Unter dem ehemaligen Präsidenten Jair Bolsonaro stand Brasiliens „Bewegung der Landarbeiter ohne Boden“ (MST) mit dem Rücken zur Wand. Für einen Machtwechsel hat sich die Organisation daher ins Zeug gelegt. Nun wird sie landesweit wieder sichtbarer. Neben Landbesetzungen macht sie vor allem mit nachhaltigen agroökologischen Konzepten von sich reden.
Jucino Guzman ist regelmäßig auf der Kaffeefarm seines Bruders im Einsatz. „Einerseits gibt es hier immer was zu tun, andererseits ist das Land nach wie vor nur besetzt – nicht unser Eigentum“, gibt er zu bedenken. Jucinos Bruder und alle anderen vom MST („Movimento dos Trabalhadores Rurais Sem Terra“; Bewegung der Landarbeiter ohne Boden), die hier arbeiten, haben noch keine Landtitel. „Präsenz ist daher wichtig und da helfe ich gern mit“, sagt der kräftige Mann von Anfang 40 mit dem graumelierten Kurzhaarschnitt lächelnd.
„Gino“ nennen ihn alle in der MST aus der Region Prado, ganz im Süden von Bahia. Der brasilianische Bundesstaat, etwas größer als Frankreich, gehört seiner beachtlichen Kaffee-, Mango-, Orangen- und Soja-Produktion wegen zu den wichtigen Agrarstaaten unter Brasiliens 26 Bundesstaaten. Das Gros der Anbauflächen in Bahia wird von Großgrundbesitzern dominiert. „Doch wir Kleinbauern sind es, die rund 80 Prozent der Lebensmittel produzieren“, erklärt Gino selbstbewusst. Er ist wie sein Bruder Mitglied in Brasiliens Landlosenbewegung MST, die in Bahia Ende vergangenen Jahres ihr 35. Jubiläum feierte und während der vergangenen vier Jahre unter Bolsonaro enormem politischen Druck ausgesetzt war. „Hier in der Region Prado gab es Angriffe auf MST-Camps, und auch wir befürchteten, von der Militärpolizei geräumt zu werden“, so Gino, „doch es kam nicht dazu“.
Zehn Hektar ist die Farm seines Bruders groß, der neben Kaffee, Obst und Gemüse auch etwas Chili anbaut. Die kleinen scharfen Schoten gehen nach Sāo Paulo, in die Industriemetropole Brasiliens, während Bananen, Papaya, Paprika und Co. für den lokalen Markt bestimmt sind. „Doch beim Transport hapert es, die Straßen sind in der ganzen Gemeinde überaus mies“, klagt Gino, und seine Nachbarn stimmen ihm zu. 14 Familien gehören zu der sogenannten Einheit, der Ginos Bruder angehört. Aus elf Einheiten mit je zehn bis vierzehn Familien besteht das gesamte „Pré-assentamento Egídio Brunetto“, wie sich die besetzte ehemalige Kaffee-Plantage im MST-Jargon nennt. 1.200 Hektar, die vor der Besetzung brachlagen. Im Mittelpunkt des Geländes steht die große Lagerhalle, die als Treffpunkt und Veranstaltungsort dient, nur ein paar Minuten von der Finca der Familie Guzman entfernt.
In der Halle haben sich heute ein paar Dutzend MST-Aktivist*innen versammelt, um die kleine Journalisten-Delegation aus Europa zu empfangen und über ihre Erfahrungen zu berichten. Im oberen Teil des Komplexes ist eine kleine Holz-Bühne aufgebaut, auf der zwei kleine Mädchen sitzen. Vor ihnen am Boden sind Papayas, Limonen, Bananen, Ananas, aber auch Paprika, Bohnen und Chili-Schoten aufgereiht. Für die Dekoration, die ans Erntedank-Fest erinnert, sind die 120 Familien der Landbesetzung verantwortlich, die zeigen wollen, wie sie mit einfachen Mitteln Agrarprodukte auf den über Jahre hinweg brachgelegenen Böden produzieren.
„Wir Kleinbauern sind es, die rund 80 Prozent der Lebensmittel produzieren.“
Auch Manoel da Lapa gehört zu ihnen. Derzeit koordiniert er die Besetzung, früher war er einer von rund fünfhundert Arbeiter*innen auf der riesigen Kaffeefarm. Diese lieferte Robusta-Bohnen für den Weltmarkt, die unter miesen Arbeitsbedingungen geerntet wurden. „Arbeitsrechte sind systematisch verletzt worden“, sagt da Lapa, „ich habe erlebt, dass ein von einer Schlange gebissener Arbeiter nicht sofort ins Krankenhaus gebracht wurde – er hätte sterben können.“ Von „Pistoleros“, bewaffneten Aufsehern, seien sie permanent eingeschüchtert worden, schimpft er: „Es herrschten sklavenähnliche Arbeitsbedingungen“.
Da Lapa ist froh, dass er nun frei ist. So geht es auch David, ein weiterer ehemaliger Arbeiter, der ergänzt, dass die Löhne immer erst sehr spät bezahlt worden seien. Dagegen habe sich kaum jemand aufgelehnt, aus Angst vor den Pistoleros. Häufig als Wachdienst engagiert, sind sie eine Mischung aus privaten Bodyguards und Privatarmee. Oft sind sie für die Großgrundbesitzer Brasiliens tätig. So auch auf der ehemaligen Kaffeefarm, wo rund ein halbes Dutzend von ihnen im Einsatz war. „Sie nahmen nach dem Ende der Kaffeeproduktion 2014 alles mit, was nicht niet- und nagelfest war“, erinnert sich Manoel da Lapa. Ob das im Auftrag der Familie aus Sāo Paulo geschah, der die Plantage bis heute gehört, oder vielmehr auf eigene Rechnung, weiß er nicht. Für ihn und die 120 MST-Familien, die nun auf der Farm leben und arbeiten ist hingegen klar, dass es ein Verbrechen ist, derart große Flächen brach liegen zu lassen, statt Lebensmittel darauf zu produzieren.
Ein Standpunkt, der sich weitgehend mit der brasilianischen Verfassung deckt. Die definiert in Artikel 186, dass Land eine soziale Funktion habe und adäquat genutzt werden muss. Auf den Artikel beruft sich die Bewegung der Landlosen und besetzt brachliegendes Land mittlerweile landesweit, wenn ausreichend organisierte Familien in der Region präsent sind.
Hier in Prado ist das der Fall und der aus Hülsenfrüchten, Chilischoten und Tomaten geformte Schriftzug vor der Bühne ist Programm: „Reforma Agraria MST“. Die Agrarreform ist das erklärte Ziel der 1984 gegründeten MST, die mittlerweile in 24 der 26 Bundessstaaten sowie im Hauptstadt-Distrikt Brasilia aktiv ist.
Zu Recht, wie ein Blick auf Brasiliens Gini-Koeffizienten bestätigt. Der misst die Ungleichheit in der Einkommensentwicklung, und jene Brasiliens zählt zu den höchsten weltweit. Mitverantwortlich dafür sei die Landkonzentration, sagen Experten. Etwa zehn Prozent der Bevölkerung besitzen rund achtzig Prozent der Ackerfläche und vieles deutet darauf hin, dass sich die Agrarlobby in den letzten vier Jahren noch weitere öffentliche und private Flächen unter den Nagel gerissen hat – oft illegal. Das extrem gute Verhältnis zwischen der Bolsonaro-Regierung und der finanzstarken Agrar-Lobby, die dem erzreaktionären Ex-Präsidenten gleich zwei Wahlkämpfe finanzierte, dürfte hierfür verantwortlich sein. Detaillierte Studien dazu gibt es noch nicht. Unstrittig ist jedoch, dass die Ernährungssicherheit von rund 125 Millionen Brasilianer*innen nach vier Jahren unter Jair Bolsonaro nicht mehr gegeben ist.
Rund 55 Prozent der Bevölkerung sind demnach von Hunger bedroht, so eine Studie aus dem Frühjahr 2022. Direkte Folge des Rückbaus von Förder- und sozialen Schutzprogrammen für familiäre Landwirtschaft und bedürftige Bevölkerungsschichten unter Bolsonaro, wie Sozialwissenschaftler*innen kritisieren. Eine Kehrtwende erhofft sich daher MST-Koordinatorin Liu Durães do Rosário von der neuen Regierung. Sie gehört zum Führungskreis der Organisation in Bahia und lebt im Verwaltungsbezirk Prado. „Für uns ist der Regierungswechsel in Brasilia eine überfällige Kehrtwende, für die wir uns engagiert haben“, sagt sie. Davon zeugen die roten Baseball-Kappen, die etliche der Aktivist*innen in der Halle tragen, darunter Manoel da Lapa. Der lokale MST-Koordinator trägt zudem ein T-Shirt, das für die brasilienweite Landreform wirbt.
Insgesamt beteiligen sich an der Landlosenbewegung rund 1,5 Millionen Aktivist*innen aus 530.000 Familien. Liu Durães do Rosário, die alle nur Liu nennen, ist quasi im „Movimento Sem Terra“ groß geworden. „Als vierjährige haben mich meine Eltern zu den ersten MST-Veranstaltungen mitgenommen“, erinnert sich die 39-jährige Frau. Da hat sie wie die beiden Mädchen, die jetzt vorne auf der Bühne sitzen, gelernt, die Hymne des MST mitzusingen. Seitdem hat sie an so mancher Landbesetzung mitgewirkt. Eine, die vor ein paar Jahren erfolgreich endete, hat ihr neun Hektar Land beschert, die sie gemeinsam mit ihrem Mann und den beiden Kindern, der Sohn sechs, die Tochter zwanzig Jahre alt, bewirtschaftet. „Das ist nicht weit entfernt, nahe der Stadt Prado im gleichnamigen Bezirk“, sagt Liu. Sie ist in den letzten Wochen wieder vermehrt unterwegs, um für das Anliegen des MST zu werben.
Das war in den letzten vier Jahren anders, denn unter der reaktionären Regie von Jair Bolsonaro ging es vor allem darum zu verteidigen, was der MST aufgebaut hat. „Wir waren in der Defensive“, sagt sie: „Unsere nicht weit entfernte agroökologische Schule, wo Bäuerinnen und Bauern aus der Region lernen können, wie sie erfolgreich gesunde Bio-Lebensmittel produzieren, haben wir zur Drehscheibe des Widerstands ausgebaut“, erläutert die quirlige Frau mit dem prägnanten Lockenkopf und der rauen, mitreißenden Stimme.
Liu versteht es, den Ton zu treffen, Mut zu machen und zu motivieren. Erst Anfang Februar war sie bei der Besetzung der lokalen Stadtverwaltung von Santa Cruz Cabrália dabei. „Da haben wir mit MST-Aktivist*innen aus dem gesamten Verwaltungsbezirk Prado gegen die miese Infrastruktur protestiert, gegen den Mangel an guten Lehrer*innen an den Schulen unserer Kinder, die langen Schulwege und die Ignoranz des zuständigen Bürgermeisters“, erklärt sie mit sorgenvoller Miene. Noch vor ein paar Monaten waren derartige Auftritte schwer zu realisieren, doch der Wahlsieg von Luiz Inácio Lula da Silva hat auch dem MST Auftrieb gegeben.
Die Ernährungssicherheit von rund 125 Millionen Brasilianer*innen ist nach vier Jahren unter Jair Bolsonaro nicht mehr gegeben.
Obendrein hat sich die Landlosenbewegung seit ihrer Gründung kontinuierlich weiterentwickelt, tritt heute für neue ökonomische Konzepte ein, die der etablierten, industriellen Landwirtschaft diametral entgegenstehen. Ein nachhaltiges agroökologisches Modell, in dem Kleinbauern eine deutlich markantere Rolle spielen, verfolgt der MST heute, darüber hinaus tritt er für Kinder-, Frauen- und LGBTIQ-Rechte ein, für eine gute Bildung auch in ländlichen Regionen sowie für soziale Gerechtigkeit.
„Von Beginn an hat der MST Wert auf die Produktion von Lebensmittel in seinen Camps gelegt, heute geht es jedoch nur noch um gesunde Lebensmittel, um Bio-Produkte, die wir en Gros produzieren und mittlerweile in kleinen Läden anbieten“, schildert Liu den Wandel innerhalb der Organisation. „Armazém do Campo“ heißt die landesweite Kette von kleinen Supermärkten. Liu Durães gehört zu denjenigen aus der MST-Führung in Bahia, die sich dafür aussprachen, auch einen dieser Läden im Tourismusort Porto Seguro zu eröffnen – kombiniert mit einem Restaurant.
„Sichtbarer werden“ lautet ihre Devise. Geduldig gibt sie daher Interviews und erklärt, weshalb nach sieben Jahren der Besetzung immer noch auf ein Urteil zu den Eigentumsverhältnissen gewartet werden muss. „Bis eine Landbesetzung mit der Enteignung der Grundstücke durch die Behörden und der Verteilung von Landtiteln an Familien endet, können fünfzehn, auch zwanzig Jahre vergehen“, sagt die MST-Aktivistin. Rascher gehe es, falls das staatliche Agrar-Institut (INCRA) bereits bestätigt habe, dass die betreffende Fläche brachliege.
Mehrere Tausend solcher Besetzungen fanden in den letzten drei Dekaden unter dem Banner des von der katholischen Befreiungstheologie inspirierten MST statt. Folgerichtig ist die Organisation bei der brasilianischen Agrarlobby so beliebt wie Buttersäure, denn die MST stellt deren Selbstverständnis und deren industrielles – auf den Einsatz von Pestiziden und Düngemitteln basierendes – Agrarkonzept vehement in Frage. Das könnte sich unter der neuen Regierung Lula da Silva positiv auszahlen. Nicht nur weil der charismatische Präsident als Gewerkschafter der Landlosenbewegung nahe steht, sondern auch weil er bereits im Wahlkampf eine nachhaltigere Wirtschaftspolitik angekündigt hat. Schlechte Nachrichten für die ökonomisch potente und politisch starke Agrarlobby, gute für die Landlosenbewegung, für Kleinbauern und Millionen von Agrar-Arbeiter*innen, die in Brasilien unter anderem Weintrauben, Orangen, Mangos und Kaffee für den Weltmarkt ernten.
Mehrere Tausend Besetzungen fanden in den letzten drei Dekaden unter dem Banner des von der katholischen Befreiungstheologie inspirierten MST statt.
Dies geschieht häufig unter prekären Bedingungen. Massiver Einsatz von Pestiziden, miese Löhne und Arbeitsbedingungen unter sklavenähnlichen Bedingungen sind laut Berichten von kritischen Nichtregierungsorganisationen wie „Réporter“ alles andere als selten. Gegen solche Auswüchse des neoliberalen Wirtschaftsmodells, das unter der Vorgängerregierung Bolsonaro Hochkonjunktur hatte, will die neue Regierung vorgehen. Nachhaltiges Wirtschaften und ein Ende der Abholzung in der Amazonasregion hätten Priorität, so die neue Umweltministerin Marina Silva.
Das begrüßt MST-Koordinatorin Liu: „Wir Kleinbauern produzieren in Brasilien meist agroökologisch. Wir stehen für ein nachhaltiges Wirtschaftskonzept“, so die Afrobrasilianerin und deutet auf das Schild an der Auffahrt zur agroökologischen Schule „Egídio Brunetto“. Rektor Felipe Campelo erwartet seine Besucher*innen vor dem Hauptgebäude der weitläufigen Anlage mit neun verschiedenen Abteilungen, darunter Viehhaltung, Kaffee- und Kakaoanbau, aber auch Pfeffer-, Bananenproduktion und mehrere Obstsorten.
„Wir sind eine Forschungs- und Lehreinrichtung von unten“, so Campelo. „Wir arbeiten mit den Bäuerinnen und Bauern aus der Region, aber auch mit Student*innen und mit Dozent*innen von mehreren Universitäten, um kleinbäuerliche Landwirtschaft ertragreicher und zugleich nachhaltiger zu machen“, sagt er über das Konzept, das kontinuierlich aktualisiert wird. Dafür sind MST-Kleinbauern aus der Region, aber auch Experten wie Rafael Rangel zuständig. Der Agronom mit einem Masterabschluss in Agroforst-Systemen koordiniert die Arbeit der neun Abteilungen, wo Bäuerinnen und Bauern aus der Umgebung Kurse im Anbau von Kakao oder Kaffee belegen können. Er ist auch zuständig für den wissenschaftlichen Austausch.
„Alle neuen Erkenntnisse fließen direkt in unsere Kurse ein und dieses Modell könnte unter der neuen Regierung auch anderswo Schule machen“, hofft Rektor Campelo und serviert Kaffee aus dem schuleigenen Anbau. Beim MST ist der Optimismus zurück und die Hoffnung, einen Beitrag zur nachhaltigen Erneuerung Brasiliens leisten zu können.