Brasilien: Bolsonaros klägliches Spiel

Der Sturm der Anhänger Jair Bolsonaros auf Brasília am 8. Januar war ein Putschversuch. Er bildete das jämmerliche Ende der Eskalations-strategie des ehemaligen brasilianischen Präsidenten.

Die demokratischen Institutionen reparieren: Aufräumarbeiten nach dem Sturm auf das Regierungsviertel von Brasília. (Foto: EPA-EFE/Andre Borges)

Am 8. Januar randalierte unter den Augen der Polizei ein Mob von bis zu 3.000 Anhängern des ehemaligen brasilianischen Präsidenten Jair Bolsonaro im Regierungsviertel von Brasília und drang in mehrere Regierungsgebäude ein. Nur wenige zweifeln noch daran, dass es sich dabei um einen Putschversuch handelte. Es war der letzte verzweifelte Versuch der Anhänger Bolsonaros, die neue Regierung von Luís Inácio „Lula“ da Silva zu destabilisieren, die gerade erst dabei ist, sich zu konsolidieren. Die Ereignisse in der brasilianischen Hauptstadt markieren das endgültige Scheitern einer Eskalationsstrategie, die die vier Jahre der Regierung Bolsonaro prägten. Die Option eines Staatsstreichs hielt sich der ehemalige Präsident stets offen.

Bolsonaros Präsidentschaft lässt sich in zwei Phasen unterteilen: In der Zeit von seiner Amtseinführung am 1. Januar 2019 bis zum September 2021 führte die Regierung eine populistische Offensive gegen „System“ und „Politik“. In der zweiten Phase veränderte sich der Charakter der bolsonaristischen Bewegung und ihrer Regierung. Was in ideologischer Hinsicht als oberflächliche populistische Revolte begann, verwandelte sich im Zuge einer Radikalisierung auf dem Höhepunkt der Covid-19-Pandemie in ein fast sektiererisches Unterfangen. Der Bolsonarismus verlor relevante Teile seiner Unterstützer aus der Mittelschicht der großen Zentren und konzentrierte sich auf die ärmere Bevölkerung unter evangelikalem Einfluss.

Mitte Mai 2019 begann der Bolsonarismus mit seiner ersten größeren Offensive gegen den Rechtsstaat, die sich im weiteren Verlauf vor allem als Kampf zwischen den rivalisierenden Gewalten der Legislative und der Judikative ausdrücken sollte. Zum 26. Mai des Jahres riefen Milieus mit Verbindungen zum „Partido Social Liberal“ (PSL), der Partei, als deren Kandidat Bolsonaro die Wahlen gewonnen hatte, ihre Anhänger auf die Straßen. Zuvor hatte es große Demonstrationen gegen Bolsonaros Sparpolitik im Bildungssektor gegeben. Seine Anhänger forderten daraufhin unter anderem die Schließung des Kongresses und die Amtsenthebung verschiedener Mitglieder des Obersten Gerichtshofs („Supremo Tribunal Federal“; STF). Dies stellte einen ersten offiziellen Bruch im politischen Bündnis dar, welches Bolsonaro an die Macht gebracht hatte: der allgemeinen Koalition gegen die Arbeiterpartei (PT), also derjenigen Kräfte, die sich, verschiedene poli­tische Lager übergreifend und mit Unterstützung des STF, für die Amtsenthebung der Präsidentin Dilma Rousseff eingesetzt hatten.

Bolsonaro hatte nie ein Regierungsprogramm und beschäftigte sich nur mit der Demontage der Institutionen und Regularien demokratischer Politik.

Am 19. April 2020, zu der Zeit, als sich Covid-19 in Brasilien zu verbreiten begann, wandte sich der inzwischen parteilose Bolsonaro auf einer Demonstration vor dem Armeehauptquartier in Brasília an Dutzende Anhänger und sprach offen aus: „Wir wollen nicht verhandeln, wir wollen etwas für Brasilien tun. Die Zeit der Schurken ist vorbei. Jetzt sind die Menschen an der Macht.“ Die Demonstrierenden forderten unter anderem die Entmachtung des Kongresses und des STF durch eine Militärintervention. Die Eskalation setzte sich zwei Monate später fort, als die rechtsextreme Gruppe „300 aus Brasilien“, die sich wie die Identitäre Bewegung vom Film „300“ hat inspirieren lassen und auch ansonsten Ähnlichkeiten zu den jungen Gruppen der europäischen sogenannten Neuen Rechten aufweist, für einen Monat auf der „Esplanada dos Ministérios“ in Brasília campierte und gegen den STF agitierte.

Währenddessen traten immer mehr aktive Armeeangehörige in die Regierung ein, von 23 Ministerposten wurden sieben von hohen Offizieren besetzt. Bolsonaro versuchte, die Militärkommandeure unter Druck zu setzen und in den Streitkräften Zustimmung für einen potenziellen Putsch herzustellen. Das führte zu Spannungen innerhalb des Militärs, weswegen am 30. März 2021 die Oberbefehlshaber des Heeres, der Luftwaffe und der Marine gemeinsam ihren Rücktritt einreichten. Der Höhepunkt der Eskalation ereignete sich schließlich am 7. September 2021, als Bolsonaro in einer Ansprache an seine Anhänger den Vorsitzenden Richter des Obersten Gerichtshofs, Alexandre de Moraes, und damit die Institution selbst angriff. Moraes hatte zuvor Ermittlungen zu den Demonstrationen gegen den Kongress genehmigt. Bolsonaro meinte dazu: „Ich sage es euch, dieser Präsident hat nicht vor, auch nur irgendeine Entscheidung des Herren Alexandre de Moraes zu befolgen. Die Geduld unseres Volkes hat sich erschöpft, er (Moraes; Anm. d. Red.) hat noch Zeit, seinen Hut zu nehmen und zu gehen. Für uns existiert er nicht mehr.“

Am selben Tag, dem Jahrestag der brasilianischen Unabhängigkeit, marschierten 400.000 Anhänger Bolsonaros vor den Obersten Gerichtshof in Brasília und zeigten, dass der Präsident sich mit seinen Drohungen auf eine solide Basis von Anhängern stützen konnte. Dennoch reichte es nicht für einen Staatsstreich. Die Bewegung fand auch keine Unterstützung bei der Militärpolizei und dem Dachverband der Streitkräfte. Anstatt das Land aufzuwiegeln, setzten die Vorfälle die Amtsenthebung Bolsonaros auf die Tagesordnung. Die wichtigsten ­Medien änderten ihren bisherigen Kurs. Sie berichteten nunmehr täglich über die Ermittlungen gegen die Verbündeten des Präsidenten.

Bolsonaros erste Reaktion auf den Rückschlag vom 7. September war die kleinlaute „Erklärung an die Nation“ am 9. des Monats, in der er schrieb, seine Aussagen habe er „in der Hitze des Moments“ getätigt, er habe einfach „Verständnisprobleme“ gehabt, was die Entscheidungen von Moraes anging. Im November 2021 schloss sich Bolsonaro dann dem „Partido Liberal“ (PL) an und übertrug der Führung des Kongresses weitreichende Befugnisse. Diese Wendung, die Bolsonaros reaktionäre „Antipolitik“ in eine Kapitulation vor dem traditionellen Parteiensystem verwandelte, hat ihn dazu veranlasst, sich von da an auf die Infragestellung des Wahlprozesses zu konzentrieren.

Durchsuchungen, die die Bundespolizei vergangene Woche bei Bolsonaros Justizminister Anderson Torres vorgenommen hat, förderten Dokumente zutage, die eine Ausrufung des Notstands vorsahen.

Nach seiner Niederlage in der zweiten Runde der Präsidentschaftswahl am 30. Oktober 2022 erkannte er den Sieg Lulas nicht an und hüllte sich in beredtes Schweigen. Der Bolsonaro-Clan, der in den sozialen Medien sonst stets aktiv war, blieb still. Bei den Anhängern des Wahlverlierers kursierten Gerüchte, dass „etwas“ vorbereitet werde. Dies war der Auftakt für die Putschbewegung, die im November mit Camps vor Kasernen und Straßensperren begann. Durchsuchungen, die die Bundespolizei vergangene Woche bei Bolsonaros Justizminister Anderson Torres vorgenommen hat, förderten Dokumente zutage, die die Ausrufung des Notstands vorsahen, um die Übergabe der Regierungsgeschäfte an Präsident Lula da Silva zu verhindern und die Wahlergebnisse anzufechten. Lulas Amtsantritt zum Jahreswechsel verlief dann doch normal, jedoch ohne die Demobilisierung der Putschisten in spe, die weiterhin ein militärisches Eingreifen forderten.

Dieses Ende der Regierung Bolsonaro widerlegt zwei gegensätzliche Thesen zum Putschversuch vom 8. Januar: dass Bolsonaro eine Art Marionette eines militärischen Projekts sei, wie auch jene, dass der „antipolitische“ Aufstand „von unten“, ohne die wirtschaftlichen und militärischen Führungsschichten, ausgeführt werden könne. Die erste ist eine Verschwörungstheorie, der zufolge alle Züge dieses Machtspiels bereits von einem verborgenen Geheimdienstapparat vorweggenommen worden seien; die zweite übertreibt die eigenständige Kraft des Bolsonarismus als Bewegung und vernachlässigt, wie sehr jeder Putsch auf militärische Unterstützung angewiesen ist.

Die Ereignisse des 8. Januar offenbarten, wie sehr der Polizeiapparat in den vergangenen Jahren durch die Regierung Bolsonaro vereinnahmt wurde. Die Ereignisse zeigen auch, dass Bolsonaro wichtige Kräfte in der Armee kooptiert und instrumentalisiert; die erzielte Polarisierung reichte aber nicht aus, um die Streitkräfte insgesamt für den Bruch mit dem Rechtsstaat zu gewinnen. Bolsonaro hatte nie ein Regierungsprogramm und beschäftigte sich nur mit der Demontage der Institutionen und Regularien demokratischer Politik; darauf zielte auch die Deregulierung des Waffenbesitzes und -gebrauchs. Der Putsch, der „Bürgerkrieg“, die bewaffnete Verteidigung der „Freiheit“ waren Bolsonaros fixe und auch seine einzigen Ideen. Deshalb wurden sie von den weniger extremistischen Teilen der Streitkräfte eingedämmt, die die Gefahr einer Ideologisierung der Truppen, eines Zusammenbruchs der Hierarchie und einer Verschärfung der sozialen Instabilität sahen.

Die Zerrüttung der Institutionen vollzog sich unter der Regierung Bolsonaro langsam und schrittweise, ohne einen Staatsstreich. Die Mobilisierung nach der Wahlniederlage war ein schwacher Zug, der den Eindruck erweckte, in einer Art „paralleler Realität“ erdacht worden zu sein. Allerdings sollte die Gefährlichkeit dieses Fanatismus weiterhin nicht unterschätzt werden. Die Aktionen im Regierungsviertel waren als Initialzündung gedacht, die landesweit ähnliche Demonstrationen und Blockaden auslösen sollte. Eine solche Bewegung wäre in der Lage – so das Kalkül –, Lulas Regierung in die Knie zu zwingen, das Militär als unmittelbaren Machtfaktor durchzusetzen und laufende strafrechtliche Ermittlungen gegen die vorherige Regierung abzuwenden.

Das Übermaß an Gewalt und Fanatismus provozierte jedoch eine sofortige Reaktion des STF und der Regierung und schloss die Front gegen den Bolsonarismus auf breiter sozialer und institutioneller Basis, was sich bereits 2021 gezeigt hatte. Durch seine offensichtlichen Verbindungen zur Bewegung von 8. Januar gerät Bolsonaro nun in den Blick der Gerichte – einschließlich der Wahlgerichte, die ihn von der nächsten Wahl ausschließen könnten. Das drängt nicht nur den Rechtspopulismus in die Defensive, sondern verstärkt auch die Tendenz der Fraktionierung dieses Lagers, das nun in der Opposition ist.

Marcos Barreira ist Professor für Geografie an der Universität des Staates Rio de Janeiro (UERJ).

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