Bootsflüchtlinge in Großbritannien: Feindliche Umgebung

Nicht nur die Europäische Union setzt bei der Behandlung von Flüchtlingen wie auf der griechischen Insel Lesbos auf Abschreckung: Auch in einer Asylbewerberunterkunft nahe dem britischen Folkestone herrschen erbärmliche Zustände. Suizid-Versuche, ein massiver Ausbruch von Covid-19-Infektionen und die zunehmende Verzweiflung der Betroffenen erweisen sich als letztlich politisch einkalkuliert.

Nahe der Küste bei Dover aufgegriffen: Flüchtlinge in einem Boot der britischen Küstenwache am 13. August 2020. (Foto: EPA-EFE/Andy Rain)

Eine enorme, dunkelgraue Rauchwolke hängt über den niedrigen Backsteingebäuden der Flüchtlingsunterbringung. Der blaue Winterhimmel, von dem sich die Schwaden abheben, verdeutlicht deren Dimension. Bewohner versammeln sich vor dem brennenden Block, etliche machen Aufnahmen mit ihren Telefonen. Später wird einer von ihnen der britischen Zeitung „Guardian“ berichten, dass manche große Angst hatten, Teile des Dachs könnten herabstürzen. Sicherheitspersonal, Mitarbeiter und Manager der Einrichtung hätten sich aus dem Staub gemacht. „Alles war außer Kontrolle“, beschrieben sie die Situation in den „Napier Barracks“ nahe der südlich von Dover gelegenen Küstenstadt Folkestone. Glücklicherweise wurde trotz allem niemand verletzt.

Der Brand am Freitag vergangener Woche ist das bislang letzte Glied einer ganzen Kette von Extremsituationen und Notfällen, seit das ehemalige Militärlager im September 2020 in Betrieb genommen wurde. Nur für einen Monat sollten hier mehr als 400 Flüchtlinge, die per Boot von Calais oder Dunkerque aus den Ärmelkanal überquert hatten, untergebracht werden. Viele von ihnen sind Kurden aus dem Iran oder Irak, andere stammen aus Eritrea oder dem Sudan. Insgesamt überquerten vergangenes Jahr rund achteinhalbtausend Personen auf diese Weise den Kanal.

Aus einem Monat sind deren nun allerdings schon vier geworden. Im Schatten des Brexit-Tauziehen und der Coronoakrise spitzt sich in dem Lager, das unter der Verantwortung des Innenministeriums von einem privaten Betreiber namens „Clearsprings“ betrieben wird, die Lage dramatisch zu. All dies zeichnete sich bereits ab, als am 22. September die ersten Geflüchteten auf das Gelände gebracht wurden. Unter jenen, die von hinter dem Zaun zuschauten, war damals auch Bridget Chapman, die Sprecherin des „Kent Refugee Action Network“ (Kran). In einem Video, das im Internet zu sehen ist, spricht sie viele Fragen an, auf die man damals von den Verantwortlichen keine Antwort bekommen habe: „Wie viele Duschen gibt es? Wie viele Toiletten? Wie wird nach dem Wohlergehen der Bewohner geschaut? Und wie können mehr als 400 Leute hier Social Distancing einhalten?”

Viele derer, die den Bezug der zuvor leerstehenden und zum Abriss vorgesehen Kaserne beobachtet haben, empfinden die dortige Unterbringung der Asylbewerber als Zumutung. Seit immer mehr Menschen in Booten aus Frankreich herüberkommen, schlägt ihnen in England eine Welle der Xenophobie entgegen. Videoaufnahmen zeigen einen warmen Spätsommertag in Folkestone, und die Schaulustigen geben sich empört bis „angeekelt“, weil Asylbewerber in ihrer Stadt aufgenommen werden, während Kriegsveteranen angeblich auf der Straße leben müssen.

Dass den „boat people“ an ihrem Zielort so viel Ablehnung entgegenschlägt, hat auch mit dem politischen Klima in Großbritannien allgemein zu tun. Während die Umsetzung der Post-Brexit-Regeln Probleme macht, werfen Scharfmacher wie Nigel Farage der Regierung von Boris Johnson vor, bei einem seiner essenziellen Punkte zu versagen: frei über die eigenen Grenzen zu verfügen. Innenministerin Priti Patel versuchte solche Angriffe zu parieren, indem sie bereits im Monat vor der Eröffnung der Flüchtlingsunterkunft einen sogenannten „Clandestine Channel Threat Commander“ ernannte, der dafür sorgen soll, den Kanal für Migrantenboote „unpassierbar“ zu machen.

In ihrer Not wandten sich die Bewohner der Flüchtlingsunterkunft in einem offenen Brief schließlich direkt an die britische Bevölkerung.

Das Wort ‚Invasion‘ machte schnell die Runde. Nicht selten hört man in der Grafschaft Kent, an deren Küste nahezu alle Boote ankommen, den Flüchtlingen gelänge nun, was selbst die Nazis nicht geschafft hätten. Zunehmend ziehen dort Einzelpersonen und kleine Gruppen los, um oberhalb der berühmten ‚weißen Klippen‘ zu patrouillieren. Als „Kran“ im Oktober ein „Willkommenstreffen” für die 415 Männer organisierte, die nun die Kaserne bewohnen, waren dort nicht nur 200 Nachbarn und Interessierte anwesend, sondern auch Nationalisten, die gegen ein „Großbritannien ohne Grenzen” und die Unterbringung von Asylbewerbern auf Kosten der Steuerzahler protestierten. Ihre Forderung auf einer Union Jack- Fahne: „Stoppt die illegale Invasion!“

Mitte November versuchte ein Bewohner, Suizid zu begehen. Mit einem scharfen Gegenstand habe er sich in den Hals gestochen, wie ein Mitbewohner der Zeitung „The Independent“ berichtete. „Das geschah wegen des psychologischen Drucks und wegen der Verzögerung in unseren Asylverfahren”, so der Mann weiter. „In letzter Minute“ seien die Sanitäter eingetroffen.

Kurz nach dem Brand berichtete Bridget Chapman, die die Baracken mehrfach besucht hat, von sechs weiteren Selbstmordversuchen und einer höheren Dunkelziffer. Die Situation der Asylbewerber dort sei „von Anfang an schrecklich“ gewesen. „Viele Bewohner wurden in militärischen Einrichtungen gefoltert. Die Unterbringung mit ihrem Stacheldrahtzaun wirkt retraumatisierend.“ Zudem seien die Gebäude in einem schlechtem Zustand. Den Bewohnern habe man gesagt, sie sollten nicht mit Journalisten reden, weil das ihr Verfahren beeinflussen könnte.

Bis zu 15 Personen seien dort pro Raum untergebracht, die Betten durch Tücher voneinander getrennt, berichtete der Asylanwalt Paul Turner im „Independent“. Zwischen den Betten wären „nicht mehr als zwei oder drei Fuß“ Abstand, also maximal ein Meter. Die Bewohner einer Baracke teilten sich zwei Toiletten und einen Duschblock, der einmal wöchentlich gereinigt werde. Die Einrichtung besteht aus 16 solcher Barracken, wovon drei Einzelzimmer haben und die anderen von bis zu 28 Personen bewohnt werden.

Ende November schrieben mehrere Gesundheitsorganisationen, darunter „Médecins du Monde“, einen Brief an Innenministerin Patel und forderten die schnellstmögliche Schließung der „Napier Barracks“. Der Zugang zu medizinischer Versorgung sei mangelhaft und die Bedingungen nicht mit den durch die Pandemie notwendig gewordenen Hygieneregeln vereinbar. Die ortskundige Bridget Chapman schätzt: „Mit 150 Personen könnte man hier ausreichend Abstand einhalten – aber nicht mit über 400.“

Das Innenministerium jedoch streitet alle Vorwürfe ab, und das hat Kontinuität. Bereits als die ehemalige Premierministerin Theresa May das Ministerium leitete, wurde das Schlagwort „hostile environment“ geprägt: „Ziel ist es, hier in Großbritannien eine wirklich feindliche Umgebung für illegale Einwanderer zu schaffen“, so May bereits im Jahr 2012. An dieser Politik der Abschreckung von Migranten hat sich seither nichts geändert – im Gegenteil: Die Entwicklungen in den Napier Barracks stellen deren Zuspitzung dar.

Als Adressaten dieser Politik hat man jedoch nicht nur die ungewollten Einwanderer im Sinn, wie sich dieser Tage zeigt. Britische Medien berichten von einem internen Dokument des Innenministeriums, wonach Asylbewerber nicht „analog“ zu jenen britischen Bürgern und Menschen mit permanentem Aufenthaltstitel seien, die ebenfalls auf staatliche Wohlfahrt angewiesen seien. Daher sei ihre „weniger großzügige“ Unterstützung gerechtfertigt. Jede Zuwendung über das Nötigste hinaus könne das öffentliche Vertrauen in das Asylsystem untergraben.

In Teilen der britischen Öffentlichkeit ist man über diesen Ansatz durchaus empört. Im Winter mehrten sich die Stimmen derer, die fordern, das Militärcamp zu schließen – nicht nur NGOs oder medizinische Fachleute, sondern auch etwa Damian Collins, der konservative Abgeordnete des Distrikts Folkestone and Hythe meldete sich Mitte Januar zu Wort. Auch er bezweifelt, dass die Unterbringung so vieler Menschen in den Baracken angemessen ist. „Die beste Lösung wäre, wenn die Anträge der Asylbewerber abgearbeitet würden und diese Unterkunft geschlossen würde“, wird Collins im Rundfunksender BBC zitiert.

Zu diesem Zeitpunkt hatte sich die Lage in den Baracken drastisch zugespitzt: Dutzende Bewohner protestierten vor den Toren gegen die dortigen Lebensbedingungen und schlechten hygienischen Verhältnisse, zahlreiche Asylbewerber waren in den Hungerstreik getreten. Auch die ersten Covid-19-Infektionen wurden gemeldet, was dazu führte, dass mehrere Männer aus Furcht vor einer Ansteckung draußen schliefen, teils bei Minusgraden. Der „Guardian“ berichtete von zwei Selbstmordversuchen innerhalb einer Woche.

So geschah genau das, wovor Gesundheitsdienste, Anwälte und NGOs seit Monaten gewarnt hatten: Das Virus breitete sich im Camp aus. Ende Januar waren mehr als hundert Personen infiziert. In einem Kommentar begründete Chris Philp, der Einwanderungsminister, diese Entwicklung damit, dass die Asylbewerber sich geweigert hätten, untereinander Abstand zu wahren. Zudem verbreitete sich das Gerücht, die sogenannte „britische Variante“ sei in Wirklichkeit von Migranten nach Großbritannien gebracht worden.

In ihrer Not wandten sich die Bewohner der Flüchtlingsunterbringung in einem offenen Brief schließlich direkt an die britische Bevölkerung: „Während wir mental immer anfälliger werden und durch den Covid-Ausbruch körperlich krank, ignorieren uns Innenministerin Priti Patel und Immigrationsminister Chris Philp absichtlich und probieren ihr Möglichstes, das Desaster zu verschleiern, das sich in diesem Armeelager abspielt.“ Daraufhin unterzeichneten innerhalb weniger Stunden mehr als 7.500 Personen eine Petition mit der Forderung, die „Napier barracks“ zu schließen. Erst Ende Januar reagierte das Innenministerium und ließ rund hundert Bewohner in Hotels transfrieren, wo sie sich in Isolation begeben konnten.

Die verbliebenen 315 Asylbewerber hofften daraufhin, dass auch sie bald andernorts untergebracht werden. Am vergangenen Freitag wurden sie in Briefen allerdings zunächst einmal darüber informiert, dass sie stattdessen in kleine Gruppen eingeteilt würden und außerhalb dieser während zehn Tagen keine sozialen Kontakte haben dürfen. Am selben Nachmittag brach das Feuer aus. Die Polizei nahm 14 Bewohner wegen des Verdachts auf Brandstiftung fest. Laut anonymer Berichte aus dem Lager waren noch Tage nach dem Brand Elektrizität und Trinkwasser weiter abgeschaltet: „Nachts ist es extrem dunkel und kalt. Wir können nicht duschen und müssen Wasser aus dem Hahn auf der Toilette trinken. Es gibt Kranke hier, und auch sie müssen ohne Heizung schlafen.“

Ungeachtet dessen ist Innenministerin Patel weiter der Ansicht, ihre Behörde komme den gesetzlichen Verpflichtungen bei der Unterbringung von Asylbewerbern nach. Die Schäden würden repariert, das Gelände sei sicher. Empört ist die Ministerin über etwas anderes: „Der Schaden und die Zerstörung in der Kaserne sind nicht nur entsetzlich, sondern auch zutiefst beleidigend für die Steuerzahler dieses Landes, die diese Unterkunft zur Verfügung stellen, während Asylanträge bearbeitet werden.“

Tobias Müller berichtet für die woxx vorwiegend aus Belgien und den Niederlanden.

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