TUNESIEN: Auf in die nächste Runde

Eine Machtprobe zwischen der tunesischen Übergangsregierung und ihrer Opposition konnte Mitte Dezember gerade noch verhindert werden. Doch der Konflikt schwelt weiter, denn die Gründe für die gesellschaftliche Unzufriedenheit haben sich auch nach Ben Alis Herrschaft nur wenig geändert. Zum Jahrestag von dessen Sturz könnte die Situation erneut eskalieren.

Schlechte Stimmung: Sidi Bouzid am zweiten Jahrestag der Selbstverbrennung des Straßenhändlers Mohammed Bouazizi. Nach dem 17. Dezember 2010 hatte die Revolution in Tunesien eine Dynamik entfaltet, die schließlich zum Sturz des diktatorisch regierenden Präsidenten Ben Ali geführt hatte.

Pfiffe, Buhrufe, Steinwürfe: Es war ein verpatztes Fest für die regierende Troika. In Sidi Bouzid, der Stadt mit 40.000 Einwohnern im vernachlässigten Zentrum Tunesiens, fand am Montag die Eröffnung des „Internationalen Festivals der Revolution des 17. Dezember“ statt. Auf dem Platz vor der Präfektur, wo sich der Straßenhändler Mohammed Bouazizi am 17. Dezember 2010 selbst verbrannt hatte, war eine Bühne aufgebaut, ebenso aber Zelte des oppositionellen linken Front Populaire, ein Zusammenschluss linker Parteien, der laut Umfragen bei Wahlen auf dem dritten Platz landen würde, und der marginalen salafistischen Partei Ettahrir.

Der Übergangspräsident Moncef Marzouki und Mustapha Ben Jaafar, der Präsident der Nationalen Verfassungsgebenden Versammlung (ANC), waren nach Sidi Bouzid gepilgert, um staatstragende Reden vor einigen tausend skeptischen Bewohnern der Stadt zu halten. „Die Regierung hat keinen Zauberstab, um die Verhältnisse zu ändern“, versuchte Marzouki inmitten eines Pfeifkonzerts von der Bühne aus zu argumentieren. „Man braucht Zeit, um die Hinterlassenschaft von 50 Jahren Diktatur zu überwinden.“ Als Ben Jafaar seine Ansprache begann, flogen die ersten Steine und Tomaten. Die Präsidentengarde evakuierte die beiden Redner von der Bühne, die daraufhin von Demonstranten mit Rufen wie „Das Volk will den Sturz der Regierung“ und dem berühmten „Dégage“ eingenommen wurde, zwei Parolen, die bereits vor zwei Jahren, damals noch gegen den autoritären Präsidenten Zine al-Abidine Ben Ali, skandiert worden waren.

Dass sich die Parolen gleichen, ist kein Zufall. Die Gründe für die gesellschaftliche Unzufriedenheit haben sich seit Ben Alis Sturz nicht geändert. Nach Angaben des tunesischen Industrieministeriums haben sich in den ersten elf Monaten von 2012 im Vergleich mit dem entsprechenden Vorjahreszeitraum die Investitionen in der Region von Sidi Bouzid um 36 Prozent, das Angebot an Arbeitsstellen um mehr als 24 Prozent verringert. Mitte August paralysierte ein eintägiger Generalstreik Sidi Bouzid, zu dem der mächtige Gewerkschaftsverband UGTT aufgerufen hatte, um „das Recht auf Entwicklung“ für die arme Region zu reklamieren. Im Oktober ersetzte die Übergangsregierung nach regelmäßigen Demonstrationen den Gouverneur der Region Sidi Bouzid durch einen ehemaligen Funktionär aus der Zeit Ben Alis, dem als ausgebildetem Ökonomen offenbar besondere Kompetenzen zur Befriedung der Unruheregion unterstellt wurden. Weil Sidi Bouzid der Ausgangspunkt des Aufstands gegen Ben Ali und darüber hinaus des gesamten so genannten arabischen Frühlings war, haben diese Konflikte im „neuen Tunesien“ nach Ben Ali eine gewaltige symbolische Dimension.

Vielleicht ist das der Grund, warum bei dem vorhersehbaren festlichen Debakel in Sidi Bouzid einer der drei Chefs der Übergangsinstitutionen fehlte: Hamadi Jebali, der islamistische Chef der Übergangsregierung. Offiziell war er einer „plötzlichen Erkältung“ zum Opfer gefallen, die seinen Auftritt in Sidi Bouzid verhindert habe. Aber das wollte angesichts der sozialen Spannungen kaum jemand glauben. „Das beste Mittel gegen Steinwürfe ist eine Erkältung“, posteten Spaßvögel im Internet. Die Website „Kapitalis.com“, die jede Gelegenheit zur Kritik an der regierenden Troika nutzt, ätzte: „Marzouki und Ben Jafaar verheizt, Jebali bleibt im Bett.“

Unbestreitbar nehmen die Spannungen in der wackligen Übergangsregierung zu ? nicht zuletzt aufgrund des Drucks der sozialen Revolten. Die Troika besteht aus der dominierenden islamistischen Partei Ennahda, der Jebali angehört, dem nationalistisch-liberalen Kongress für die Republik (CPR) Marzoukis, sowie Ben Jafaars sozialdemokratischer Partei Ettakatol. Zumindest der CPR und Ennahda waren sich aber in der Verurteilung der Minirandale in Sidi Bouzid einig. Für Mohammed Abbou, Generalsekretär des CPR, steckten dahinter „Schattenagitatoren“. In einem Kommuniqué habe das örtliche Regionalbüro seiner Partei ein „Gelegenheitsbündnis zwischen dem RCD (der 2011 aufgelösten Staatspartei Ben Alis, Anm. der Red.) und linksradikalen Anarchisten des Front Populaire“ für die Randale verantwortlich gemacht, wie der Journalist Seif Soudani schreibt. Das Statement folge „einer Rhetorik, die die islamistische Partei mit der Revolution verknüpfen will, und folglich jede dissonante (oder: abweichende) Stimme mit der Konterrevolution“.

Der Ennahda nahestehende „Hofprediger“ Béchir Belhassen hatte eine Fatwa gegen den Generalstreik erlassen, den er als „Sünde“ bezeichnete.

Mitte vergangener Woche konnte eine möglicherweise existenzgefährdende Machtprobe für die von den Islamisten dominierte Übergangsregierung gerade noch vermieden werden: die Gewerkschaft UGTT hatte für den 13. Dezember mit einem Generalstreik gedroht. Den Anlass hierzu gaben schwere Zusammenstöße von Gewerkschaftern mit Anhängern von Ennahda. Zusammen mit dem Front Populaire hatte die UGTT von ihrem Sitz in Tunis aus am 4. Dezember eine Demonstration anlässlich des 60. Todestags von Farhad Hachet veranstalten wollen. Der Antikolonialist und Gründer der UGTT war 1952 von der französischen Terrororganisation „La Main Rouge“ ermordet worden.

Der Platz Mohammed Ali vor der Gewerkschaftszentrale jedoch füllte sich bereits anderthalb Stunden vor Beginn der geplanten Demonstration mit Hunderten Anhängern von Ennahda. Darunter auch Mitglieder der so genannten „Ligen zum Schutz der Revolution“, die von der Opposition als „Milizen Ennahdas“ bezeichnet werden. „Die Absicht ist offensichtlich“, schrieb der Journalist Soudani, der die Konfrontation miterlebte. Es gehe darum, „die gewerkschaftliche Hochburg zu überschwemmen, um einen Marsch, dieses Jahr im Ausmaß einer Demonstration, im Keim zu ersticken.“ Angesichts der feindlichen Menge kam der Ordnerdienst der UGTT mit Knüppeln aus dem Gewerkschaftsgebäude gelaufen und ging auf die Ennahda-Demonstranten los. Eine wilde Keilerei begann. Die Übermacht ihrer Gegner zwang die Gewerkschafter zurück ins Gebäude, das am Ende fast gestürmt worden wäre. Es gab ein Dutzend Verletzte, unter ihnen drei Funktionäre der UGTT.

In dem nachfolgenden Propagandakrieg beschuldigte Rachid Ghannouchi, der Vorsitzende von Ennahda, die UGTT, in ihren Sitzen Knüppel und Waffen anzuhäufen, was einer Drohung mit Hausdurchsuchungen gleichkam. Der Generalsekretär der UGTT, Houcine Abassi, entgegnete: „Sie wollen die Konfrontation, sie werden sie bekommen!“ Man habe „Farhat Hached ein zweites Mal ermordet“. Das Führungsgremium der UGTT rief daraufhin zum landesweiten Generalstreik für den 13. Dezember auf und forderte die Übergangsregierung auf, die „Ligen zum Schutz der Revolution“ aufzulösen und die Verantwortlichen für die Zusammenstöße vor der Gewerkschaftszentrale in Tunis vor Gericht zu bringen. Nach einer achtstündigen Marathondiskussion zwischen UGTT-Funktionären und Mitgliedern der Regierung sagte die UGTT-Führung den Streik am Mittwoch voriger Woche in letzter Sekunde ab.

In der Geschichte der UGTT war bislang nur ein einziges Mal ein landesweiter Generalstreik organisiert worden: Im Januar 1978 eskalierte der Konflikt der UGTT mit der damaligen Staatspartei Neo-Destour unter dem Staatsgründer Habib Bourguiba. Am Tag des Generalstreiks, dem „schwarzen Donnerstag“, erschoss die Armee mehr als 100 Menschen, über 1.500 Verhaftungen folgten, die Führung der UGTT landete im Gefängnis. Gegen das Regime Ben Alis beschränkte sich die UGTT am 14. Januar 2011, dem Tag seiner Flucht, auf eine zweistündige Arbeitsniederlegung, wenngleich sie durch Unterstützung der rebellierenden Jugendlichen im Landesinnern und regionale Generalstreiks zu seinem Sturz entscheidend beigetragen hatte.

Doch auch ohne den abgesagten Generalstreik war die Dynamik des Protests als Reaktion auf die Straßenschlacht vom 4. Dezember enorm: Etwa 60 oppositionelle Abgeordnete der Verfassungsgebenden Versammlung boykottierten drei Tage lang deren Sitzungen. Dem Journalisten Seif Soudani zufolge demonstrierten in Sfax in der vorvergangenen Woche 40.000 bis 60.000 Menschen für die UGTT. Eine Demonstration für Ennahda brachte dort gerade einmal 10.000 bis 12.000 Menschen auf die Straße. Der Ennahda nahestehende „Hofprediger“ Béchir Belhassen hatte eine Fatwa gegen den Generalstreik erlassen, den er als „Sünde“ bezeichnete. Mohammed Abbou, der Generalsekretär des CPR, sagte am Wochenende darauf, die Auflösung der „Ligen“ würde eine Verletzung der Menschenrechte und des Gesetzes darstellen.

Der CPR und Ennahda stehen seit langem im Zentrum der Differenzen mit der UGTT. Diese hatte Mitte Oktober zu einem Kongress des nationalen Dialogs aufgerufen, als klar wurde, dass die Verfassung nicht innerhalb der von zwölf Parteien ausgehandelten Frist von einem Jahr ab den Wahlen vom 23. Oktober 2011 fertiggestellt werden würde und Kritiker den Übergangsinstitutionen daraufhin einen Legitimationsverlust bescheinigten. Der CPR und Ennahda hatten diesen Kongress aber boykottiert.

Verschärft wurde die Situation durch einen mehrtägigen Generalstreik in Siliana im Landesinnern, unweit von Sidi Bouzid. Tausende hatten sich dort Ende November fünf Tage lang Auseinandersetzungen mit der Polizei geliefert, die mit Schrot auf Demonstrierende schoss; mindestens 250 Menschen erlitten Verletzungen. Bei diesem Streik ging es um Forderungen nach einer Verbesserung der sozialen Lage. Die Absetzung des von Ennahda ins Amt gebrachten Gouverneurs war ein weiteres Ziel; zumindest dieses konnte mittlerweile erreicht werden. Nun ist der Gouverneur der Industriestadt Sfax im Visier der Gewerkschafter. Sami Tahri, ein führendes Mitglied der UGTT, bewertete die Strategie von Ennahda gegenüber „Le Monde“ als einen Versuch, „als Partei und nicht als Regierung, alle Rädchen des Staats in die Hand zu bekommen, es ist ein – unsichtbarer – Parallelstaat, der nach und nach aufgebaut wird.“

Während die UGTT den Generalstreik vorbereitet hatte, waren die „Ligen zum Schutz der Revolution“ mit der Organisation von Gegendemonstrationen für den gleichen Tag in Tunis, Sfax und Gafsa beschäftigt. Die Verhandlungen zwischen der Regierung und der UGTT mit dem Ziel, den Generalstreik in letzter Minute abzuwenden, führten zu einem vorläufigen Waffenstillstand.

Dessen prekärer Status könnte sich schon Mitte Januar erweisen: Die „Ligen zum Schutz der Revolution“ kündigten triumphierend an, zum zweiten Jahrestag der Flucht Ben Alis in Tunis und Sfax öffentliche Plätze zu besetzen. Dann dürfte eine neue Runde im Konflikt zwischen Islamisten und Opposition darüber anstehen, wer die Revolution für sich reklamieren kann – und unter welchen Vorzeichen.

Bernd Beier ist Chef vom Dienst der in Berlin erscheinenden Wochenzeitung „Jungle World“, mit der die woxx seit vielen Jahren kooperiert. Seit Beginn der „Arabellion“ war Beier in Libyen, Ägypten und mehrmals in Tunesien auf Recherchereise unterwegs.


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