Lynchmorde haben in Bolivien eine lange Tradition. Zwar gehen die Zahlen langsam zurück, doch in den Armutsvierteln der großen Städte wie El Alto wird weiter damit gedroht, Diebe aufzuknüpfen oder zu verbrennen.
Die aufgeknüpfte Puppe hängt an der Ecke der 15. Straße von El Alto, nur ein paar Steinwürfe entfernt vom Kulturzentrum Chasqui. Adela Quispe rollt mit den Augen als, sie den Ort auf dem Weg zur Universität von El Alto passiert. Der Sozialarbeiterin, die traditionell mit dem Pollera genannten Kleid, Hut und Umhängetuch gekleidet ist, passt es nicht, dass in der Nachbarschaft immer noch auf Abschreckung gesetzt wird. „Die verdammten Puppen sind ein Symbol der Selbstjustiz – wer auf frischer Tat beim Stehlen erwischt wird, soll wissen, dass er aufgeknüpft oder verbrannt wird“, sagt die Frau von Mitte vierzig genervt.
Solche Drohungen an die Adresse von Dieben und Kriminellen gibt es in vielen Vierteln der Stadt. Auch im Viertel „Estrellas de Bélen“, wo Chasqui an mehreren Schulen mit Kindern und Jugendlichen arbeitetet. Das Viertel gehört zum Distrikt Río Seco und liegt im Zentrum von El Alto, wo von Jahr zu Jahr mehr Menschen leben.
„El Alto ist von Zuwanderung, fehlender staatlicher Präsenz und viel Improvisation geprägt – Polizeipräsenz gibt es beispielsweise nur in wenigen Stadtteilen“, schildert Adela Quispe eine der zentralen Herausforderungen für die Zukunft. Ein Grund, weshalb die in Nachbarschaftskomitees organisierten Bewohner zur Selbstjustiz greifen: Puppen als Warnung an Strommasten aufknüpfen, aber auch Hauswände mit Parolen wie „Ladrón pillado será quemado“, soviel wie „jeder ertappte Dieb wird verbrannt“, versehen.
Die Warnungen jedoch sind bitter-ernst gemeint. Das belegen die Zahlen der „Defensoria del Pueblo“, eine Ombudsstelle für die Einhaltung von Grundrechten. Die registrierte 2013 nicht weniger als 79 Fälle von Lynchjustiz, zwei Jahre später waren es immerhin noch 32. Davon endeten fünf mit dem Tod der Betroffenen.
In ländlichen Regionen, aber auch im Umkreis großer Städte wie Santa Cruz, Cochabamba oder El Alto werden die meisten Fälle registriert, so die „Defensoria“. Allerdings ist unklar, ob wirklich alle Fälle auch in der Kategorie „Lynchmord“ abgelegt werden oder nicht. Das liegt zum einen an der bereits erwähnten fehlenden Präsenz der bolivianischen Polizei, zum anderen an der nicht sonderlich effektiven Justiz des Landes, so Tatiana Llanos.
Sie arbeitet selbst am Gericht von El Alto, welches sich nur einen Steinwurf entfernt vom Sitz der Regionalregierung befindet. Gleich gegenüber liegt die Auffahrt zur Autobahn, welche El Alto, mittlerweile die zweigrößte Stadt Boliviens, mit dem im zerklüfteten Tal liegenden Regierungssitz La Paz verbindet. Tatiana Llanos hat Jura studiert und die ersten Sprossen auf der Karriereleiter zur Staatsanwältin hinter sich.
Doch seit dem Tod ihres an Schizophrenie leidenden Bruders hat sich für sie alles verändert, wie die 26-Jährige sagt. „Mein Bruder, Carlos Simón Llano, wurde am 22. März 2016 in San Luis de San Roque sieben Stunden lang von einer aufgebrachten Menschenmenge geschlagen, gewürgt und schließlich angezündet“, sagt Tatiana Llano mit brüchiger Stimme. Viele Details der Ermordung ihres 32-jährigen Bruders hat sie recherchiert, weder Drohungen noch Geldofferten haben sie davon abgehalten, Gerechtigkeit einzuklagen. „Ich will nicht, dass mein Bruder als Dieb, der aufgeknüpft wurde, in Erinnerung bleibt. Davon gibt es schon zu viele“, sagt sie, streicht sich eine pechschwarze Haarsträhne aus dem Gesicht und mustert ihr Gegenüber mit einer Mischung aus Trauer und Entschlossenheit.
Mehrere der Täter hat sie ausfindig gemacht und Anzeige erstattet. Jedes Mal, wenn der Staatsanwalt zur Anhörung bittet, sitzt die schmale, junge Frau im Zuschauerraum und hört zu. Von den Angehörigen der Beklagten wurde sie beschimpft, weil sie nicht davon ablässt, die Justiz aufzufordern, weiter zu ermitteln und ihren Job zu machen. „Das ist in Bolivien längst nicht immer der Fall“, meint Tatiana Llano über die Gepflogenheiten ihres Berufsstandes und zieht die Stirn missbilligend in Falten.
Gegen Zwölf Uhr mittags hatte ihr Bruder an jenem Märztag das elterliche Haus in Horizontes, einem Stadtteil von El Alto, verlassen. Zwei, vielleicht drei Stunden später erreichte der kleine, relativ schmächtige Mann, der an Realitätsverlust litt und seine verstorbene Mutter suchte, San Luis de San Roque. Das Stadtviertel im siebten Distrikt von El Alto gehört zu den jüngsten der stetig wachsenden Zuwandererstadt El Alto. Die aus Holz und Plastikplanen zusammengezimmerten ersten Hütten sind unverputzten Ziegelwänden gewichen, die an staubigen Straßen stehen. Straßenlaternen sind die Ausnahme, nirgends sorgt ein Baum für etwas erfrischendes Grün. Durch eine dieser grauen Straßen stapfte Carlos Simón Llano an jenem Tag – bis er einer Frau aus der Nachbarschaft auffiel.
„Die verdammten Puppen sind ein Symbol der Selbstjustiz.“
Mit lauten Rufen „Ein Dieb, ein Dieb, fangt die Ratte“ habe die Frau ihre Umgebung alarmiert, erklärt Carlos Llanos jüngere Schwester, die im Stadtviertel den Hergang recherchiert hat. Ein gutes Dutzend Anwohner, vorwiegend Männer, habe sich daraufhin auf die Jagd nach ihrem Bruder gemacht. Schließlich sei er der Menge in die Hände gefallen.
„Er hatte nichts bei sich, weder einen Rucksack noch ein Handy, um potenzielle Komplizen zu rufen – es gab keine Anhaltspunkte, ihn als Dieb zu verdächtigen“, kritisiert Tatiana Llano. Sie hat mehrere anonyme Anrufe von Zeugen erhalten, hat in Gesprächen mit der Polizei und der Staatsanwaltschaft den Ablauf mühevoll rekonstruiert. Alles andere als einfach, aber sie kann sich noch gut erinnern, wie sie mit ihrem Vater dasaß und sich Sorgen machte, weil ihr Bruder nicht nach Hause kam.
„Es ist öfter allein spazieren gegangen, auch schon mal in Richtung des Ufers des nahegelegenen Titicacasees, aber als wir im Fernsehen die Nachrichten sahen und dort über den Fall eines Lynchmords berichtet wurde, waren wir hellwach. Mein Vater hatte da schon die Turnschuhe von Carlos erkannt“, erinnert sich Tatiana Llano.
24 Stunden später hatten Vater und Tochter die Leiche dann anhand der Turnschuhe, der Hosen und dem zerschlagenen Gesicht identifiziert. Gegen zehn Uhr abends sei ihr Bruder, dessen Foto Tatiana auf ihrer Facebook-Seite gepostet hat, laut Obduktion gestorben – ob an den Schlägen der aufgebrachten Menge, die ihn über Stunden verprügelt hatte, oder ob er letztlich gar qualvoll verbrannte, konnte nicht ermittelt werden. Die Leiche war erst am Morgen nach der Tat an einem nahegelegenen Sportplatz gefunden worden. Ein Bein und ein Arm erinnert sich, Tatiana Llano, waren von Hunden bis auf die Knochen abgenagt worden.
Details, die die angehende Staatsanwältin wütend machen, denn die Polizei hätte durchaus früher einschreiten und zumindest die Leiche ihres Bruders bergen können. „Doch dazu hätten sie sich mit der aufgebrachten Menge anlegen müssen“, sagt die sie mit einer wegwerfenden Handbewegung. Sie kann diese Umstände nicht vergessen, und das treibt sie an. Nicht zuletzt dank ihres Engagements wird mittlerweile gegen fünfzehn potenzielle Täter ermittelt.
Ermittlungserfolge bei Lynchmorden kommen nicht gerade häufig vor, bestätigt der Soziologe Héctor Luna Acevedo. Er arbeitet am Verfassungsgericht in Boliviens Hauptstadt Sucre und hat 2016 eine Studie zu den „Akten der Lynchmorde und der städtischen Unsicherheit in Bolivien“ verfasst. Darin weist der Wissenschaftler nach, dass Lynchmorde oft im Kontext von Migration, extremer Armut und fehlender staatlicher Präsenz stehen. Polizei und Ermittlungsbehörden seien in vielen der schnell wachsenden Stadtvierteln von El Alto, Cochabamba und Santa Cruz schlicht nicht präsent, sodass die aus ländlichen Regionen Zuziehenden sich in Nachbarschaftsräten organisieren und zur Selbstjustiz greifen, um sich vor Kriminalität zu schützen. Nächtliche Patrouillen gehören dabei oft dazu, um in den meist marginalisierten Stadtteilen für Sicherheit zu sorgen.
Im Fall von Carlos Llano stehen die Ermittler einer Nachbarschaft gegenüber, die sich gegenseitig deckt. Zwei Tage nach dem Lynchmord fanden die Beamten tiefe Gräben und Erdwälle auf der Straße vor, die den Zugang zum Tatort versperrten.
Eine Mauer des Schweigens ließ die Beamten bei ihren Ermittlungen abprallen, einige der Nachbarn stritten sogar ab, dass es einen Mord gegeben habe, berichtete die Tageszeitung „La Razon“ im Anschluss an die Tat. Solches Stillschweigen trug dazu bei, dass kaum ein Lynchmord in den letzten Jahren aufgeklärt wurde. Hinzu kommt, dass Polizei und Staatsanwaltschaft in dem Ruf stehen, die Hand aufzuhalten. Experten wie Acevedo gehen davon aus, dass die Dunkelziffer der Lynchmorde höher liegt als die Zahl der offiziell registrierten Fälle. Auch aus diesem Grund warnt die „Defensoria“, die Ombudsstelle für Grundrechte, vor dem Kreislauf von Gewalt und Straflosigkeit und mahnt zu mehr Effektivität von Seiten der Justiz.
Die angehende Staatsanwältin Tatiana Llano möchte mit der Verurteilung der Mörder ihres Bruders einen Präzedenzfall schaffen, um der Justiz wieder etwas mehr Glaubwürdigkeit zu verschaffen. Danach möchte sie sich für jene engagieren, die sich normalerweise kein Recht leisten können. „Die Armen“, sagt sie und lässt ein knappes Lächeln um ihre Lippen spielen. Ihr Glaube, dass sie Erfolg haben könnte, scheint nicht sonderlich ausgeprägt.