Abschied von Schengen
: Luxemburg am 
schlimmsten betroffen

Grenzkontrollen dauerhaft wieder einzuführen, wäre für das Großherzogtum gravierender als für jede andere nationale Wirtschaft in der Europäischen Union. Ein Szenario der Chambre de Commerce geht davon aus, dass sich dann allein der Exportüberschuss Luxemburgs um rund 1,5 Milliarden Euro reduziert.

Stau, soweit das Auge reicht: Dass es nervt, am Grenzübergang zu warten, wäre hinsichtlich einer Abkehr vom Schengener Abkommen das geringste Problem. (Foto: Wikipedia)

Stau, soweit das Auge reicht: Dass es nervt, am Grenzübergang zu warten, wäre hinsichtlich einer Abkehr vom Schengener Abkommen das geringste Problem. (Foto: Wikipedia)

Kaum von ungefähr war es Jean-Claude Juncker, der die wirtschaftlichen Folgen einer Abkehr vom Schengen-Abkommen besonders drastisch auf den Punkt gebracht hat. „Wer Schengen killt, wird den Binnenmarkt zu Grabe tragen“, prophezeite der EU-Kommissionspräsident Mitte Januar (woxx 1359). Zur Untermauerung dieser Aussage nennt der ehemalige Premierminister Luxemburgs stets das Beispiel seines Heimatlandes. Denn er weiß wie kein anderer, dass sich Luxemburg, in der Vergangenheit gern als „Labor“ der Früchte einer europäischen Einigung gepriesen, mit der aktuellen Entwicklung sehr schnell in ein Labor des Niedergangs verwandeln könnte.

In Junckers Argumentation fehlte es bislang an verlässlichem Zahlenmaterial. Nun dürfte ihn sein Kabinettchef Martin Selmayr, dem noch immer beste Verbindungen zu seinem früheren Arbeitgeber, der Bertelsmann-Stiftung, nachgesagt werden, damit versorgen.

Denn Anfang voriger Woche hat die Stiftung, die nicht selten als „neoliberal“ und der „Einflussnahme auf Entscheidungsträger“ bezichtigt wird, eine Studie zu den Kosten einer dauerhaften Wiedereinführung von Grenzkontrollen im Schengen-Raum vorgelegt. Sie buchstabiert aus, was der Kommissionspräsident im Januar bereits vorab resümiert hat. Demnach wären die ökonomischen Folgen regelmäßiger Wartezeiten an den Grenzen enorm. Um konkrete Zahlen präsentieren zu können, wird in der Studie der Zeitaufwand beim Grenzübertritt in Relation zum Warenwert veranschlagt. Gemäß verschiedener volkswirtschaftlicher Rechenmodelle prognostizieren die Autoren eine Steigerung der Importpreise um zwischen 1,4 und drei Prozent. Für den gesamten Binnenraum der EU-Mitgliedsstaaten würde das je Berechnungsgrundlage eine jährliche Wachstumseinbuße von 0,04 bis 0,12 Prozent bedeuten – wobei die Mitgliedsstaaten Luxemburg, Zypern, Malta und Kroatien in die Berechnungen nicht miteinbezogen worden sind.

Hochgerechnet auf einen Betrachtungszeitraum bis ins Jahr 2025 wären das für die 24 berücksichtigten Länder gesamtwirtschaftliche Einbußen im Bruttoinlandprodukt (BIP) von addiert 471 Milliarden bis 1,43 Billionen Euro. Eine wenige Tage vor der Bertelsmann-Studie veröffentlichte Referenz-Analyse des französischen Think-tanks France Stratégie hatte für denselben Zeitraum im Schengen-Raum Einbußen von 0,8 Prozent veranschlagt. Sie kommt aufgrund dieser Zahl allerdings nur auf einen Verlust von 100 Milliarden Euro und veranschlagt eine Steigerung der Importpreise um drei Prozent sowie einen daraus resultierenden Rückgang des bilateralen Handels von 12,5 auf 10,5 Prozent.

Für Luxemburg wären die Auswirkungen dauerhafter Grenzkontrollen jedoch verhältnismäßig drastischer. Davon ist der Generaldirektor der Chambre de Commerce überzeugt. „Luxemburg ist das Land in der Schengen-Zone, das am meisten darunter leiden würde“, sagt Carlo Thelen: „Unsere ganze Wirtschaft ist aufgebaut auf den Export von Waren und Dienstleistungen: 80 Prozent der gesamten Produktion von Waren und Dienstleistungen geht ins Ausland, davon wiederum 80 Prozent in EU-Länder, und hiervon mehr als die Hälfte in unsere drei Nachbarländer.“

Während man beim Luxemburger Wirtschaftsministerium laut Paul Zenners noch über „keine zahlenbasierte Einschätzung“ zu den Folgen verfügt und auch der Unternehmerverband UEL nicht für eine Stellungnahme zu gewinnen war, hat man bei der Chambre de Commerce schon eigene Berechnungen angestellt. Carlo Thelen hält die pessimistische Prognose der Bertelsmann-Stiftung einer Importpreiserhöhung von drei Prozent, von der auch France Stratégie ausgeht, für realistisch. Er geht jedoch davon aus, dass Luxemburg als „offenste Volkswirtschaft“ im Schengen-Raum stärker betroffen wäre. Die Auswirkungen auf die Exportwirtschaft wären dabei größer als auf die Importe, wie Thelen prognostiziert. Der Exportüberschuss, den Luxemburg erzielt, würde also schwinden.

Konkret rechnet die Chambre de Commerce mit einer Reduktion des Überschusses um zehn Prozent und einem Verlust von rund anderthalb Milliarden Euro: Hatte Luxemburg im Jahr 2014 im Verhältnis zu den Importen einen Exportüberschuss von 15,8 Milliarden Euro aufzuweisen, ergäbe das im Falle einer Wiedereinführung von Grenzkontrollen einen jährlichen Verlust von 1,58 Milliarden Euro.

Grenzgänger werden teuer

Auch die Auswirkungen der Kontrollen auf die Grenzgänger wären enorm. Allein 160.000 Menschen pendeln jeden Tag zur Arbeit nach Luxemburg. „Wenn jeder Pendler morgens mindestens 15 Minuten an der Grenze aufgehalten würde, dann entspräche das hochgerechnet auf den Wert der Arbeitsstunden 225 Millionen Euro pro Jahr – wenn man den nicht sehr hohen Lohn von 25 Euro pro Stunde zugrunde legt“, so Thelen. Die Konsequenzen der Grenzkontrollen für die Pendler sind es auch, die der Luxemburger Bankenvereinigung unmittelbar die größten Sorgen bereiten. „Für uns als Arbeitgeber ist es ein Problem, wenn Arbeitnehmer dauerhaft zu spät zur Arbeit kommen“, sagt Philipp von Restorff von der ABBL.

Langfristig könnte das sogar dazu führen, dass Luxemburg für gut qualifizierte Fachkräfte als Arbeitsplatz an Attraktivität verliert. So kann France Stratégie Zahlen präsentieren, wonach Grenzpendler bereit wären, im Schnitt zehn Euro für jede Stunde zu bezahlen, um die sich die zeitliche Distanz zwischen Arbeitsplatz und Wohnort reduziert. Die französischen Rechenszenarien gehen daher nicht nur von einem wirtschaftlichen Verlust von 250 bis 500 Millionen jährlich aus, sondern zudem von einer deutlichen Reduzierung pendelnder Arbeitskräfte.

Auch als Transitland für den Güterverkehr wäre Luxemburg vermutlich drastisch betroffen, denn, wie Carlo Thelen zu bedenken gibt, „die Lage von Luxemburg ist sehr zentral“. Es könne jedoch durchaus sein, dass das Großherzogtum künftig umfahren werde, um sich eine Grenzkontrolle zu sparen. Das wirke sich dann unter anderem an den Luxemburger Tankstellen aus, denn hinsichtlich des dort verkauften Kraftstoffs werde „der Löwenanteil von 56 Prozent vom Transit verbraucht“. Hier geht das Szenario de Chambre de Commerce von einer Reduktion der Transitströme um zehn Prozent und damit von einer Einbuße von hundert Millionen Euro aus. Dass gar der Luxemburger Luftfrachtverkehr unmittelbar unter der Situation leiden würde, glaubt Thelen eher nicht: „Der Findel würde wahrscheinlich weiter angeflogen werden, aber danach würde es zu Staus beim Verteilen der eingeflogenen Güter innerhalb Europas kommen.“

Schließlich hat man sich bei der Handelskammer auch noch Gedanken über die Auswirkungen von Grenzkontrollen auf den grenzüberschreitenden Konsum gemacht. Eine „volkswirtschaftliche Gesamtrechnung“ zum Konsumverhalten von Ansässigen und nicht-Ansässigen ergibt, dass Besucher aus dem Ausland im Jahr 2014 in Luxemburg circa 4,4 Milliarden Euro ausgegeben haben, während „gebietsansässige Luxemburger“ im Ausland nur für rund 1,2 Milliarden Euro konsumieren. Das ergibt einen für Luxemburg positiven Saldo von etwa 3,25 Milliarden Euro. Lege man hier wiederum eine Reduktion des Konsums durch Besucher aus dem Ausland von zehn Prozent zugrunde, dann komme man auf einen Verlust von 325 Millionen Euro.

Die unmittelbaren ökonomischen Folgen einer dauerhaften Wiedereinführung von Grenzkontrollen im Schengen-Raum wären für Luxemburg also enorm. Die mittelfristigen Folgen, die das Ganze für die politische Ökonomie Europas haben könnte, wären allerdings wohl viel gravierender. Davon ist auch Carlo Thelen überzeugt, der von einem Domino-Effekt warnt: „Heute sind es Personalkontrollen, morgen Kapitalkontrollen und übermorgen vielleicht die Abschottung lokaler Märkte, das wäre dann das Ende des EU-Binnenmarktes und damit das Ende Europas – Europa wäre von der Weltbühne verschwunden.“

Eine Rückkehr zum Protektionismus, wie sie Thelen befürchtet, fordert beispielsweise der französische „Front National“ (FN), etwa mittels einer Wiedereinführung und Abwertung des Franc, die zugleich zu einer Reduktion der ebenfalls in Franc zu bewertenden Auslandsschulden führen soll. Kapitalverkehrskontrollen, Schutzzölle und eine massive Renationalisierung der französischen Wirtschaft sind nur einige der Maßnahmen, die man beim FN im Einklang mit der Abschottung gegen alles Nicht-Französische fordert.

Doch es bedarf womöglich nicht erst eines Wahlerfolges rechtsextremer Parteien, um angesichts der gesellschaftlichen Entwicklung zu Konsequenzen zu kommen, wie man sie sich beim FN wünscht und wie sie in Ungarn und Polen zum Teil bereits praktisch umgesetzt werden. Wird das Schengener Abkommen tatsächlich begraben, dann könnte das eine bereits jetzt bedrohliche Dynamik forcieren, die unabhängig davon, welche Partei an der Regierung ist, in Europa zu einem immer aggressiver werdenden Nationalismus führt.

Gegen diese Entwicklung scheint zurzeit vor allem die marktliberale Politik von Angela Merkel und Jean-Claude Juncker zu stehen. Wie bereits angesichts der Not in Griechenland haben beide nun auch hinsichtlich der Not der Flüchtlinge vor allem ein Ziel: den EU-Binnenmarkt zu retten – um nahezu jeden Preis. Das lässt mehr Spielraum für gesellschaftlichen Wandel als die nationalistische Alternative, doch für soziale Gerechtigkeit sorgt es nicht.


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