär ist für viele Amerikaner in weite Ferne gerückt. Sie fristen in Trailer-Parks ein tristes Dasein. Die Figuren in Austers Roman sind alles andere als Aufsteiger. Sie bewegen sich in entgegengesetzter Richtung: Sie sind gebildet, haben aber schlechte Jobs oder gar keinen. Das Haus, in dem Miles und Co. wohnen, ist eine Bruchbude und kein trautes Eigenheim. Die Hoffnung ist zerstoben, was bleibt, und so lautet der Vorsatz von Miles, ist die Devise, „nur noch für das Jetzt zu leben, für diesen Augenblick, für diesen flüchtigen Augenblick“. Keine Pläne haben, nichts erhoffen, das kann nur ein Abgesang auf die Zukunft Amerikas sein.
Was auffällt, ist Austers Verzicht auf die sonst üblichen erzählerischen Labyrinthe, das Versteckspiel und die Verschmelzungen von Realität und Fiktion, die die meisten seiner Bücher prägten. In „Sunset Park“ schreibt er zwar wie bisher schlicht und sparsam. Allerdings steht nicht die Handlung im Vordergrund, sondern die Zeichnung der Figuren. Mit jedem Kapitel wechselt er die Perspektive. Jede Figur wird aus einem anderen Blickwinkel betrachtet, zergliedert in einzelne Mosaiksteine. Auster nimmt die Rolle des Erzählers dabei deutlich zurück.
Ein Hoffnungsschimmer bleibt jedoch: Die Personen in „Sunset Park“ sind Gestrandete auf der Suche nach dem letzten Rest von Glück. Wie in Becketts „Glückliche Tage“ befindet sich die Welt um sie herum in Auflösung, gegen die sie ihre moralische Integrität zu verteidigen versuchen. Doch obwohl Auster hart mit seinem Land ins Gericht geht, setzt er zugleich auf die Stärke der einzelnen Personen. Bei ihnen ist jener Heroismus zu finden, der Amerika lange Zeit so unerschütterlich scheinen ließ.
Paul Auster – Sunset Park. Roman.
Aus dem Englischen von Werner Schmitz. Rowohlt Verlag, 320 Seiten.