Belgien: Elite der Anti-Elitären

Die rechtspopulistische „Bewegung für ein Europa der Nationen und der Freiheit“ hat am vergangenen Wochenende in Brüssel gegen den UN-Migrationspakt mobilisiert. Dabei hatte man fest die Europawahlen im Blick.

Rekuperation einer Revolte? Steve Bannon und andere Rechtspopulisten reklamieren die Proteste der „gilets jaunes“ für ihre eigene „Bewegung“ und verweisen dabei auf den Wiederspruch von Stadt und Land und den Kampf gegen die Eliten. Unser Foto zeigt Teilnehmer einer Gelbwesten-Demonstration vor einer Polizeikette, am Samstag vergangener Woche in Brüssel. (Fotos: Patrick Galbats)

Wo Steve Bannon ist, schlägt der Puls der Zeit. Das zumindest will der ehemalige Chefstratege von US-Präsident Donald Trump gerne glauben machen. So auch am vergangenen Samstagnachmittag in Brüssel: Die Innenstadt ist in banger Erwartung, ob es abermals Ausschreitungen der „gilets jaunes“ geben wird, an den Straßenecken stehen Polizisten in Kampfmontur hinter stacheldrahtbewehrten Absperrgittern. Bis ins flämische Parlament dringen die gellenden Polizeisirenen und der Hubschrauberlärm. Drinnen tagt die „Bewegung für ein Europa der Nationen und der Freiheit” (MENF), und Bannon wird als Stargast präsentiert. Der stellt sich an die Seite der Protestierenden, die er zu vereinnahmen weiß. „Unsere Freunde“, nennt er sie. „Es sind die gleichen, die Trump gewählt und für den Brexit gestimmt haben.“

Beim europapolitischen Parteienbündnis der „Bewegung“ liebt man solche Interpretationen. Dort kultiviert man das Motiv des „patriotischen Bürgers“, abgehängt von den Eliten, der sich nun vom Opfer zum Protagonisten aufgeschwungen hat. Gerolf Annemans, der Präsident des Bündnisses europäischer Rechtspopulisten, wendet sich per Videoschalte an das Brüsseler Publikum. Hochsymbolisch, denn er hält sich in Ungarn auf, das er als „Vorbildland“ bezeichnet. Hinter ihm ragt ein üppiger Christbaum empor. „Wir stehen an einem historischen Scheideweg”, so Annemans.

Als ersten Schritt auf dem für richtig gehaltenen Weg hat man den Protest gegen den UN-Migrationsvertrag von Marrakesch ausgemacht, der auf Tafeln und Flugblättern als „Selbstmordpakt“ bezeichnet wird. Einige hundert Geneigte haben sich nach Brüssel begeben, in einen Empfangsraum des flämischen Parlaments, der in gleißend blaues Licht getaucht ist. Die Atmosphäre lässt an eine Bahnhofstoilette denken, wo man mit grell-reizüberflutendem Ambiente Junkies abwimmeln will. Denn auch die Anwesenden hier sind im Verteidigungsmodus: gegen den Verlust nationalstaatlicher Souveränität, den man unter den Versammelten gerade auch im UN-Migrationspakt erkennt.

Als „antisozial“ und „Pakt mit dem Teufel“ geißelt die ebenfalls anwesende Marine Le Pen den für die Staaten nicht bindenden Vertrag. Als Mitbegründerin und Ikone der Bewegung ist sie wie üblich mit schärfster verbaler Munition angerückt. „Der Pakt ist ein Verrat der Nationen.” Tom Van Grieken, Vorsitzender des gastgebenden Vlaams Belang, spricht von einer „offenen Einladung an die ganze Welt, hierherzukommen“: „Familiennachzug soll vereinfacht, Sammelabschiebungen verboten und Illegalität nicht bestraft werden.“ Schon die Präambel des Pakts, wonach Migration als „Quelle von Wohlfahrt“ fungiert, ist Van Grieken zuwider.

Dabei liegt es auf der Hand, dass man auch unter den Anwesenden von „Masseneinwanderung“, so der gängige Duktus, profitiert. Denn gerade deren Ablehnung ist eines der Elemente, die Lega und FPÖ, Rassemblement National und Vlaams Belang, den polnischen „Kongress der Neuen Rechten“ (KNP) oder die tschechische „Freiheit und direkte Demokratie“ (SPD) vereinen. Ein vergleichbares Bindeglied liefern ansonsten nur die Gegnerschaft zur EU – „die Europäisten gegen die wahren Europäer“, so Marine Le Pen – sowie die Inszenierung als Rebellen gegen die etablierte Politik. Steve Bannon verwirft Migration als „globalistisches Projekt“. Analog ist der Protest dagegen ein Leitmotiv des nationalstaatlichen Rollbacks.

Während die Frage der Migration Bündnisse schaffen hilft, führt sie zugleich auch zu Spaltungen. Auch das konnte man am vergangenen Wochenende in Brüssel erleben. Die Frage, ob Premierminister Charles Michel vom liberalen Mouvement Réformateur im Namen der Regierung in Marrakesch den Vertrag unterzeichnen soll, erwies sich für die Koalition als Zerreißprobe, deren deutlich absehbares Ende ein ums andere Mal aufgeschoben worden war, weil niemand dafür die Verantwortung tragen wollte: nicht die flämischen Nationalisten der N-VA, nicht die verbleibenden Liberalen und Christdemokraten um Premier Michel. Am vergangenen Sonntagabend dann die Entscheidung: Die N-VA-Minister treten von ihren Ämtern zurück, Michel führt fortan eine Minderheitsregierung.

Regierungskrise in Brüssel

Wie sich daran zeigt, hat das Schreckbild der Masseneinwanderung den vor kurzem noch abgeschlagenen rechtsradikalen Vlaams Belang nicht nur wieder ins Rennen gebracht. Es hat der Partei auch die Knute verschafft, um die Rechtsnationalisten von der N-VA nun vor sich herzutreiben. Bei den Kommunalwahlen im Herbst hatte die N-VA-Wähler eingebüßt, der Vlaams Belang profitierte. Auch deshalb hat die N-VA nun den ursprünglich von ihr akzeptierten UN-Migrationspakt genutzt, um sich einer rechten Klientel anzudienen; sie forderte den Premierminister auf, den Vertrag nicht zu unterzeichnen, da innerhalb der Regierung keine Einigkeit bestehe. Der hatte sich daraufhin im Parlament eine alternative Mehrheit beschafft und sich dennoch auf den Weg nach Marrakesch gemacht.

Der Vlaams Belang als Stressfaktor des Establishments – bei den anwesenden Vertretern flämisch-nationalistischer Organisationen sorgt dieses Bild am vergangenen Samstag für strahlende Gesichter. Parteivorsitzender Tom Van Grieken klopft sich begeistert selbst auf die Schulter. Die in Belgien vorgemachte Übung macht offenbar Schule, so etwa bei der tschechischen Partei SPD. Deren Vizevorsitzender Radim Fiala erntet großen Applaus, als er sagt, Tschechien werde den Vertrag dank des Drucks der SPD nicht unterzeichnen. Auch Fiala geißelt Migration als „globalisierte Attacke auf die nationale Kultur”.

Auftritte wie den Fialas’ kennt man von Treffen der MENF und der aus ihr hervorgegangenen Fraktion im EU-Parlament, „Europe of Nations and Freedom“ (ENF), zur Genüge. Bislang spielen die Vertreter der kleinen Parteien aus dem Osten nur in Nebenrollen. Fiala passt einerseits in dieses Bild, andererseits jedoch ist seine Partei ein Vorbild, hat sie doch erreicht, was die Verbündeten in Frankreich, Italien oder Belgien erst anstreben: eine Diskursmacht, die sich auch in politischen Entscheidungen manifestiert.

Auch um die Kräfte in diesem Sinne zu bündeln, ist Steve Bannon gekommen. Oder wie sonst soll man seine Anwesenheit interpretieren? Dass er in Europa an einem rechten, nationalistischen Bündnis namens „The Movement“ schmieden will, ist bekannt. Im Januar plant man in Brüssel einen ersten Auftritt. Als rechte Hand Bannons gilt bislang der Anwalt Mischaël Mondrikamen, Gründer des vor allem im frankophonen Belgien aktiven „Parti Populaire“.

Spricht Bannons Auftritt also für einen breiten Schulterschluss der neuen europäischen Rechten? Bannon selbst lehnt das ab. Er sei kein Strippenzieher, betont er bei der anschließenden Presse-Konferenz. „Ich bin nicht gekommen, um irgendjemanden zu vereinigen.“ Auch Philip Claeys (Vlaams Belang), der MENF-Generalsekretär, besteht darauf, man habe Bannon lediglich eingeladen, weil man ihn interessant finde, nicht um Teil seiner Bewegung zu werden oder zusammenzuwachsen. Was er hingegen einräumt, sind die eigenen Ambitionen, sich im Hinblick auf die EU-Wahlen in Mai zu vergrößern. „Wir werden wohl neue Mitglieder haben.“ Welche das sein könnten, lässt Claeys offen.

Bannon selbst gibt durchaus zu, dass ihm an einer möglichst breiten Allianz gelegen ist. Diese sieht er als Vertretung der „arbeitenden Männer und Frauen“ an, denen erst Politiker wie Donald Trump oder Matteo Salvini wieder eine Stimme gegeben hätten. Mehrfach bezieht Bannon auch Jair Bolsonaro, den angehenden brasilianischen Präsidenten, mit ein. Dessen offen vorgebrachte faschistoide Assoziationen reichen weit über alles hinaus, was sich die meisten europäischen Rechtspopulisten in der Öffentlichkeit derzeit erlauben. Beim MENF beschränkt man sich bis auf weiteres auf Gemeinsamkeiten in puncto Nationalismus und hinsichtlich des anti-elitären Habitus.

„Juwel Nationalstaat“

Vor allem jedoch teilen die Versammelten die Absicht, die politischen Spektren neu zu ordnen. Steve Bannon zitiert einen Ausspruch Marine Le Pens, wonach der Gegensatz zwischen Rechts und Links durch einen neuen ersetzt worden sei: zwischen jenen, die den Nationalstaat als ein Hindernis sehen, und anderen, denen er als „Juwel“ gelte.

Noch drastischer formuliert es Tom Van Grieken, der junge Vorsitzende des Vlaams Belang: auf der einen Seite sieht er „Patrioten, die ihre Länder und Familien verteidigen“, auf der anderen „eine weltfremde Elite in Wolkenkratzern in New York“ und anderen Metropolen. In deren Interesse hätten sich „Linke, die Immigration begrüßen“ mit Neoliberalen zusammengetan, denen an billiger Arbeitskraft gelegen ist. Nach just diesem Muster habe auch die belgische Regierung der Bevölkerung den Marrakesch-Vertrag aufgezwungen.

Kaum später wird die N-VA die besagte Regierung verlassen. Ob die verbleibende Koalition bis zu den turnusmäßigen Wahlen bestehen bleiben kann, hängt davon ab, ob es zu einem Misstrauensvotum gegen die von Michel geführte Minderheitsregierung kommt. Noch ist ein solches Votum nicht vereinbart, doch das könnte am kommenden Dienstag geschehen. Falls es zugunsten der Regierung ausfällt, werden die Belgier erst am 26. Mai an die Urnen gerufen – für das föderale wie für das EU-Parlament. Tom Van Grieken jedenfalls hat den Wahlkampf bereits zum Referendum über Migration erklärt – und vermutlich hat er beide Wahlen damit gemeint.

Tobias Müller berichtet für die woxx aus Belgien und den Niederlanden.

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