Was ist teurer? Flüchtlinge aufnehmen und unterbringen oder ihre Einreise durch verschärfte Grenzkontrollen verhindern? Die Frage nach den Kosten der weiter schrumpfenden passfreien EU-Zone wird bislang nur zögernd gestellt.
Die Diskussion um verschärfte Grenzkontrollen wird wohl auch diesen EU-Gipfel dominieren. Dabei geht es nicht nur um die Außengrenzen der Union. Denn immerhin haben inzwischen sechs der der 26 Schengen-Staaten zumindest zeitweise Grenzkontrollen wieder eingeführt.
Das hat auch ökonomische Folgen. Doch diese Frage wurde bislang nur am Rande behandelt. Gleichwohl dürfte sie nicht nur für Luxemburg mit seinen Tausenden von täglichen Pendlern, sondern auch für Exportländer wie Deutschland eine große Rolle spielen, auch wenn sie vordergründig schwer zu beziffern scheint. „Wir haben diese Zahlen nicht“, sagte EU-Kommissar Pierre Moscovici, als er vor zwei Wochen die neuesten wirtschaftlichen Prognosen für die EU präsentierte und Journalisten ihn um eine Quantifizierung der zusätzlichen Kosten von Grenzkontrollen baten.
In der Tat wurden bislang nur wenige Zahlen publiziert. Anfang Februar warnte die wirtschaftliche Planungsagentur der französischen Regierung, France Stratégie, davor, dass das Schrumpfen der passfreien Zone innerhalb der EU deren Brutto-Inlandprodukt um 100 Milliarden senken könne.
Die offiziellen Verlautbarungen in Brüssel blieben zumeist vage. „Wenn Schengen in Gefahr ist, könnten hohe Kosten auf die europäische Wirtschaft zukommen“, sagte Pierre Mosovici und beließ es dabei.
Juncker rechnet’s vor
Allein der Chef der EU-Kommission zögerte nicht, konkreter zu werden. „Wer Schengen killt, bringt den Euro um“, sagte Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker am 15. Januar während seiner ersten Pressekonferenz im neuen Jahr und hob den „intimen Zusammenhang zwischen Freizügigkeit und europäischer Währungsunion“ hervor. Um seinen Pro-Schengen-Appell zu unterstreichen, präsentierte Juncker einige Zahlenbeispiele. „Die Grenzkontrollen auf der Brücke zwischen Dänemark und Schweden haben einen Kostenpunkt von 300 Millionen Euro erreicht“, so Juncker. Die daraus resultierenden Rückstaus an den dänisch-deutschen Grenzen würden weitere 90 Millionen Euro kosten, fügte er hinzu.
Der Kommissionspräsident rechnete den Journalisten die weiteren Folgen wieder eingeführter Grenzkontrollen für die gesamte EU hoch. Würden die Kontrollen auf dem derzeitigen Niveau beibehalten, beliefen sich die Kosten alles in allem auf drei Milliarden Euro, schlussfolgerte Luxemburgs Ex-Premier.
Seine Kalkulationen, das bestätigte eine seiner Sprecherinnen auf Nachfrage, basierten auf einer Studie des sich selbst als bürgerlich-liberal bezeichnenden dänischen Think Tanks „Cepos“ (Centrum für politische Studien), die im Auftrag der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (FAZ) durchgeführt worden ist. Wie sich später herausstellen sollte, hatten sich sowohl in Junckers Darstellung der Zahlen wie auch in die der FAZ Fehler eingeschlichen. Der Betrag der 300 Millionen bezog sich auf die geschätzten jährlichen Kosten von Kontrollen auf beiden Seiten der dänisch-schwedischen Brücke, schreibt Otto Brons-Peterson von „Cepos“ in einer Stellungnahme.
Da bislang jedoch nur auf einer Seite der Brücke kontrolliert werde, würden sich die Kosten auf die Hälfte, also auf 150 Millionen belaufen. Die 90 Millionen für den Rückstau bezogen sich ihrerseits auf systematische Kontrollen zwischen Dänemark und Deutschland. Da der Zoll derzeit jedoch nur punktuell Pässe kontrolliert, seien die zu erwartenden Kosten entsprechend niedriger.
Erstaunlich, dass die Kommission trotz der etwas fahrigen Zitierweise ihres Präsidenten bislang keine eigenen Zahlen vorlegte. Kaum vorstellbar, dass die Brüsseler Zentrale angesichts des aktuellen Drucks auf offene Grenzen keine hausinternen Berechnungen über die ökonomischen Folgen anstellt. Doch die Sprecher der Kommission weigerten sich wiederholt, diesbezüglich irgendwelche Einschätzungen preiszugeben.
Widersprüchliche EU-Politik
Ein Grund für die Zurückhaltung dürfte wohl darin liegen, dass Brüssel derzeit einen schwierigen Balance-Akt bewältigen muss: Einerseits setzt die Kommission sich politisch dafür ein, die Freizügigkeit im Schengen-Raum zu bewahren. Andererseits steht Brüssel unter dem Druck der Staaten, die ihre Grenzkontrollen erweitern wollen.
Für letzteres brauchen die jeweiligen Länder die EU-Kommission, die entsprechende Gesetzesänderungen auf den Weg bringen muss. Die Vorbereitungen dafür laufen indessen bereits auf Hochtouren.
Im Mittelpunkt steht Griechenland, das zunehmend in der EU isoliert wird. Am 2. Februar verabschiedete die Kommission einen Bericht, der dem Land an der Ägäis bescheinigt, die Schengen-Regeln ernsthaft zu vernachlässigen (woxx 1356). Kommt Griechenland binnen drei Monaten den Empfehlungen der Kommission nicht nach, können andere Schengen-Staaten die Einführung von Grenzkontrollen bis zu zwei Jahre lang beantragen.
Solche Reisebarrieren innerhalb der EU wiedereinzuführen steht im Widerspruch zu anderen Brüsseler Bemühungen. So sollen langfristige Maßnahmen gerade den grenzübergreifenden Verkehr fördern. Im Rahmen eines großangelegten Programms will Brüssel in den nächsten vier Jahren 26 Milliarden Euro in den Aufbau von neun pan-europäischen Transport-Korridoren investieren. Das Geld fließt in grenzüberschreitende Technologie und Infrastruktur.
„1,7 Millionen Europäer pendeln täglich, um an ihren Arbeitsplatz zu gelangen“, sagte Jean-Claude Juncker im Anschluss an seine Rechenbeispiele und fügte hinzu. „Das sind nicht sehr viele, angesichts dessen, dass sich allein 200.000 täglich nach Luxemburg bewegen.“ Der Kommissionspräsident weiß sehr genau, dass durch verschärfte Grenzkontrollen das Wirtschaftsmodell seines Heimatlandes wohl mehr als das jedes anderen Mitgliedsstaates in Frage gestellt wäre.
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