MIGRATION IM 21. JAHRHUNDERT: Das Elend und seine Verwaltung

Wie sieht es aus an den Schauplätzen der Migration? Einer der Referenten unseres Werkstattgesprächs in Zusammenarbeit mit dem CNA liefert Befunde von den äußeren und inneren Grenzen der Festung Europa.

Lampedusa 2007: Für die meisten ist es die letzte Chance und keine simple Suche nach dem Glück.

Lampedusa: Boote?

Sie kommen in der Nacht. Sie kommen am Tag. In den Hafen gebracht von der Küstenwache. Überfüllt ist gar kein Ausdruck, und doch kommen sie in einer Stille, so umfassend, dass sie selbst in der Mittagssonne gespenstisch erscheint. Niemand jubelt, dass die Passage überstanden ist. Die Kinder weinen nicht. Blicke gehen ins Leere. Die Boote sind die Protagonisten dieser Fluchtwelle übers Mittelmeer, größer als alle vorherigen. Wenn ihre Insassen weitergezogen sind, bleiben sie auf dem Bootsfriedhof zurück.

Oder im Meer, dem großen Friedhof für Boote und Migranten. Just vor einem Jahr starben vor Lampedusa 339 Menschen bei einer Katastrophe, die man nicht Havarie nennen möchte, weil das verharmlosend klänge. Und weil es all die Vorboten ungenannt lässt. Mai 2011, ein paar Stunden vor Sonnenaufgang: Ein Schiff mit 500 Menschen an Bord kommt kurz vor dem Hafen vom Kurs ab und läuft auf die Felsen auf. In Panik springen die Passagiere ins Wasser. Die übliche Routine einer Landung ist völlig durchkreuzt, Migranten stolpern über die dunklen Kliffs, klitschnass und zugleich dehydriert, Wasser und Essen gab es schon lange nicht mehr an Bord. „Wo sind wir hier?“, fragt einer der Schiffbrüchigen. Drei Tote zieht man Tage später unter dem Rumpf hervor.

Wer Lampedusa sagt, sagt Mare Nostrum. Die italienische Bergungsoperation, im Angesicht der Särge von 2013 geboren, wird 2014 nach knapp 100.000 an Land gebrachten Migranten beendet. An ihre Stelle, heißt es, tritt „Frontex Plus“, und wiederum doch nicht, denn der Schwerpunkt liegt hier nicht bei der Rettung Schiffbrüchiger, sondern der Überwachung der Grenzen. Mit lateinischen Namen ist trotzdem noch nicht Schluss: Dieser Tage machen Schergen in ganz Europa Jagd auf vermeintlich illegale Einwanderer. Wer sich in der Idee einer kathartischen Wirkung der Katastrophe wiegte, sollte aufwachen: Die vielzitierte Harmonisierung einer EU- Asylpolitik ist Mos Maiorum, nicht Mare Nostrum.

Milano: Dublin

Hunderte Syrer sind es, die jeden Tag am Bahnhof Milano Centrale ankommen. Auf dem Weg nach Norden machen sie hier Station, verweilen auf einer Halbetage, die ihnen die Kommune zur Verfügung stellt, mit bescheidener Essens- und Wasserausgabe, Kinderbetreuung, Zugang zu juristischer und medizinischer Hilfe. Für die Nacht gibt es eine Not-Auffangstelle mit Schlafplätzen.

Manche der Syrer haben auf dem Weg durch Italien ihre Fingerabdrücke hinterlassen. Gemäß dem Dublin-Abkommen, demzufolge sie nur in diesem Staat Asyl beantragen können. Längst nicht allen ist diese Sachlage klar. Zumal andere nicht gestempelt wurden, denn Länder wie Italien oder Griechenland entziehen sich inzwischen auf breiter Basis den Auflagen. Auch das ist eine Form der Harmonisierung von EU- Flüchtlingspolitik: das, was der Norden mit dem Dublin- Abkommen auf den Süden abzuwälzen versucht, kommt so als Bumerang zu ihm zurück. Dein Problem. – Nein, deins. Elendsverwaltung, wie sie unverhohlener nicht sein kann.

So reisen sie also durch Italien, und oben in Mailand trennen sich dann die Wege. Zwei Hauptrouten führen von hier weiter, die eine über Verona nach München, die andere über Nizza nach Frankfurt, von wo ein Teil noch weiter nach Norden will, nach Schweden, Dänemark, in die Niederlande. Eine alte Gesetzmäßigkeit ist das: neue Kriege, neue Fluchtrouten. Vor drei Jahren, im arabischen Frühling, wurde das Grenzstädtchen Ventimiglia auf einmal zu einem Hot Spot auf der Landkarte der Migration, als Tunesier von dort aus nach Frankreich wollten und es zu einer der schwersten Grenzkrisen seit dem Schengener Abkommen kam.

Der syrische Bürgerkrieg hat Sizilien als massenhaften Ankunftsort etabliert – und Mailand als Knotenpunkt am anderen Ende Italiens. Die, die dem Krieg entkommen konnten, kauern nun zwischen den monumentalen Bögen und marmornen Säulen von Milano Centrale. Ein groteskes Bild, zweifellos, wenn über die digitalen Nachrichten-Bildschirme die Kurzschlagzeilen aufflackern, und diese Kriegs-Geographie, die den Europäern nun seit drei Jahren geläufig ist – Homs, Aleppo, Damaskus -, sich in einer Enklave der Friedensnobelpreisträgerin EU entfaltet.

Calais: Zuspitzung

Seit einiger Zeit trifft man Syrer auch an der Kanalküste. Auch England ist für sie ein Ziel, just weil man dort neben Sicherheit auch die Aussicht auf Arbeit, auf ein neues Leben zu haben wähnt. Und in Syrien sprechen mehr Menschen Englisch als Französisch oder Italienisch. In Calais, dem nächsten Punkt des europäischen Festlands, bilden syrische Kriegsflüchtlinge aber eher eine kleine Gruppe. Afghanen sind hier seit Jahren fast durchweg, und vor allem Migranten vom Horn von Afrika. Eritreer, Somalis, Äthiopier, Sudanesen. Zusammen sind es in diesem Herbst mindestens 1.500 – so viele wie nie zuvor.

Etwas ist neu in diesen Wochen. Die Transitmigranten von Calais, seit Jahren hin und hergeschoben zwischen den abgerissenen Elends-
camps, die man hier Jungle nennt, geräumten „Squats“ (in der Regel verlassene Fabriken, Werkstätten oder deren Innenhöfe), halten nicht mehr die andere Wange hin, während sie auf ein Schlupfloch im immer dichter werdenden Zaun warten. Einmal stürmten sie an den Kontrollposten vorbei in Richtung einer Fähre, kurz danach beschädigten sie den Zaun, erst Anfang letzter Woche versuchten sie zu 300, eine lange Reihe LKW vor dem Eingang zum Hafen zu entern.

Keep Banging on the Walls of Fortress Europe steht auf den Mauern des größten Squat. Natürlich kommt das nicht von den Transitmigranten, sondern von den No Border-Aktivisten. Ein alter Asian Dub Foundation-Hit der Antira-Szene. Doch das
„Banging“, es wird lauter. Und teurer. Die Währung besteht aus Fleisch und Blut. Bei einer Recherche vor einigen Jahren traf ich auf einen jungen Afghanen, der am Zaun einen Finger verloren hatte, als ihn ein Polizist dort mit Gewalt herunterzog. Vor kurzem hörte ich in zwei Tagen drei solcher Geschichten.

Wie jedes Jahr wächst in Calais nun wieder die Angst vor dem Winter. Und die Verzweiflung wächst. Nachts stehen einige junge Syrer zusammen, beraten die Lage, tauschen Geschichten aus. Einer von ihnen will von außen in den Hafen hineinschwimmen. Die Strecke ist kurz, das Problem: er kann gar nicht schwimmen. Irgendein Hilfsmittel will er sich besorgen, vielleicht einen Autoreifen. Dass die anderen ihn abhalten wollen, interessiert ihn nicht. Der Tod lauert um die Ecke in Calais, dieses Jahr ist er so nah wie selten. Zehn Migranten kamen in diesem Jahr bisher am Kanal um. Das letzte Opfer ist eine 16jährige Äthiopierin, die vor zehn Tagen nachts beim Überqueren der Autobahn überfahren wurde.

Amsterdam: Selbstorganisation

Man könnte auch Wien sagen,
die Kirchenbesetzung. Berlin-Kreuzberg, die Schule. Hamburg, die Lampedusa-Flüchtlinge. Sowieso Paris, Genf, Brüssel, wo schon viel länger „Sans Papiers“-Gruppen bestehen. Selbstorganisation von Flüchtlingen ist ein Merkmal der letzten Jahre, wenn wir uns mit Migration nach Europa und innerhalb Europas beschäftigen. In Amsterdam führt eine Gruppe papierloser Flüchtlinge seit zwei Jahren eine im höchsten Grade prekäre Existenz in einer konstanten Odyssee. Sie begann in einem Zeltlager, dann ging es in eine Kirche, ein Wohnhaus, eine Schule, ein Bürogebäude, und inzwischen eine Garage. Räumung, Neubesetzung, Verhandlung, Räumung, das ist ihr Kreislauf. Mit dem Rücken zur Wand und dem Zaun immer vor der Nase.


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