El Alto heißt die am schnellsten wachsende Stadt Lateinamerikas. Aus der verrufenen Zuwandererstadt oberhalb von La Paz ist ein quirliger Handelsplatz geworden. Hier findet sich auch eine Machtbasis von Evo Morales. Doch unumstritten ist der Präsident längst nicht mehr.
Mit dem Rücken zum Tal hat man sie montiert – eine Statue in der traditionellen Kleidung „Chola Aymara“. Mitten auf der Plaza Ballivián steht die Ikone, „Bombím“ (Melone) auf dem Kopf, ins Umhängetuch „Manta“ und den Faltenrock „Pollera“ gehüllt. Die weibliche Figur steht auf einer Weltkugel, von wo aus sie die „Wiphala“, die Flagge der indigenen Bevölkerung schwenkt.
„Die ‚Chola Aymara‘ ist ein Symbol El Altos, sie soll an die Opfer des ‚Gaskrieges‘ von 2003 erinnern“, erläutert Mario Rodríguez, ein graumelierter Endvierziger mit schlichter John-Lennon-Brille. Damals hatten die Alteños sich gegen den Ausverkauf der nationalen Erdgas-Ressourcen erhoben, hatten Straßen und Plätze besetzt, worauf Armee und Polizei brutal gegen die Demonstranten vorgegangen war. Ungefähr genausolang, seit 15 Jahren nämlich, gibt es auch den kommunalen Sender „Radio Wayna Tambo“, bei dem der Lehrer und Theaterregisseur als Moderator tätig ist. Der Sender ist aus dem gleichnamigen Kulturzentrum hervorgegangen und liefert mehr als nur Musik.
Zahlreiche autonome Gruppen aus dem benachbarten Stadtviertel Villa Dolores sind mit von der Partie und berichten über Jugendkultur, die Rolle der Frauen in El Alto oder analysieren neue Infrastrukturprojekte für die zweitgrößte Stadt Boliviens.
„Wer nicht für uns ist, ist gegen uns“, lautet inzwischen die Devise von Evo Morales‘ Partei.
El Alto besteht aus vierzehn Bezirken. Einige sind auch in der Radiogruppe von Wayna Tambo vertreten. So auch der nahegelegene Bezirk Ballivián mit seinem Verkehrsdrehkreuz, der Plaza Ballivián. Über den ovalen, von bunten, im Aymara-Barock dekorierten Häusern eingefassten Platz, fließt ein Teil des Verkehrs in die benachbarten Stadtteile, aber auch in das etwa siebenhundert Meter tiefer gelegene La Paz. Gleich hinter der Haltestelle für Kleinbusse, wo Halbwüchsige lauthals die Fahrtziele ausrufen und den Fahrpreis kassieren, endet das 4.100 Meter hoch liegende Plateau, auf dem El Alto entstanden ist. Von hier hat man einen prächtigen Blick über den engen, zerklüfteten Talkessel, in den sich La Paz quetscht.
La Paz ist der Regierungssitz Boliviens, dort fallen die wichtigen politischen und ökonomischen Entscheidungen für das knapp elf Millionen Einwohner zählende Land. Doch immerhin zehn Prozent der Gesamtbevölkerung wohnen in El Alto, der am schnellsten wachsenden Stadt des Landes, die Anfang März 1985 auf der Hochebene oberhalb von La Paz gegründet worden ist.
Lange galt „die Hochgelegene“, wie El Alto übersetzt heißt, als dreckig, kriminell und chaotisch. Dabei war die Stadt der Zuwanderer von Beginn an auch innovativ und kreativ. Dafür ist das 1994 gegründete Kulturzentrum „Wayna Tambo“ genauso ein Beleg wie „Compa“, das in dem benachbarten Stadtviertel „Ciudad Satelite“ liegende Theater- und Kulturzentrum. Beide haben sich zu kulturellen Drehscheiben gemausert, wo Theater-, Kino-, Rap- und Wandmalereiprojekte Form annehmen, aber wo vor allem auch diskutiert wird – über El Alto und den Wandel der Stadt, die längst mehr ist als ein Handelszentrum und die Hochburg der Aymara-Ethnie. Letzterer gehört auch Evo Morales an und Boliviens Präsident weiß genau so gut wie die „Alteños“, so werden die Bewohner der Oberstadt von La Paz genannt, wer ihn in den Regierungssitz Palacio Murillos getragen hat.
„Der Gaskrieg von September und Oktober 2003 war der Wendepunkt“, erklärt Mario Rodríguez. „Unter den fast achtzig Opfern gab es mehrere Frauen“, erklärt er. Er ist Sohn eines Bergmanns, in El Alto aufgewachsen und hat die Proteste hautnah miterlebt.
Das Kulturzentrum „Wayna Tambo“ war schon damals einer der Anlaufpunkte. Dort entwarfen die Nachbarschaftsräte Strategien gegen die Militärs. Heute wird dort und im „Compa“ die eigene Kultur und deren Vielfalt entdeckt. Dort ist mit „Arriba El Alto“ auch ein rasantes Theaterstück zu Aufbruch und Aufschwung der Stadt entstanden. „El Alto ist mit seiner hohen Mobilisierungsfähigkeit für die Regierung von Evo Morales in den vergangenen elf Jahren eine Bastion gewesen, aber die Zahl der kritischen Parolen hat in den letzten Jahren stark zugenommen“, erklärt Iván Nogales, Theatermann, Alteño und umtriebiger Netzwerker für mehr kulturelle Freiräume.
„Das Geschlechter- verhältnis spielt in der öffentlichen Debatte eine viel zu nachrangige Rolle.“
Er gehört zu den rund zwei Dutzend Kulturschaffenden aus El Alto, die am 6. März ins Kulturministerium geladen waren, um den 32. Jahrestag der Gründung von El Alto feierlich zu begehen. „Doch so eine Einladung ist für uns nur eine Geste. Man schmückt sich zwar gern mit einem Theaterprojekt, welches auch im Ausland seine Erfolge hat, aber wir erhalten keine Förderung und wollen auch unsere Eigenständigkeit behalten“, sagt der Theatermann. Ihm passt es nicht, dass die Leitlinie des „Movimiento al Socialismo“ (MAS), der Partei von Evo Morales, die Vereinnahmung geworden ist.
Wer nicht für uns ist, ist gegen uns, lautet inzwischen die Devise. Eigenständige Organisationen – ob politischer, sozialer oder auch kultureller Art – werden in die MAS gezwungen. Das geschieht manchmal mit Zugeständnissen, oft mit Druck und längst nicht immer freiwillig. Dieses Vorgehen, welches schon seit sechs, sieben Jahren die politische Realität des Landes prägt, hat dem Präsidenten in El Alto nicht nur Freunde gemacht. „Der Slogan „El Alto immer auf den Füssen, nie auf Knien“, der für den rebellischen Geist der Stadt steht, beinhaltet eine gehörige Portion Unabhängigkeit – und die wird von mehr und mehr Organisationen in El Alto auch wieder eingefordert“, erläutert Nogales.
Das Theater- und Kulturzentrum „Compa“ gehört genauso dazu wie „Wayna Tambo“ oder die „Casa de la Solidaridad“ im Einwanderungsviertel Villa Paulina, im achten Bezirk von El Alto. Dort wird mit Schülern, Lehrern und Eltern zusammengearbeitet, um sich einem der drängenden Probleme El Altos zu widmen: der Perspektivlosigkeit der Jugend und der intrafamiliären Gewalt.
„Wir haben mit den Schülern einer benachbarten Schule dazu ein Stück entwickelt und wollen damit durch die Schulen der Stadt touren“, erklärt Federico Chipana. Er hat die „Casa de la Solidaridad“ aufgebaut, gehörte Anfang März auch zu den Gästen im Kulturministerium, kritisiert aber, dass viel zu wenig gemacht wird, um der jüngeren Generation Optionen aufzuzeigen.
„Positiv ist, dass Schulen wie das Colegio Los Angeles gebaut werden. Aber die Schule für mehr als 1.000 Schüler ist so liederlich konstruiert, dass die Toiletten nicht benutzbar sind und Mauern Risse aufweisen“, schildert Chipana Probleme, die auch anderswo auftauchen. Das sorgt für Unmut bei Eltern und Lehrern, die zudem dafür plädieren, die Lehrpläne den gesellschaftlichen Problemen anzupassen – intrafamiliäre Gewalt gehört eindeutig dazu.
„Doch das Geschlechterverhältnis spielt im Unterricht und auch in der öffentlichen Debatte eine viel zu nachrangige Rolle“, kritisiert Chipana. Zwar habe die Regierung Morales Gesetze erlassen, um Frauen besser zu schützen, aber in Vierteln wie Villa Paulina sei weder eine Polizeiwache noch eine Patrouille im Einsatz. Also warnen an Strommasten oder Laternen aufgeknüpfte Puppen vor drohender Selbstjustiz durch die Bewohner. Schilder an den Puppen oder Warnungen an Häuserwänden machen Diebe darauf aufmerksam, dass sie erhängt oder auch lebendig verbrannt werden, wenn sie auf frischer Tat ertappt werden.
Diesen Hang zur Selbstjustiz und zur Gewaltanwendung taucht auch in dem Stück der Schüler des „Colegio Los Angeles“ auf, findet sich aber auch in „Arriba El Alto“ wieder, denn die Zuwanderer, die aus allen anderen Verwaltungsbezirken Boliviens in die dynamische Stadt oberhalb von La Paz ziehen, sind es gewohnt ihre Probleme selbst zu lösen. „Sie organisieren sich, finden alternative Strukturen wie die Nachbarschaftsräte und organisieren den Alltag, wenn es sonst niemand tut“, erklärt Iván Nogales das Prozedere.
Die Nachbarschaftsräte waren für die kleinteilige Struktur der Stadtteile verantwortlich, haben über das Anlegen von Straßen, Fußballplätzen und Schulen entschieden, die meist in Eigenregie gebaut worden sind. Heute, zehn, zwanzig oder auch dreißig Jahre später, gibt es immer mal wieder Reibereien mit der Stadtverwaltung, wenn größere Projekte ohne ihre Mitsprache beschlossen werden.
In El Alto wird Mitbestimmung groß geschrieben und die lokale Autonomie verteidigt. Das gefällt Künstlern wie Mario Rodríguez oder Iván Nogales. Beide haben Spaß an der Auseinandersetzung und beide haben ihre Erfahrungen mit den jeweiligen Nachbarschaftsräten gemacht und wissen, weshalb die Alteños so für sich selbst sorgen. „Das hat seinen Ursprung in der Kultur der Selbständigkeit. Die Leute sind es gewohnt für sich zu sorgen, zu entscheiden und erwarten wenig von Oben“, erläutert Theatermann Iván Nogales. Wie sein Kollege Rodríguez hat er unten in La Paz studiert, aber sein Leben oben in El Alto gelebt. Beide fanden und finden das stigmatisierte El Alto spannender als das enge La Paz.
In El Alto wird Mitbestimmung groß geschrieben und die lokale Autonomie verteidigt.
Auch junge Künstler wie der Aymara-Raper Ukamau y Ké stehen für die Auseinandersetzung der Jugend mit der Stadt El Alto. Dort wird der Regierung auf die Finger geschaut. Die Solidaritätsparolen mit dem Widerstand gegen den Plan der Regierung, eine Straße durch den Nationalpark und das Indigenen-Schutzgebiet „Isiboro-Sécure“ zu bauen, sind verblichen, aber durchaus noch lesbar. Das brutale Vorgehen der Polizei damals gegen die Demonstranten sorgte in El Alto für reichlich Kritik und haben dem Präsidenten Minuspunkte eingebracht. Gleiches gilt für die Tatsache, dass die oppositionelle Bürgermeisterin von El Alto immer wieder um Ressourcen mit der Zentralregierung feilschen muss. „Zuviel Parteibuchdenken“ attestieren Nogales und Rodríguez dem MAS von Evo Morales und plädieren dafür, den kritischen Geist der Menschen zu stärken.
„Wir brauchen mehr Kooperationsprojekte mit den Schulen, neue Strukturen und da fehlt noch einiges“, moniert Nogales. Das Problem dabei ist jedoch, dass man diese Art von Investitionen nicht einweihen, vorzeigen und schmücken kann und die Regierungspartei Bewegung zum Sozialismus (MAS) befindet sich scheinbar im permanenten Wahlkampfmodus. „Eine weitere Amtsperiode Evos halte ich für wenig sinnvoll“, kritisiert Nogales. Er plädiert für mehr Dialog, mehr Partizipation und mehr Kritik, um Defizite in der nationalen Bildungs- und Kulturpolitik aufzufangen.
Dazu hat er das Netzwerk „Cultura viva comunitaria“ mitgegründet, welches in El Alto und darüber hinaus agiert. Ziel der Netzwerker von Kultur-, Jugend- und Bildungsorganisationen ist es, die Kultur von Unten zu fördern. Ein erster Kongress fand im Frühjahr 2013 mit rund 1.300 Teilnehmern aus ganz Lateinamerika statt. Kulturzentren wie „Compa“ und „Wayna Tambo“ hoffen, neben direkter Förderung auch die Entstehung einer vielfältigen Kulturpolitik anzuschieben. Für Projekte wie „Radio Wayna Tambo“, wo Meinungsvielfalt Trumpf ist, wäre das ein positives Signal. Doch die Realität sieht anders aus, denn Mittel hat das Ministerium auch zum 32. Gründungstag von El Alto an die Kulturschaffenden nicht zu vergeben.