Erst ging es von Esch-Alzette aus in den Norden Luxemburgs, danach nach Belgien, um gegen Ende erneut in Esch anzukommen. Zum zweiten Mal illustrieren Nora Wagner und Kim El Ouardi die Rückseiten der woxx – dieses Mal nach Abschluss ihrer Reise, um einen Rückblick auf ihre nomadische Kollaboration zu werfen.
woxx: Ihr seid nach dreieinhalb Monaten von eurer nomadischen Reise quer durchs Land wieder in Esch angelangt. Welche Eindrücke bleiben euch im Kopf?
Nora Wagner: Die letzten Monate waren so reichhaltig und komplex, dass es schwer ist, es in Worte zu fassen. Am Positivisten ist, dass wir das Projekt durchgezogen und dabei viel Unterstützung bekommen haben. Wir haben gezeigt, dass ein solches Projekt machbar ist. Das stellt für mich die negativen Aspekte in den Schatten.
Kim El Ouardi: Wir haben an einem Tag so viel erlebt, wie vorher in einem Monat. Dabei hat sich mein Bezug zur Natur verändert. Ich sehe das Land mit anderen Augen. Ein kleiner Berg etwa, wäre mir vorher nur als Hintergrundkulisse aufgefallen. Nun nehme ich die Umwelt deutlicher wahr.
Wie war euer Alltag unterwegs?
N.W.: Wir sind morgens um acht aufgestanden, haben etwas gegessen, die Zelte eingepackt und sind los. Unterwegs haben wir kurz Rast gemacht, um etwas zu essen oder um uns mit Leuten, denen wir unterwegs begegnet sind, zu unterhalten. Mal wurden wir zum Kaffee oder zum Essen eingeladen, mal haben wir etwas für unseren Film aufgenommen. Viele Leute sagten uns, sie wünschten, das Gleiche tun zu können. Einigen war das Projekt auch egal, aber die Initiative wurde von den meisten begrüßt.
Unterwegs habt ihr mit anderen Künstler*innen und Dutzenden von Kindern und Jugendlichen Workshops veranstaltet und Filmszenen gedreht: Was ist bei diesen Kollaborationen herausgekommen?
N.W.: Unsere Anfangsidee war, einzelne Momente während der Workshops zu filmen. Dabei sind teils skurrile Szenen herausgekommen, teils politische oder auch mystische. Vor unserer Reise haben wir uns Referenzfilme angeschaut, Der Baron von Münchhausen etwa. Wir wollten sehen, inwiefern es wichtig ist, die Wahrheit zu sagen, statt eine gute Geschichte zu erzählen, und ab wann eine Geschichte zur Wahrheit wird.
Habt ihr auf diese Fragen eine Antwort gefunden?
N.W.: Teils. Als wir mit Jugendlichen, die aus schwierigen sozialen Verhältnissen kommen, gearbeitet haben, wurden wir mit diesen Fragen konfrontiert. Die ursprüngliche Idee war, eine Szene über soziale Themen zu drehen. Doch die Jugendlichen hatten eher Lust, eine Geschichte über übernatürliche Kräfte, Geister und Zauberer zu erzählen. Die Frage war dann eher, welche Art von Geschichte wir im Film erzählen wollen und wie wir denjenigen, denen wir im Film eine Stimme geben wollen, am Besten zuhören können. In diesen Momenten war der Prozess wichtiger als die Botschaft.
Wie kann man sich dieses Road- movie vorstellen?
K.E.O.: Was ich persönlich mit dem Film vermitteln möchte ist das Gefühl der Freiheit, das wir während der letzten Monate gespürt haben. Ich möchte, dass die Leute im Kino einige Momente lang in den Wald eintauchen und unseren Weg miterleben können, um ihnen die Lust zu geben, ein ähnliches Abenteuer zu erleben. Vielleicht kein so langes – jeder müsste jedoch etwas ähnliches machen, weil es die Perspektive auf das Leben verändert.
N.W.: Eine Freiwillige etwa hat sich erst nach zwei Wochen dazu entschlossen, ihr Handy auszuschalten. Erst ab dem Zeitpunkt, meinte sie, wurde die Reise zu einer richtigen Erfahrung. Wir kriegen einfach eine andere Sicht auf die Realität, wenn wir uns einlassen.
Seht ihr darin auch die Rolle der Kunst, Leuten einen anderen Bezug zur Realität zu bieten?
N.W.: Ich denke nicht, dass dies die Aufgabe der Kunst ist, sondern eher die der Politik und des Bildungssystems. Kunst kann aufmerksam machen, doch ist sie oft ein Abklatsch der Realität und ersetzt schlussendlich nicht die richtige Erfahrung.
In unserem Gespräch vor eurer Abreise meintet ihr, ihr wollt auf den Ressourcenverbrauch in unserer Gesellschaft aufmerksam machen. Ist euch dies gelungen?
N.W.: Wir hatten anfangs beschlossen, nur Solarenergie zu nutzen. Dann hat es aber wochenlang geregnet und wir mussten andere Formen der Energie nutzen, um unseren Film zu drehen. Die Ressourcen an denen es uns aber am meisten gemangelt hat, waren Menschen und Zeit. Das Kernteam bestand bloß aus Kim und mir und war deshalb viel zu klein: Wir haben uns komplett übernommen. Allein die physische Anstrengung war enorm, um die kleinen Wagen, die wir dabei hatten, über die matschigen Waldpfade zu ziehen.
K.E.O.: Da hat es uns auch an Freiwilligen gefehlt und an einer dritten Person im Team. Doch die meisten wollen sich die Zeit für ein solches Projekt nicht nehmen.
Drei Monate ununterbrochen weg zu sein ist für die meisten auch etwas schwierig.
N.W.: Ja. In dem Sinne bräuchten wir alle mehr Zeit. Das ist die größere Herausforderung.
Was würdet ihr denn, wenn ihr ein solches Projekt nochmal machen würdet, anders angehen?
N.W.: Ich würde auf jeden Fall auch einen Psychologen mitnehmen, der sowohl uns als auch die Personen, mit denen wir zusammengearbeitet haben, regelmäßig betreuen kann.
An welchen mentalen Herausforderungen seid ihr denn gestoßen?
N.W.: Dauernd verfügbar zu sein ‒ ob für die Freiwilligen, die wir koordiniert haben, oder für die Personen, mit denen wir zusammengearbeitet haben ‒ war teils überfordernd. Auch sind die einzelnen Geschichten, die wir während der Workshops gehört haben, schwer zu verdauen.
K.E.O.: Während unserer Reise sind wir auch an großen Bauprojekten, leeren Wohnungen, Jugendlichen, die von der Gesellschaft vergessen, und Naturreservaten, die nicht respektiert werden, vorbeigekommen. Das alles fügt zum Gefühl der Hilflosigkeit hinzu. Ich würde das Ganze trotzdem nochmal machen.
Warum ist ein solch nomadisches Projekt denn auch für andere Menschen wichtig?
K.E.O.: Solche Projekte sind wichtig, um zu lernen, im Dialog besser miteinander umzugehen.
N.W.: Bei den Jugendlichen haben wir etwa einen großen Unterschied gemerkt. Anfangs waren alle richtig angespannt, teils aggressiv. Dies hat sich während der Kollaboration etwas gelegt, sie sind respektvoller miteinander umgegangen. Einige haben uns später erzählt, wie wichtig es für sie war, alternative erwachsene Referenzpersonen zu haben. Dass ihnen die respektvolle Kommunikation im Alltag oft fehlt. Das war zwar schön zu hören, aber auch erschreckend. Es gibt viele junge Leute, die hier in Luxemburg sozialisiert sind und in die Schule gehen, doch denen es an erwachsenen Referenzpersonen mangelt. Im Hinblick auf den Schutz unserer Umwelt müssen wir raus in die Natur und uns deren Zerstörung bewusst werden.