Das politische Nachspiel der Angriffe auf israelische Fußballfans in Amsterdam offenbarte die Unzulänglichkeiten bei der Diskussion von Antisemitismus in den Niederlanden und darüber hinaus.
Einen Monat ist es nun her, dass die Gewaltexzesse nach dem Fußball-Match zwischen Ajax Amsterdam und Maccabi Tel Aviv weltweit für Schlagzeilen sorgten. Ein teils motorisierter propalästinensischer Mob hatte Fans des israelischen Meisters auf dem Rückweg vom Stadion am Bahnhof aufgelauert und sie anschließend durch die Innenstadt gejagt, geprügelt, getreten, mit Feuerwerkskörpern beworfen. Auf den Straßen der niederländischen Hauptstadt wurden in jener Nacht Personen, die man für Israelis hielt, nach ihrem Ausweis gefragt und bei entsprechendem Befund attackiert.
Später erschien die „Judenjagd“, wie sie auf sozialen Medien angekündigt worden war, in einem anderen Licht: Weil eine Gruppe von Maccabi-Hooligans rassistische und kriegsverherrlichende Lieder gesungen, Palästina-Fahnen von Hauswänden gerissen und einen Taxifahrer misshandelt habe, sei die Gewalt eigentlich von den Israelis provoziert worden, und die entsetzten ersten Berichte internationaler Medien mithin nur ein weiteres Beispiel für ihre Voreingenommenheit zuungunsten propalästinensischer Aktivist*innen. So und ähnlich klang es in sozialen und nicht wenigen konventionellen Medien, wo die beiden Darstellungen um die Deutungshoheit konkurrierten.
Die Komplexität der Gemengelage ist alleine schon deshalb unbestreitbar, weil sich die Geschehnisse mit ihren jeweiligen Akteuren auf unterschiedlichen Ebenen abspielten: Hier die offensichtlich koordinierten und im Voraus geplanten Angriffe auf Maccabi-Fans, Israelis oder wen man dafür hielt, mit antisemitischem Charakter; dort der aggressive, rassistische Chauvinismus eines Teils dieser Fans, deren Hooliganismus stark von politischen Inhalten geprägt ist. Letzteres wiederum ist keine Seltenheit in dieser Szene, gerade wenn die Gesellschaft, innerhalb derer eine solche Gruppe agiert, sich im Krieg befindet. Wie das eine das andere nicht entschuldigt, so verbietet eine nuancierte und tiefgehende Analyse auch, beides gegeneinander aufzurechnen.
Dass genau dies geschah, macht deutlich, wie sehr es an einer adäquaten Analyse fehlt, und wie gefährlich das in einer so aufgewühlten und entflammbaren Situation ist. Sowohl in Statements in sozialen Medien und Gesprächen unter Bürger*innen als auch in Politik und Medien häuften sich in den Niederlanden stattdessen reflexhaft verkürzte Reaktionen. Allein, dass der israelische Ministerpräsident Benjamin Netanjahu oder der niederländische Rechtspopulist Geert Wilders von der „Partei für die Freiheit“ („Partij voor de Vrijheid“; PVV) die Geschehnisse ein „Pogrom“ nannten, war für viele sich als progressiv verstehende Akteur*innen ein Grund, dies zu bestreiten. Eine entsprechende Einordnung wurde von ihnen als proisraelische Propaganda abgetan.
Dabei erfüllte das, was in dieser „pechschwarzen Nacht“, wie sie die Amsterdamer Bürgermeisterin Femke Halsema später nannte, geschah, durchaus die Kriterien der heute gängigen Definition eines Pogroms. Diese ist weiter gefasst als der ursprüngliche Begriff, der sich strikt auf die historischen antijüdischen Ausschreitungen im Russland des späten 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts bezog.
Eine Frage drängte sich vor allem auf: Gibt es Raum für eine Position, die judenfeindliche Gewalt beim Namen nennt, ohne jene, die dies tun, umstandslos mit Wilders oder Netanjahu in einen Topf zu werfen? In den Niederlanden, die durch jahrzehntelange, hochgradig plakative und aggressive, intellektuell hingegen sehr dürftige Integrationsdebatten erheblich vorbelastet sind, ist das leider offenbar nicht der Fall. Im Nachspiel der Ereignisse sollte sich dies bald bestätigen.
Doch auch in anderen europäischen Gesellschaften herrscht eine vergleichbar beengte Konstellation. Als Korrespondent in den Niederlanden konnte es einem in den Tagen nach dem 7. November passieren, dass man von Auftraggebern für Artikel zum Thema angefragt wurde und sogleich eine Art inoffizieller Interpretationshilfe mitgeschickt bekam – in Form unverhohlener Empörung über Wilders, der die Situation für seine Zwecke ausnutze.
Dass er genau dies tut, steht außer Frage. Wilders und seine PVV bedienen sich, ebenso wie ihre europäischen Verbündeten, seit 20 Jahren gesellschaftlicher Entwicklungen und Konflikte, um gegen Migration und für identitären Nationalismus Stimmung zu machen. Im konkreten Fall begann Wilders am frühen Morgen nach den Ereignissen, die Mitglieder der von seiner eigenen Partei angeführten Regierung, der er selbst nicht angehört, via sozialen Medien mit markigen Forderungen zu bombardieren. Erneuter Zwischenruf: Lässt sich sein Verhalten kritisieren, ohne damit die gezielten und massenhaften Angriffe auf israelische Fans in jener Nacht zu relativieren?
Gibt es Raum für eine Position, die judenfeindliche Gewalt beim Namen nennt, ohne jene, die dies tun, umstandslos mit Wilders oder Netanjahu in einen Topf zu werfen?
Verbleiben wir noch einen Moment auf der Ebene dieser direkten Kommunikation zwischen Politiker*innen und ihrem Anhang auf sozialen Netzwerken. Geprägt von Akteuren wie Wilders, Trump und Bolsonaro wird diese Methode von Rechtspopulist*innen längst routinemäßig eingesetzt. Das Resultat ist umso verheerender, wenn eine unvollständige, unübersichtliche Faktenlage besteht. So wurden über die sozialen Medien zahllose „filmpjes“ verbreitet, kurze Filmchen, aus denen oft gar nicht eindeutig hervorging, was darin überhaupt zu sehen ist – ganz zu schweigen davon, dass sich der mutmaßliche Inhalt nicht rasch oder eindeutig verifizieren ließ.
Soweit die Ausgangslage nach den Ereignissen. Analysiert man sie in dieser Form, überrascht es wenig, dass die Turbulenzen danach erst so richtig begannen. Im Amsterdamer Gemeinderat und im niederländischen Parlament in Den Haag flogen bei Dringlichkeitssitzungen die Fetzen. Stephan van Baarle, Chef der stark migrantisch profilierten Partei „Denk“, konnte seinen Abscheu vor dem „Maccabi-Pack“, das er für die Ereignisse verantwortlich machte, gar nicht oft genug betonen. Mitglieder der rechten Koalition machten ihrerseits pauschal die vermeintlich gescheiterte Integration junger niederländischer Muslime für die Gewalt verantwortlich, da diese die niederländischen „Normen und Werte“ nicht teilten.
Seitdem erlebt die niederländische Integrationsdebatte, die seit den Tagen des populistischen Urvaters Pim Fortuyn latent vor sich hin köchelt und manchmal auch überkocht, ein heftiges Comeback. Muslimischen Antisemitismus zu diskutieren ist in diesem Kontext ohnehin kaum möglich, und offenbar schon gar nicht ohne pauschale Verdächtigungen und Vorverurteilungen von Minderheiten.
Die Rechte verfällt dabei gewohnheitsmäßig in ihre rabiate Antimigrations-Agenda; Vorschläge wie Abschiebungen im großen Stil und Entzug der Staatsbürgerschaft inbegriffen. Auf Seiten der Linken fehlt es indes an analytischem Rüstzeug und inhaltlicher Klarheit, wenn es darum geht, den Islamismus als Bedrohung ernstzunehmen und Antisemitismus als gesellschaftliches Problem zu thematisieren. Entsprechend unterstellt man in einer solchen Debatte vor allem „Islamophobie“, fürchtet weitere Polarisierung statt dringend benötigter Brücken zwischen Bevölkerungsgruppen und geht dem Thema daher gerne aus dem Weg.
Itay Garmy, Amsterdamer Gemeinderatsmitglied für die liberal-progressive Partei „Volt“, beschreibt die Zusammenhänge so: „Ohne das zu verallgemeinern: auf der einen Seite des politischen Spektrums besteht die Tendenz, Antisemitismus zu bagatellisieren, und auf der anderen benutzt man ihn für eine Agenda, um Migranten, Muslime oder Marokkaner abzustempeln. Dann geht es nicht mehr um das Thema, um das es gehen sollte, und auch nicht mehr um Lösungen.“ Auf der persönlichen Ebene, so Garmy, fühle er sich „als Jude ein bisschen ausgenutzt. Ich denke dann, dass wir als Minderheitsgruppe irgendwo dazwischen stehen und für eine bestimmte politische Agenda missbraucht werden.“
Keren Hirsch, eine in Israel geborene Sozialdemokratin, lokalpolitisch im Stadtteil Amsterdam-Süd aktiv, sagte der niederländischen Tageszeitung „Telegraaf“ unlängst, die Debatte mache sie „mutlos“. Um Wählerstimmen zu gewinnen, agierten die entsprechenden Akteure an ihr und auch anderen Betroffenen vorbei. Die jüdische Bevölkerung stehe „mit dem Rücken zur Wand“, so Hirsch weiter. „Den Ansatz der niederländischen Rechten“, die das Thema für sich zu nutzen versucht, bezeichnet sie als „wertlos“, denn der antisemitische „Hass kommt nicht nur von Leuten mit Migrationshintergrund.“ Aber auch von der Linken und der sogenannten politischen Mitte sei sie enttäuscht.
Femmetje de Wind, Schriftstellerin und Sprecherin des niederländischen Zweigs des internationalen Maccabi-Sportverbands, fasst die Sachlage so zusammen: „Das Problem ist, dass nur rechte Parteien sagen, dass die Grenze erreicht ist und wir Maßnahmen ergreifen müssen.“ Das werde dann wiederum von linken Partien kritisiert, „sodass ich mir denke: ‚gut, dann macht doch eigene Vorschläge!‘ Doch die kommen nicht. So fühlt man sich als jüdische Amsterdamerin wie ein Spielball zwischen der Rechten und der Linken.“
Die Frustration erklärt sich aus einer Konstellation, in der politische Identitäten und Positionierungen oft nachdem Motto „ganz oder gar nicht“ funktionieren. Kernelemente sind Themen mit hoher symbolischer Bedeutung, bezüglich derer sich die Meinungen quasi unversöhnlich gegenüberstehen, etwa Migration, Klima, Landwirtschaft, Gender, Europa oder auch der Nahostkonflikt. Auf welcher Seite man steht, kann dabei gelegentlich so zufällig-assoziativ sein wie Online-Shopping und scheint einem bekannten Motto zu gehorchen: „Sie haben diesen Artikel gekauft, also könnte Ihnen auch jener gefallen.“
Wie das funktioniert, zeigt ein Werbespot der NGO „Oxfam Novib“, der derzeit in den Niederlanden zu sehen ist: Demonstrant*innen mit Palästina-Fahnen und Klima-Aktivist*innen figurieren dort exemplarisch für den Kampf um eine bessere Welt. Anspruch und Konzept von verschiedenen Ebenen der Ausbeutung und Unterdrückung verkommen damit zu einer schablonenhaften Karikatur. Das ist selbstverständlich nicht nur in den Niederlanden der Fall. Itay Garmy bringt es so auf den Punkt: „In Europa ist die Tendenz, dass die Rechte für Jüdinnen, Juden und Israel ist, und die Linke dagegen. Man merkt daher auch, dass mehr Jüdinnen und Juden dazu neigen, sich mit rechten Parteien zu identifizieren.“
Im beschränkten niederländischen Diskurs bedeutet dies, dass das rechte Boulevardblatt „Telegraaf“ jenes Medium ist, das Antisemitismus am entschiedensten thematisiert und verurteilt. Zugleich befürwortet es die von der Rechtsregierung in Den Haag versprochene „strengste Migrationspolitik aller Zeiten“. Ende November veröffentlichte man die Ergebnisse einer eigenen Umfrage zum Stand der „Integration von Menschen mit Migrationshintergrund in die niederländische Gesellschaft“. Das Ergebnis: Um die Integration sei es schlecht bestellt, denn „Sprachprobleme und kulturelle Unterschiede“ stünden einer solchen regelmäßig im Weg.
Die Bekämpfung des Antisemitismus hat daher in den Debatten rund um den Rechtspopulismus ihren fest zugewiesenen Platz. Die Publizistin Nausicaa Marbe äußerte sich in einer Kolumne in der jüdischen Zeitschrift „Nieuw Israëlietisch Weekblad“ zum Vorwurf, sich vor den Karren der Rechten spannen zu lassen. „Die Gedanken der extremen Rechten über Antisemitismus dominieren die Diskussion, und nicht der Antisemitismus selbst“, kritisierte sie, und betont, dass „Judenhass schon lange vor dem 7. Oktober 2023 Alltag war“. Ihr Fazit: „Sollen Juden etwa leugnen, dass sie in Gefahr sind, um zu verhindern, dass die PVV stärker wird?“
Als Ende November eine Demonstration gegen Antisemitismus vor dem Amsterdamer Rathaus stattfand, wurden die Verhältnisse dort einmal mehr deutlich. „Wir stehen neben unseren Juden“ war das Motto, zu der eine Vielzahl jüdischer und christlicher Organisationen gemeinsam aufgerufen hatten. Ein Zeichen sollte es sein, ein Bekenntnis zu „Nie wieder“, wie es auf zahlreichen Plakaten stand, eine unmissverständliche Ansage.
Auf den ersten Blick wirkte das beeindruckend: Der Vorplatz des Rathauses war brechend voll. Doch der Platz ist nicht besonders groß, und was sind fünf-, sechs- oder siebenhundert Leute, in einer Stadt mit mehr als 900.000 Einwohner*innen? Einer Stadt mit einer jahrhundertelangen jüdischen Prägung, die sich selbst in ihrer populären Kultur, in Dialekt, Liedern und Gedichten, gerne und stolz Mokum nennt, so wie es ursprünglich die Jüdinnen und Juden der Gemeinde taten?
Ein Großteil der Teilnehmer*innen war zudem in Bussen aus den „bible belt“ genannten Regionen der Niederlande angereist, in denen mehr oder weniger fundamentalistische Calvinist*innen noch immer stark präsent sind. Unter anderem wurden an jenem Abend „Männer aus Urk“ als Vorbild für den Rest des Landes präsentiert, weil Menschen aus dem an der IJsselmeerküste gelegenen Ort, kaum dass sie die Berichte über die angegriffenen israelischen Fans gehört hatten, ins 80 Kilometer entfernte Amsterdam aufbrachen, um verängstigte israelische Opfer zum Flughafen zu fahren. Zweifellos eine beeindruckende Tat. Zugleich ist Urk, eine eingepolderte ehemalige Insel mit großer Fischereitradition, ein Bollwerk der orthodox-calvinistischen rechten „Staatkundig Gereformeerde Partij“ („Reformierte Politische Partei“; SGP), die die EU aus tiefstem Herzen ablehnt.
Einen Ausweg aus dieser Konstellation zeichnete der Amsterdamer Rabbiner Yanki Jacobs auf. Er verwies dazu auf eine Frage, die ihm dieser Tage „von jungen Menschen in unserer Gemeinschaft oft gestellt“ werde: „Gibt es eine Zukunft für Juden in den Niederlanden?“
Jacobs beantwortete sie mit einer bemerkenswerten Argumentation: „Es geht nicht nur um Antisemitismus, sondern um eine freie und sichere Gesellschaft. Und um die Frage: In welcher Gesellschaft wollen wir leben?“ Ein Zusammenhang, der in diesen Tagen kaum thematisiert wird. Feindschaft gegen Jüdinnen und Juden ist nicht nur ein Problem der Opfer, sondern der gesamten Gesellschaft. Jacobs schlussfolgerte: „Wenn es eine Zukunft für die Niederlande gibt, dann gibt es auch eine für Juden in den Niederlanden.“
Damit sich diese Erkenntnis durchsetzen kann, sind viele kleine Schritte nötig. Lokalpolitiker Garmy fordert vorläufig zwei davon. „Politiker*innen müssen deeskalieren statt Öl ins Feuer zu gießen und moralische Führungsqualitäten zeigen. Und dann braucht es präzise Worte um die Dinge beim Namen zu nennen. Keinen Antisemitismus bagatellisieren, und zugleich keine ganzen Gruppen abstempeln!“ Es wäre ein Anfang.