ARBEIT MACHT KRANK: Totenkorb ohne Milch

Mario Desiati erzählt die Geschichte der italienischen Arbeitsmigration aus der Perspektive der Nachkommen. Sie handelt von skrupelloser Ausbeutung – und ist trotz des historisierenden Blicks erschütternd aktuell. Ein Treffen mit dem Autor.

Mimi ist vierzehn Jahre alt, als ihr Vater die Emigration in die Schweiz ankündigt. In der Nähe von Zürich will er in einer der größten Eternitfabriken Europas Arbeit finden. Der Name Eternit steht für eine patentierte Mischung aus Zement und Asbestfasern. Während des Wirtschaftsbooms der Nachkriegsjahre wird der Asbestzement zu einem der wichtigsten Baustoffe. Asbest gilt als „Wunderfaser“, denn das Material ist vielseitig verwendbar, beständig und billig. „In jeder Abteilung gab es eine andere Sorte Asbest, jeder Arbeiter sah sich seinem eigenen Freund-Feind gegenüber.“ Längst ist die gesundheitsschädliche Wirkung der Staubpartikel bekannt. Am gefährlichsten ist der Blauasbest. „Ihn hatten alle in dieser Halle wenigstens einen Augenblick lang eingeatmet und sich vom Arbeitskittel geklopft.“ Auch die Frauen und Kinder atmen den Giftstaub ein, den die Arbeiter täglich in die stillgelegte Glasfabrik tragen, die ihren Familien als dauerhaft provisorische Unterkunft zugewiesen wird. Er dringt durch jede Ritze der dünnen Asbestplatten, die als Trennwände dienen, legt sich als feine Staubschicht über den Alltag.

Von den Folgen für die süditalienischen Gastarbeiter, die in den 1970er Jahren in der Eternitproduktion beschäftigt waren, erzählt Mario Desiatis Roman „Ternitti“. Das Dialektwort bezeichnet im Salento ein Dach. Aufgrund der Silbenähnlichkeit fungiert es auf der apulischen Halbinsel bald als Synonym für den Rohstoff Eternit und die daraus hergestellten wellenförmigen Dachplatten, auch die Eternitfabriken selbst und die darin Beschäftigten werden schließlich als Ternitti bezeichnet. Die Asbestzementproduktion ist ein Höllenkreis: Wer in ihn hineingezogen wird, entkommt ihm nicht mehr. Da die Mehrdeutigkeit des Wortes „ternitti“ nicht zu übersetzen ist, erschien die im Berliner Wagenbach Verlag von Annette Kopetzki besorgte deutsche Ausgabe unter dem Titel „Zementfasern“. Darin ist immerhin die Gefahr der diffus wachsenden Tumore angedeutet, die bei Menschen, die mit Asbest in Kontakt kommen, nach einer Latenzzeit von 35-40 Jahren auftreten.

Der besondere Krankheitsverlauf der Asbestose bestimmt auch den Erzählrhythmus des Romans. Nach dem ersten Kapitel, das Mimis Jugend in der Schweiz schildert, werden die Ereignisse der folgenden drei Jahrzehnte nur nebenbei angedeutet: Mimi ist mit ihren Eltern nach Apulien zurückgekehrt, sie hat keinen Kontakt mehr zu Ippazio, ihrer ersten großen Liebe. Das gemeinsame Kind kommt noch in Zürich zur Welt, dann kämpft sie sich in der süditalienischen Provinz als alleinerziehende Mutter durchs Leben. Inzwischen ist Tochter Arianna erwachsen und studiert in Rom Medizin. Im zweiten Kapitel setzt die Romanhandlung Mitte der Neunzigerjahre wieder ein, als sich die Krankheitssymptome manifestieren, Mimis Vater und mit ihm immer mehr ehemalige Fabrikarbeiter an Lungen- und Brustfellkrebs sterben. Desiati führt damit eindrücklich vor, wie lange einerseits die Latenzphase dauert und wie kurz gleichzeitig die Lebenszeit ist, die den Arbeitern bleibt.

Die Asbestose führt die Ternitti wieder zusammen, jede Familie hat den Tod eines Vaters, Bruders oder Onkels zu beklagen, von den älteren Männern überlebt keiner. Nach jeder Beerdigung packt Mimi eine „parmasia“, den traditionellen Korb mit Lebensmitteln für die Hinterbliebenen. „Wer an der Ternitti gestorben war, bekam eine spezielle Behandlung, der Totenkorb durfte keine Milch enthalten.“ Davon hatten die Arbeiter in ihrer Jugend schon genug getrunken, weil die Vorarbeiter behauptet hatten, die Milch helfe den Schleim, der sich in den Bronchien festsetzte, abzuhusten. Durch das Ritual, keine Milch in den Korb zu legen, scheint dieser eher für die Toten als für die Hinterbliebenen bestimmt. „Und der Tod verwandelt sich in eine Reise, sei sie nun kurz oder lang, doch so angenehm wie möglich.“

Wie die meisten Bücher der jüngeren italienischen Autorengeneration ist auch Desiatis Buch autobiographisch geprägt.

Auf seiner Lesereise durch Deutschland trifft Mario Desiati auf ein Publikum, das eigene Geschichten von verwandten oder befreundeten Asbestgeschädigten erzählen kann und die rassistische Ausgrenzung, die den „Südländern“ bei ihrer Ankunft im Norden entgegenschlug, selbst erfahren hat. Doch „Zementfasern“ ist kein typischer Roman über die Arbeitsmigration der Sechziger- und Siebzigerjahre. Der Zeitsprung zwischen dem ersten und zweiten Kapitel macht deutlich, dass die Emigration eher aus der Perspektive der Nachkommen erzählt wird. Die Erfahrung der Großeltern wird bereits historisiert. „Das Fest des Emigranten war eine bunte Mischung aus Traditionen, wachgerufenen Erinnerungen und Inszenierungen zur Belebung des Tourismus.“

Andererseits werden die Feste ausgerechnet von der Generation organisiert, die selbst schon wieder abwandert. Immer mehr Dreißig- und Vierzigjährige verlassen nach ihrem Hochschulabschluss Süditalien in der Hoffnung auf wenigstens einen prekären Job in einer der Metropolen Europas. Auch Mario Desiati, der 1977 geboren wurde, gehört zu diesen Jahrgängen. Er arbeitet als Lektor für das Verlagshaus Fandango in Rom. „Mein früheres Buch ?Klassenfoto` handelt von der Emigrationswelle meiner Altersgenossen“, erzählt er nach seiner Lesung in der Stuttgarter Stadtbücherei, „in den letzten fünfzehn Jahren gab es einen richtigen Emigrationsboom. 2007 war die Zahl der Abwanderung aus dem Süden genauso hoch wie 1961“. Doch anderes als viele seiner älteren Zuhörer, die als ungelernte Arbeiter in die industrielle Ballungszone Stuttgart emigrierten und, ähnlich wie viele ihrer Altersgenossen in Luxemburg, am Zielort ihrer Emigration ansässig wurden, sich mit ihren Familien den ehemalgien Heimatorten allmählich entfremdeten, kehren die hochqualifizierten Prekären regelmäßig in ihre süditalienischen Dörfer zurück. „Ich kenne Leute“, witzelt Desiati, „die nie den Friseur gewechselt haben.“

Die liebevolle Zuneigung, mit der der Autor den Salento beschreibt, lässt jedoch erahnen, dass auch er vor jeder neuerlichen Abreise ein paar Zitronen in feuchte Tücher einschlägt, weil ihm genau wie Arianna in der Ferne das Zitronenbäumchen vorm Fenster am meisten fehlt. Die jüngere Generation hat sich von den stereotypen Zuschreibungen eines armen, rückständigen, patriarchalen „Mezzogiorno“, der von einem reichen, fortschrittlichen und emanzipierten Norden alimentiert werden muss, befreit.

Dagegen entwirft Desiati das nostalgische Traumbild eines Südens von erhabener Schönheit, animistischer Naturverbundenheit und barocken Lebensformen. Die religiösen Feste, die den Jahresablauf bestimmen, werden nicht von der katholischen Kirchenorthodoxie geprägt, sie sind von heidnisch-archaischer Ausdruckskraft. Sie gelten byzantinischen Heiligenfiguren, die vor Urzeiten zu lokalen Schutzpatronen ernannt wurden. Ihnen zu Ehren werden bunte Lichterfeste inszeniert und spektakuläre Feuerwerke gezündet. Auch sie sind längst zu einer von der Tourismusindustrie gesponserten Attraktion geworden. Im Gespräch versucht Desiati Glauben zu machen, das levantinische Erbe und der Kult um die aus Kleinasien stammenden Heiligen führten zu einer besonderen Offenheit der apulischen Gesellschaft.

Alle Protagonisten des Romans sind nach bekannten Heiligen benannt. „Ich bin fest davon überzeugt“, gesteht Desiati, „dass die Menschen sich der Figur annähern, deren Namen sie tragen.“ Für seine Hauptperson Mimi, die den Taufnamen Domenica trägt, mag das gelten. Die heilige Domenica war eine Märtyrerin, der die Flammen des Scheiterhaufens, auf dem sie verbrannt werden sollte, nichts anhaben konnten und vor der die Löwen, denen sie daraufhin ausgeliefert wurde, zurückwichen. Mimi gilt als „Verrückte“. Sie ist eine Frau, „über die geredet wurde“, weil sie sich in jungen Jahren hat schwängern lassen, auch später nicht heiratet, weiter „mit ständig wechselnden Männern“ ausgeht. Mimi weiß sich zu behaupten, sie lebt ihr Begehren offen aus, verteidigt ihre Freiheit. Aber sie wird dabei von keiner überirdischen Kraft beseelt, „ihre ganz persönlichen weltlichen Gebete, ihre eingebildeten Leben“ bezeugen nur, dass ohne Illusionen und Phantastereien die Akkordarbeit in der Textilfabrik und das Leid einer vom Asbesttod gezeichneten Gemeinschaft nicht auszuhalten wären.

Für Mimis große Liebe Ippazio trifft Desiatis These über die Namen nicht zu. Der gleichnamige Heilige ist der Schutzpatron der Manneskraft. Ippazio aber ist schwach, er konterkariert genau wie alle anderen Männerfiguren des Romans das Bild des virilen, verführerischen „latin lover“. Die Väter werden von der Asbestose hingerafft, die Söhne flüchten vor Kummer und Langeweile in die Drogensucht. In der Sozialisation der nachkommenden Generation spielen Männer somit kaum eine Rolle, weil sie entweder abwesend oder krank sind. Prägend wirkt dagegen die Erfahrung weiblicher Genealogie: Mit Rosanna, Mimi und Arianna stellt der Autor drei starke Frauen vor. Darauf angesprochen, nickt Desiati. Nach der Veröffentlichung hätten ihn einige seiner römischen Freunde gefragt, ob er ein Problem mit seiner Männlichkeit habe, sie seien von den dargestellten Geschlechterrollen irritiert gewesen. Er selbst hätte beim Schreiben nicht darüber nachgedacht. „Ich habe als Jugendlicher in Apulien mehrere Frauen gekannt, die allein gelebt haben, manche von ihnen waren Mimi sehr ähnlich. In vielen Familien fehlte damals der Vater.“

Wie die meisten Bücher der jüngeren italienischen Autorengeneration ist auch Desiatis Buch autobiographisch geprägt. Es ist außerdem von auffällig episodischem Charakter, einige der kurzen Szenen, die er wie Filmbilder aneinanderreiht, ähneln soziologischen Skizzen. Dazu passt, dass der Autor seinen Roman am Ende datiert, wie es sonst allenfalls bei wissenschaftlichen Vorbemerkungen üblich ist. Der Roman „Zementfasern“ ist tatsächlich ein literarisches Zeitdokument. Nur zwei Jahre nach seinem Erscheinen in Italien ist die Fortsetzung in aktuellen Presseberichten nachzulesen:

Inzwischen sterben nicht nur die Ehefrauen und Töchter der zurückgekehrten Emigranten, weil einst in jedem Haus ein Kittel voller Asbestfasern hing, „die sich in den Lungen der Frauen eingenistet hatten, wenn sie in den Bottichen mit Wasser und Wäscheseife gerührt hatten.“ Die Fabriken, die im Rahmen einer vermeintlich nachholenden Modernisierung im „Mezzogiorno“ errichtet wurden, sind ebenso umwelt- und gesundheitsschädlich wie einst die Schweizer Eternitfabrik. Im August ordnete die Staatsanwaltschaft in Tarent die Stilllegung der Hochöfen der städtischen Ilva-Werke an. Richterliche Gutachten haben ergeben, dass die Schadstoffemissionen des Stahlwerks die zulässigen Grenzwerte seit Jahren überschreiten und politische Auflagen wiederholt unterlaufen wurden. Laut einer im Oktober veröffentlichten Studie des Gesundheitsministeriums liegt die Rate von Tumorerkrankungen in der apulischen Hafenstadt um 30 Prozent höher als im Rest der Provinz, die Säuglingssterblichkeit hat erkennbar zugenommen. Und doch ist die Stadt gespalten, es gibt Demonstrationen für und gegen die Schließung des Werks. „Ich hab nicht den Mut gehabt aufzuhören und hab Milch getrunken. Weil sie uns sagten, wir müssen viel Milch trinken, um nicht krank zu werden. Da sieht du“, sagt ein alter Arbeitskollege von Mimis Vater auf seinem Sterbebett, „was aus mir geworden ist, jetzt bin ich hier. Das Ende eines Idioten. Nur Idioten wussten es nicht, wollten es nicht wissen.“ Im Roman organisieren sich die Hinterbliebenen der Ternitti und verklagen die Eternitkonzerne auf Entschädigung. In Tarent sieht sich die Bevölkerung dagegen vor der dramatischen Alternative Hunger oder Gift. Als wir uns vor der Stadtbücherei verabschieden, sagt Desiati leise, im Sommer habe ihm ein Stahlarbeiter ins Gesicht gebrüllt: „Ich sterbe lieber in zehn Jahren an Krebs, anstatt in einem Monat an Hunger.“

Mario Desiati – Zementfasern. Aus dem Italienischen von Annette Kopetzki. Verlag Klaus Wagenbach, 288 Seiten.


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