ERINNERUNG: Zu Staub werden

Mehr als drei Jahrzehnte nach der Gewaltherrschaft der Roten Khmer beschäftig sich Kambodscha noch immer nur zögerlich mit seiner blutigen Vergangenheit. Nur wenige Täter wurden vor Gericht gestellt und verurteilt. In dem Buch „Auslöschung“ interviewt der Filmregisseur Rithy Panh einen der Massenmörder.

Die Opfer der Roten Khmer sollten nicht nur ermordet, sondern sämtliche Spuren ihres Daseins ausgelöscht werden: Registraturfotos aus dem Tuol Sleng Gefängnis, das unter dem Kürzel „S21“ schreckliche Berühmtheit erlangte.

„Viele Kinder wissen heute nur, dass ihre Großeltern unter den Roten Khmer gestorben sind, aber sie wissen nicht warum. Wenn sie das wissen, kann es vielleicht einen inneren Frieden geben – für sie und ihre Eltern.“ Einen inneren Frieden hat es für den, der diese Worte geschrieben hat, lange nicht gegeben. Es ist der kambodschanische Filmemacher Rithy Panh. Als Dokumentarfilmer setzte sich der heute 49-jährige mehrfach mit der Vergangenheit seines Landes auseinander, unter anderem mit „S21: Die Todesmaschine der Roten Khmer“ (2003) und „Duch – Der Schmiedemeister der Hölle“ (2011). Vor zwei Jahren griff er das Thema in Form eines Buches auf. Vor kurzem ist „Auslöschung“ auf Deutsch erschienen.

Panh war elf Jahre alt, als die Roten Khmer 1975 in Phnom Penh einmarschierten. Seine Eltern und ein Großteil seiner Familie wurden in Arbeitslager aufs Land deportiert, wo sie Hunger, Krankheiten und dem Terror des Pol-Pot-Regimes ausgesetzt waren. Ihm selbst gelang nach dem Sturz des Regimes 1979 die Flucht über Thailand nach Frankreich. Er kehrte zwar 1990 in seine Heimat zurück, hat aber noch einen Wohnsitz in Paris. Dieses Jahr erhielt er für den Film „L’Image manquante“ den Hauptpreis der Reihe „Un Certain Regard“ bei den Filmfestspielen in Cannes.

Mit seinen Dokumentarfilmen hat Panh bereits dazu beigetragen, dass die Erinnerung an den Terror der Roten Khmer nicht verblasst. Der Schriftsteller Christophe Bataille, der als Lektor beim Pariser Verlag Grasset arbeitet, überredete ihn, ein Buch zu schreiben. Bataille stand ihm als Co-Autor bei „Auslöschung“ zur Seite.

Das Buch besteht aus zwei erzählerischen Ebenen. Eine davon bilden Panhs Erinnerungen an seine Kindheit. Diese ist von dem Verlust seiner Eltern geprägt. Sein Vater verhungerte, weil er sich dem Regime nicht beugte und die Nahrungsaufnahme verweigerte, seine Mutter kam kurz darauf ums Leben. Ihrem Sohn rief sie noch zu: „Du musst gehen, Rithy. Was auch passiert, du musst gehen.“ Seine Schwester und weitere Verwandte überlebten sie nur kurz. Auch sie wurden Opfer der Roten Khmer.

„Auslöschung“ handelt zum einen von der Entwurzelung und der Einsamkeit des Flüchtenden. Rithy Panh plagen Selbstmordgedanken und Schuldgefühle. Zum anderen schildert er, und dies ist die zweite Erzählebene, wie er nach seiner Rückkehr Kaing Guck Eav interviewte. Dieser war ein Scherge und zugleich ein Verantwortlicher jenes Regimes, das Kambodscha in der zweiten Hälfte der Siebzigerjahre zum Schauplatz eines Massenmords machte.

Wer waren die Roten Khmer? Was trieb sie zu ihren Gräueltaten an, dass sie sogar kleine Kinder ermordeten?

Kaing Guck Eav, oder besser gesagt „Duch“, wie er genannt wurde, war Mitglied der Roten Khmer. Die maoistisch-nationalistische Organisation wollte die Gesellschaft durch Umerziehung und Mord verwandeln, mit Gehirnwäsche, Sklavenarbeit und Folter. Unter der Führung von Pol Pot kamen die Roten Khmer 1975 an die Macht und veranstalteten eine Hetzjagd auf alle, die ihnen als intellektuell galten: Lehrer, Ärzte, das gesamte Bürgertum und alle, die studiert hatten. Manchmal genügte es, eine Brille zu tragen, um ermordet zu werden. In knapp vier Jahren – so lange dauerte die Gewaltherrschaft – kamen mindestens 1,7 Millionen Menschen ums Leben, andere Quellen berichten von mehr als zwei Millionen Opfern – rund ein Drittel der Kambodschaner.

Zuerst wurden die Roten Khmer in Phnom Penh von den Armen als Retter begrüßt. Doch dann siedelten sie die Bewohner der Städte aufs Land um. Es war für viele eine Reise in den Tod. Manche starben bereits auf den Gewaltmärschen. Die überlebten, mussten unter unmenschlichen Bedingungen auf den Feldern und im Kanalbau arbeiten, starben an Hunger oder an Krankheit. Wer vor Schwäche aufgab, wurde erschlagen oder bekam die Kehle aufgeschlitzt, bevor er in einem der unzähligen Massengräber, der „Killing Fields“, verscharrt wurde.

Doch wer waren die Roten Khmer? Was trieb sie zu ihren Gräueltaten an, dass sie sogar kleine Kinder auf bestialische Art und Weise ermordeten? Warum dieser Hass? Die Roten Khmer waren aus der Kommunistischen Partei Kambodschas hervorgegangen. Ihre Radikalisierung begann, nachdem die USA unter Präsident Richard Nixon zu Beginn der Siebzigerjahre den Vietnamkrieg auf Kambodscha ausgedehnt und das Land flächendeckend bombardiert hatten, weil dort das Rückzugsgebiet des Vietcong lag.

Schon im August 1979 fand in Phnom Penh ein Schauprozess gegen zwei der Anführer, Pol Pot und Ieng Sary, vor einem „Revolutionären Volkstribunal“ statt. Sie wurden in Abwesenheit zum Tode verurteilt. „Bruder Nr. 1“ Pol Pot starb 1998, jedoch ohne jemals verhaftet worden zu sein. Ieng Sary wurde amnestiert, vor zwei Jahren nochmals vor Gericht gestellt, starb aber vergangenen März, bevor es zu einer Verurteilung kommen konnte. Eine Aufarbeitung der Verbrechen gab es erst später.

Mittlerweile wird in Kambodscha über die Verbrechen der Roten Khmer diskutiert. Ihre Schreckensherrschaft ist Thema an den Schulen. Im Jahr 2006 wurde das sogenannte Rote-Khmer-Tribunal einberufen – nach dem Vorbild des Internationalen Strafgerichtshofs für das ehemalige Jugoslawien und des Internationalen Strafgerichtshofs für Ruanda. Das Tribunal soll die von den Roten Khmer begangenen Verbrechen untersuchen.

Bei Rithy Panh stehen die persönlichen Erinnerungen an die Schreckensherrschaft der Roten Khmer im Vordergrund – ergänzt durch seine Theorien über den Genozid und im Kontrast zu den Interviews, die er mit Kaing Guek Eav führte. Als Leiter des berüchtigten Gefängnisses S21 war dieser für den Tod von mindestens 14.000 Menschen verantwortlich. Im S21, dem Gebäude einer ehemaligen Schule, wurden die Gefangenen unter Folter zu Geständnissen gezwungen. Man bezichtigte sie, für einen ausländischen Geheimdienst zu arbeiten. Darauf stand die Todesstrafe. Duch herrschte über Leben und Tod, indem er über die Behandlung der Insassen verfügte. Er ließ seine Gefangenen mit unvorstellbarer Grausamkeit quälen. Die Folterer brachten ganze Familien um. Ihre Opfer fotografierten sie vor der Hinrichtung.

Rithy Panh fragt nach der Logik des Massenmords, nach der „Mechanik, die sich im Kopf des Mörders abspielt“. An die „Banalität des Bösen“, an jenen von der Philosophin Hannah Arendt anlässlich des Prozesses gegen Adolf Eichmann geprägten Begriff, glaubt er nicht. Panh bezieht sich auf Autoren wie den deutschen Sozialpsychologen Harald Welzer und dessen Buch „Täter – Wie aus ganz normalen Menschen Massenmörder werden“. Welzer untersucht die Motive der Täter, die sich moralisch im Recht sahen und ihre Taten als Arbeit begriffen. So wie Kaing Guek Eav alias Duch.

Auch Duch ist keine Bestie, kein Monster. „Er ist ein Mensch wie ein anderer“, heißt es in dem Buch. „Aber er hat eine Entscheidung getroffen, die anders ist als die der Anderen. Man kann diese Menschen nicht behandeln, als würden sie keine Verantwortung tragen, denn diese Verantwortung definiert sie als Person.“ Duch ist also verantwortlich. Er ist gebildet. Er spricht mehrere Sprachen. Er hatte Mathematik studiert und als Lehrer gearbeitet. Seine Arbeit war gewissenhaft. Ebenso gewissenhaft mordete er. Später ließ er sich zum bibeltreuen Christen bekehren.

In den Interviews rechtfertigt Duch seine Taten: „Als man mich zum Direktor des Lagers machte, konnte ich dem nicht entfliehen.“ Seine Zuständigkeit habe darin bestanden, Menschen zu verhören und zu foltern – und um sie schließlich zu vernichten. „Das Schicksal will es, dass du zur Polizei gehörst, und du machst es, auch wenn du es nicht willst“, sagt er. Obwohl Duch für den Tod von Tausenden von Menschen verantwortlich war, sah er sich nur als „Techniker der Revolution“. Das erinnert an Eichmann. „Ich musste die Order meiner Befehlshaber befolgen“, heißt es an einer Stelle im Buch und weiter: „Sonst hätte man mich umgebracht.“

Wie Eichmann legt sich Duch eine Strategie zurecht, um sich zu verteidigen. Immer wieder redet er sich raus und streitet seine Verantwortung ab. Vor dem Tribunal behauptete er sogar, selbst bei Folterungen nicht dabei gewesen zu sein. Von den Schreien der Opfer will er nichts gehört haben. Ebenso wenig von den Massenexekutionen auf den Killing Fields. Doch seine eigenen Folterknechte überführten ihn der Lüge. Er habe bei den Exekutionen dabei sein wollen, sagen sie gegen ihn aus. Als zum Beispiel Gefangene an einem Wasserloch hingerichtet wurden. Panh beschleicht der Verdacht, dem Interviewpartner als Trainer für den Auftritt vor Gericht zu dienen. „Er konnte mit mir seine Antworten üben“, schreibt er. „Später hat er vor Gericht einige Sätze wiederholt, die er vorher mir gesagt hat.“ Der Prozess gegen Duch begann 2009. Er wurde schuldig gesprochen, im Juli 2010 zu 35 Jahren Haft und in einem Berufungsverfahren zu lebenslanger Haft verurteilt.

Panh betont die Bedeutung der Sprache des Regimes. In ihr äußert sich dessen menschenverachtende Ideologie. „Bei Victor Klemperer kann man nachlesen, wie die Sprache des Dritten Reiches funktioniert hat. Die Roten Khmer haben eine ähnliche Sprache entwickelt, die sehr einfach ist und die Ideologie direkt transportiert.“ Die Roten Khmer, die sich übrigens nicht selbst so nannten, verboten bürgerliche Begriffe wie Ehefrau oder Ehemann. Sie unterteilten die Menschen in „altes Volk“ und „neues Volk“ – und wer zum neuen Volk gehörte, galt als Feind, und dessen Kinder waren „Feindkinder“. Das Land erhielt einen neuen Namen: Demokratisches Kampuchea. Das Regime führte eine neue Zeitrechnung ein, schaffte Geld und Privateigentum ab. „Meine Waffe ist die Sprache“, sagt auch Duch, der gerne französische Gedichte rezitiert.

So wurde nicht das Wort Hinrichtung benutzt, sondern ein Wort, das totale Zerstörung bedeutet, Auslöschung, das „Zu-Staub-Werden“. Die erste Auslöschung war der Völkermord. Gegen die zweite Auslöschung, die des Vergessens und des Verschweigens, hat Panh Filme gedreht und ein Buch geschrieben. Auch wenn Letzteres nicht frei ist von Schwächen, vor allem, was die Sprünge zwischen den einzelnen Erzählebenen angeht, hat Panh damit den Opfern zumindest ihre Würde wiedergegeben. Somit ist „Auslöschung“ ein Buch gegen die Auslöschung.

Rithy Panh – Auslöschung. Ein Überlebender der Roten Khmer berichtet. Aus dem Französischen von Hainer Kober. Hoffmann und Campe, 239 Seiten.
Rithy Panh – L`élimination. Editions Grasset & Fasquelle, 336 pages.


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