Brasiliens Literatur spiegelt die gesellschaftliche Entwicklung des Landes wider. Besonders schonungslos zeigen dies Luiz Ruffato mit seinem Zyklus „Vorläufige Hölle“, von dem der erste Band nun auf Deutsch erschienen ist, und Chico Buarque in „Vergossene Milch“. Beide stammen aus unterschiedlichen Schichten, stehen aber in derselben literarischen Tradition.
Der alte Micheletto ist ein grausamer Despot, der es zu bescheidenem Wohlstand gebracht hat. In der Nähe des Dorfes Rodeiro im brasilianischen Bundesstaat Minas Gerais betreibt er ein kleines Anwesen. Dort drangsaliert er seine Familie. Drei seiner fünf Söhne sterben früh. Seine älteste Tochter brennt mit einem fahrenden Händler durch. Micheletto findet sie und schleift sie an einem Strick hinter seinem Pferd her. Dann erschießt er sie.
Der brasilianische Autor Luiz Ruffato beschreibt in seinem Roman „Mama, es geht mir gut“ das archaische, von Armut geprägte Leben italienischer Einwanderer in Brasilien in der Mitte des 20. Jahrhunderts. In sechs Kapiteln verknüpft er das Schicksal mehrerer Personen und ihrer Familien. Sie sind in einem Kreislauf der Gewalt miteinander verbunden.
In einer Episode, die mit „Sühne“ überschrieben ist, liegt der alte Jair im Krankenhaus im Sterben. Er ist ein gläubiger Mensch, der jeden Sonntag in die Kirche ging. Seine Familie besucht ihn in der Klinik. In inneren Monologen schildern die Besucher ihre Erinnerungen an den Alten. Am Ende kommt der Pastor seiner Pfingstgemeinde. Zur letzten Ölung flüstert Jair ihm ins Ohr: „Gott ist nicht Liebe … ist Rache … ist Bestrafung.“
Jairs ältester Sohn verlässt Rodeiro und findet eine geregelte Arbeit, während seine zwei Brüder als Handlanger von Drogengangs tätig sind – bis sie erschossen werden. In einem anderen Kapitel verlässt der Sohn, der dem Provinzkaff nach São Paulo entflohen ist, seine Frau und sein Kind: „Ich stand auf, nahm den Zug und die Nacht erschrak sich vor mir betrunken zusammengesunken auf einem Tisch einer Bar in der Avenida Rio Branco, São Paulo.“ Als Leitmotiv stehen dem Roman bezeichnenderweise die Worte des Dichters Jorge de Lima voran: „Und es gibt Schiffe, die nie ankommen … weil bereits faulig der Stamm war/ des Baumes aus dem sie geschnitten.“ Der Teufelskreis aus Gewalt geht demnach auf eine Art Erbsünde zurück.
Ruffato verzichtet auf lineares Erzählen. Sein Roman ist eine Komposition von Fragmenten und besteht aus inneren Monologen, Dialogen, Sprachfetzen und häufigen Perspektivenwechseln. Personen verschwinden und tauchen wieder auf. Ruffato will mit dieser „literarischen Installation“, wie er es nennt, der Komplexität des Alltags, den inneren Zuständen der Menschen und äußeren gesellschaftlichen Umständen Rechnung tragen. Einige Sätze sind kursiv oder fett gedruckt. Die Sprache changiert zwischen hart und weich, ruhig und gehetzt. Dadurch wirkt der Roman atemlos. Übersetzer Michael Kegler bot eine meisterhafte Leistung, indem er diese Stimmung ins Deutsche übertrug.
„Mama, es geht mit gut“ ist der erste, kürzlich auf Deutsch erschienene Teil des fünfteiligen Zyklus „Vorläufige Hölle“, der von 2005 bis 2011 entstand. Der Originaltitel „Mamma, sono tanto felice“ ist italienisch. Der erste Band spielt in den 1940er und 50er Jahren. Der Schauplatz ist ein enger Mikrokosmos aus Feldern, Dörfern und Dorfkneipen. Die Folgeromane handeln von den Kindern und Enkelkindern, die nach und nach die brasilianische Diktatur (1964 bis 1985), die Industrialisierung, den Übergang zur Demokratie und das 21. Jahrhundert erleben. Der Zyklus endet mit der Amtsübernahme von Präsident Luiz Inácio „Lula“ da Silva, dem ehemaligen Schuhputzer und Metallfacharbeiter.
Brasilien ist nicht einfach linear erfahrbar, weder bei Ruffato noch bei Buarque.
Der Autor selbst stammt aus einfachen Verhältnissen. Er kam 1961 in Cataguases im Bundesstaat Minas Gerais als Sohn eines Popcorn-Verkäufers und einer Wäscherin – beide italienische Einwanderer – zur Welt. Die Großeltern waren Ende des 19. Jahrhunderts von Italien nach Brasilien ausgewandert. Seine Mutter war Analphabetin. Zusammen mit seinen Eltern zog er wie viele Millionen armer Brasilianer aus der bitterarmen Provinz nach São Paulo. Als Kind half Ruffato seinem Vater vom sechsten Lebensjahr an am Popcorn-Stand. Eines Tages wurde er von einem Fremden angesprochen, der ihm später den Besuch einer weiterführenden Schule ermöglichte.
Ruffato versteckte sich dort aus Schüchternheit in der Bibliothek. Seine Leidenschaft wurde das Lesen. Geld verdiente er als Fabrikarbeiter und Mechaniker. Nach dem Studium wurde er Journalist und schrieb für die renommierte Tageszeitung „Estado de São Paulo“. Heute ist er einer der wichtigsten zeitgenössischen Schriftsteller Brasiliens. In seiner Rede zur Eröffnung der Frankfurter Buchmesse im vergangenen Jahr, bei der Brasilien das Gastland war, hat er auf die Missstände in seinem Land aufmerksam gemacht – vor allem auf die sozialen Gegensätze. Ruffato hat polarisiert und dafür Beifall erhalten, aber auch aggressive Reaktionen geerntet.
Sein erstes Buch, ein Band mit Kurzgeschichten, publizierte Ruffato 1998. Sein erster Roman „Es waren viele Pferde“ erschien 2001 und wurde von der Kritik euphorisch aufgenommen. Darin gibt er zu Protokoll, was er in São Paulo an einem einzigen Tag, dem 9. Mai 2000, beobachtet hat: eine Folge von Momentaufnahmen, manchmal als Satzfragmente ohne Punkt und Komma – zusammengesetzt aus Geplauder im Taxi, Gesprächen beim Frühstück, Tagträumen, Fantasien und Selbstgesprächen, Zeitungsausschnitten, Briefen und Nachrichten auf dem Anrufbeantworter sowie Kontaktanzeigen.
Die Personen, die darin vorkommen, sind unterschiedlich: Großstadtbewohner, die wie Schiffbrüchige sind, gestrandet auf der Suche nach Glück und Liebe, Opfer von Gewalt und Täter, verzweifelt und oft trostlos. „Es waren viele Pferde“ ist das Panoptikum einer Metropole und zeigt die Kakophonie einer Großstadt. „Mama, es geht mir gut“ hingegen wirft einen Blick auf das ländliche Brasilien. In beiden Büchern geht es um Gewalt, um direkte körperliche oder um strukturelle, um gescheiterte Existenzen und um die zerstörten Illusionen der Einwanderer.
Die sechs Kapitel lassen sich in beliebiger Reihenfolge lesen. Trotzdem ergibt sich ein roter Faden. Der Autor meinte dazu, er habe einen Kollektivroman schreiben wollen, um den Leser an der Konstruktion der Bücher teilnehmen lassen. Er beschreibt Brasilien aus der Sicht der Armen. „Vorläufige Hölle“ ist eine Art Chronik der Unterschicht, vom Landarbeiter zum Stadtproletariat. Nach den Worten des Schriftstellers sind diese in der Literatur seines Landes bisher zu kurz gekommen. Sein Thema ist aber auch die der Migration in zweierlei Form: das Leben der armen Einwanderer in Brasilien, aber auch die der Binnenmigranten auf der Landflucht. In der Tat hatten beide bisher keine gute Lobby – auch nicht in der Literatur.
Ein literarischer Vorfahre von Ruffato könnte Graciliano Ramos (1892-1953) sein. Während sich die brasilianische Literatur mit dem Aufkommen des Modernismo ab den 1920er Jahren an der europäischen Avantgarde orientierte und auf die großstädtischen Zentren konzentrierte, ging der Schriftsteller aus dem Nordosten einen anderen Weg. In seinen sprachlich schlicht gehaltenen Werken beschreibt er das harte, trostlose Leben im Sertão, jener trockenen, lebensfeindlichen Steppenlandschaft, der schon João Guimarães Rosa mit „Grande Sertão“ ein episches Denkmal setzte. Bereits dieses Sprachkunstwerk besticht durch seine dezentrierte Erzählweise sowie durch Dialektfärbung und Neologismen – als kollektive Erinnerung einer Region.
Die Dürre hat dazu geführt, dass die Menschen ihre Arbeit und ihre Grundlage zum Leben verloren haben. Letzteres ist hart und entbehrungsreich. Karg und spärlich sind auch Ramos´ Romane, vorneweg „Vida Seca“ – das karge Leben. Die Sozialkritik darin ist versteckt und unprätentiös. Auch dieser Roman ist ein Meisterwerk der brasilianischen Literatur. Ihn neu zu veröffentlichen, war ein lobenswertes Unterfangen, das der Wagenbach Verlag nicht scheute. Vergleichbar ist nur noch João Ubaldo Ribeiros „Sargento Getúlio“, ein weiterer Roman über den Sertão.
Während Ruffato aus der Unterschicht kommt, entstammt Chico Buarque einer Intellektuellenfamilie und ist schon lange berühmt. Dem Sohn des Historikers Sergio Buarque de Holanda gelang 1966 der Durchbruch als Liedermacher. Er gilt seither als einer der wichtigsten Vertreter der Música Popular Brasileira und als meisterlicher Komponist und Sänger von Liebesliedern und Protestsongs. Wegen seiner Kritik an der Militärdiktatur musste er eine Zeit lang das Land verlassen. Auch als Schriftsteller ist Buarque längst kein Unbekannter mehr. Mit „Vergossene Milch“ hat er einen Roman geschrieben, der dem von Ruffato auf den ersten Blick diametral entgegengesetzt ist. Genauer betrachtet, ist er ihm sehr ähnlich.
Auch in „Vergossene Milch“ liegt ein Mann im Sterben. Wie bei Ruffato ist die Erzählweise fragmentarisch. Die Erinnerungen des hundert Jahre alten Eulalio Montenegro d’Assumpção überlagern sich, brechen ab und fließen weiter. Er fantasiert in einem heruntergekommenen Krankenhaus davon, dass seine Eltern seine Kinder seien und er sie vom Spielplatz abhole. Er weiß: „Das Gedächtnis ist ein wahres Chaos, aber es ist alles da, wer bloß ein bisschen wühlt, kann in seinem Kopf alles finden.“ Buarques Perspektive ist „eine“ Perspektive. Ruffatos Roman besteht aus unzähligen Blickwinkeln. Beide handeln sie von Brasilien. Das Land ist nicht einfach linear erfahrbar, weder bei Ruffato noch bei Buarque. Es besteht aus unendlich vielen Fragmenten, die sich nicht zu einem Ganzen zusammenfügen lassen.
Der Alte erinnert sich vor allem an seine Herkunft: Eulalio ist ein Sprössling der Oberschicht. Sein Ururgroßvater kam mit dem portugiesischen König nach Brasilien. Sein Großvater saß mit Kaiser Dom Pedro II. am Tisch. Sein Vater war ein erfolgreicher Geschäftsmann und Politiker. Eulalio wächst auf einer Fazenda auf und meint, alles sei erlaubt und leicht zu bekommen. Doch er kriegt nicht alles. Er liebt zwar Matilde und heiratet sie. Doch sie verlässt ihn und das gemeinsame Kind. Einmal erzählt Eulalio, sie sei ums Leben gekommen, ein anderes Mal, sie sei mit einem Liebhaber durchgebrannt.
Buarque deutet an, Ruffato schneidet an. Es lohnt sich nicht, sich über vergossene Milch zu ärgern, so das Sprichwort. Die Dinge lassen sich nicht mehr ändern. Denn schon der Stamm, aus dem das Schiff gebaut wurde, war faulig. Dieses Motto kann für beide Bücher gelten. Wer sie liest, erfährt mehr über Brasilien als in unzähligen Berichten und Reportagen über das riesige Land, einer regionalen Großmacht der Widersprüche und Gegensätze.
Luiz Ruffato: Mama, es geht mir gut. Aus dem Portugiesischen von Michael Kegler. Verlag Assoziation A, Hamburg 2013. 160 Seiten.
Chico Buarque: Vergossene Milch. Aus dem Portugiesischen von Karin von Schweder-Schreiner. Fischer Verlag. 208 Seiten.