Brasiliens Staatspräsident: Ein Mythos verblasst

Seit Beginn der Coronapandemie hat der brasilianische Staatspräsident diese heruntergespielt – mit dramatischen Folgen für das Land. Nun soll eine Untersuchungskommission Bolsonaros Verantwortung klären. Der Kreis seiner Unterstützer schwindet, das Verhältnis zum Militär ist angespannt.

„Impfstoff rettet Leben”: Protest gegen die Regierung von Jair M. Bolsonaro in Brasilia am 31. März. Die Umfragewerte für den brasilianischen Staatspräsidenten haben sich angesichts der vielen an Covid-19 Verstorbenen im Land rapide verschlechtert. (Foto: EPA-EFE/Joedson Alves)

Das ist nicht der „Mythos“, den seine Anhänger sehen wollen. Viele Unterstützer des brasilianischen Staatspräsidenten Jair M. Bolsonaro, dem sie in den sozialen Medien diesen sagenhaften Spitznamen gegeben haben, waren enttäuscht, als sie die Aufnahmen eines Telefongesprächs hörten, das der Senator des Bundesstaats Goiás, Jorge Reis da Costa Nasser, besser bekannt als Jorge Kajuru, am 11. April in sozialen Medien veröffentlicht hatte. Darin versucht der Präsident, den oppositionellen Senator zu überreden, eine parlamentarische Untersuchungskommission umzugestalten.

Kajuru hatte im Senat eine Kommission beantragt, um die Bundespolitik zur Bekämpfung der Covid-19-Pandemie zu untersuchen. Die Lage in Brasilien ist nämlich katastrophal: Über 378.000 Menschen sind in Brasilien infolge einer Covid-19 Erkrankung verstorben. Anfang April waren es über 4.000 Tote täglich.

Der Präsident befürchtet nun, dass die Kommission ihn als Alleinschuldigen für den Verlauf der Covid-Krise ausmachen wird. Um dies zu verhindern, versuchte das Regierungslager, im Senat zu erreichen, dass auch die Politik der Regierungen der Bundesstaaten und Gemeinden untersucht wird. Mit Erfolg: Am 14. April wurde die „Untersuchungskommission Covid“ einberufen, die die Pandemiebekämpfung auf allen Regierungsebenen überprüfen soll.

„Dieses Manöver hat das Ziel, die Verantwortung so aufzuteilen, dass die Kommission zu keinem Ergebnis kommt“, sagte Augusto de Queiroz, der als politischer Analyst für die Gewerkschaftsvertretung im Parlament arbeitet, „BBC Brasil“, dem brasilianischen Ableger des britischen Rundfunksenders. Die Regierungsvertreter in der Kommission werden wohl versuchen, deren Arbeit von innen zu behindern. Zum Beispiel könnten sie so viele Zeugen einladen, dass die Arbeit bis zum Wahljahr 2022 nicht abgeschlossen sein wird. Bolsonaro scheint sich also gerettet zu haben.

Und doch: „Das Ganze kam schlecht an, weil es Bolsonaro in einer Situation zeigte, die seine treusten Anhänger von ihm nicht erwarteten – dialogbereit mit verschiedenen Kräften des Kongresses verhandeln, Unterstützung suchen, oder anders gesagt: Politik machen“, sagte der Politikwissenschaftler Felipe Nunes gegenüber „El País Brasil“. Er leitet das Institut „Quaest“, das auf die Auswertung sozialer Medien spezialisiert ist.

Die Anhänger des rechtsextremen Regierungschefs lieben Bolsonaro gerade wegen seiner undiplomatischen und rücksichtslosen Rhetorik. Die ungehobelte Art des ehemaligen Fallschirmjägerhauptmanns war dessen Stärke im Wahlkampf 2018. So konnte er sich erfolgreich als Alternative zu den als korrupt und opportunistisch angesehenen etablierten Politikern präsentieren.

Doch die politischen Kräfteverhältnisse in Brasilien haben den ehemaligen politischen Außenseiter längst eingeholt. Im November 2019 hat Bolsonaro sich mit der Führung seiner Sozialliberalen Partei überworfen, seitdem ist der Regierungschef parteilos; der angekündigte Aufbau einer eigenen Partei „Allianz für Brasilien“ kommt nicht voran. Deshalb ist Bolsonaro im Kongress auf ein Bündnis mit dem „Centrão“, der alten politischen Garde, angewiesen. Doch dieser inoffizielle Block von konservativen Politikern verschiedener Parteien mit starker lokaler Basis ist notorisch unzuverlässig und heterogen.

Die Anhänger des rechtsextremen Regierungschefs lieben Bolsonaro gerade wegen seiner undiplomatischen und rücksichtslosen Rhetorik.

Bolsonaros Anspruch war es gewesen, auf das Handeln und Feilschen um Posten und politische Zugeständnisse – oft in Verbindung mit Korruption – im Austausch für Stimmen im Parlament nicht angewiesen zu sein. Doch nicht nur wegen des Imageschadens könnte sich die erfolgreiche Ausweitung der Kommissionstätigkeit für Bolsonaro als Pyrrhussieg entpuppen. Gegenüber „El País Brasil“ erläuterte ein anonymer Senator aus dem Regierungslager, die Ausweitung der Untersuchungskommission auf alle Regierungsebenen bringe auch Nachteile. Zum einen könne sich Bolsonaro nicht mehr als Opfer einer Intrige des korrupten Kongresses inszenieren. Zum anderen könnte die Untersuchung zeigen, wie schlecht er neben seinen politischen Rivalen aus den Bundesstaaten tatsächlich dasteht.

Ein Beispiel ist der konservative Gouverneur von São Paulo, João Doria, dem es gelungen ist, eine Kooperation zwischen dem brasilianischen biomedizinischen Institut „Butantã“ und der chinesischen Pharmafirma „Sinovac“ zur Entwicklung des neuen Impfstoffs „Coronavac“ anzubahnen. Die Bundesregierung steht bei der Pandemiebekämpfung dagegen schlecht da: Der Präsident hat kaum etwas unternommen und mit einer Vielzahl von verharmlosenden Aussagen über die „kleine Grippe“ die Pandemie eher verschlimmert. Den frühzeitigen Kauf von Impfstoffen hat die Regierung verpasst, dafür aber bei der Anschaffung des Medikaments Hydroxychloroquin, dessen Wirksamkeit gegen Covid-19 unbelegt war und immer noch ist, viel Geld vergeudet. Gegen Lockdowns der Bundesstaaten hatte Bolsonaro hingegen gewettert und dazu aufgerufen, sie zu ignorieren, um der Wirtschaft nicht zu schaden.

Bolsonaros Haltung in der Pandemie kostet ihn zusehends Unterstützung bei moderaten Kräften. Bislang war sich seine Regierung mit ihrem neoliberalen Kurs der Unterstützung der Unternehmer sicher. Doch Ende März haben über 1.700 Führungspersonen von Seiten des Kapitals einen offenen Brief an den Präsidenten unterzeichnet und eine Umkehr in der Coronapolitik verlangt. Darin kritisierten sie das „falsche Dilemma“ zwischen der Rettung von Menschenleben einerseits und der Aufrechterhaltung der wirtschaftlichen Grundlage des Landes andererseits, mit dem der Präsident seine Ablehnung eines Lockdowns rechtfertigte.

Unter diesem Druck zeigt sich Bolsonaro, wie er es sonst selten tut: kompromissbereit. Auf Wunsch des Centrão gestaltete er am 29. März sein Kabinett um. Insgesamt sechs besonders umstrittene Minister mussten gehen, darunter der radikal antikommunistische Außenminister Ernesto Araújo, der mit verschiedenen Äußerungen eine schwere diplomatische Krise mit China verursacht hatte, zum großen Unmut der Agrarunternehmer, die um ihren wichtigsten Absatzmarkt fürchten. Die höchsten Wellen schlug allerdings der Rücktritt des Verteidigungsministers General Fernando Azevedo e Silva am selben Tag. Er verweigerte sich Bolsonaros Versuchen, das Militär für dessen politische Zwecke einzuspannen. Bolsonaro hatte wiederholt gedroht, notfalls auch die Streitkräfte einzusetzen, um beispielsweise die Aufhebung von Lockdowns zu erreichen, die Gouverneure gegen seinen Willen angeordnet hatten. Aus Solidarität mit dem Verteidigungsminister erklärten am nächsten Tag die jeweiligen Befehlshaber der Teilstreitkräfte – Heer, Marine und Luftwaffe –, zurücktreten zu wollen; der Staatspräsident kam ihnen mit einer Entlassung zuvor.

So kam es, dass ausgerechnet am 31. März, dem Jahrestag des Militärputschs von 1964, politische Analysten weltweit spekulierten, wie es nun weitergeht. Würde der Präsident die Streitkräfte unter seine Kontrolle bringen, oder sei ein Bruch zwischen Militär und Regierung wahrscheinlicher? Noch immer lässt sich diese Frage nicht eindeutig beantworten. Das Militär, das sich auch nach dem Ende der Militärdiktatur 1985 vorbehielt, Einfluss auf die Politik zu nehmen, vermeidet es, interne Konflikte an die Öffentlichkeit dringen zu lassen.

Die meisten Analysten sehen die Streitkräfte in einem Dilemma. Einerseits hatten sie seit der Rückkehr zur Demokratie nie so viel Einfluss und nie so hohe Einnahmen wie heutzutage: Bis zu 6.000 Militärangehörige haben unter Bolsonaro Posten in der Regierung oder in staatlichen Unternehmen erhalten. Andererseits gefährdet die Verbindung zu einer instabiler werdenden Regierung ihr – grundsätzlich hohes – Ansehen in der Bevölkerung. Zudem gibt es in den höheren Rängen auch Vorbehalte gegen Bolsonaro, der 1986 wegen Anstiftung zur Meuterei von einem Militärtribunal zu einer Arreststrafe verurteilt worden war.

Die ernsteste Gefahr für die Demokratie wäre der Verlust des internen Zusammenhalts der Streitkräfte, meinte der Militärspezialist João Roberto Martins Filho von der Bundesuniversität São Carlos in „El País Brasil“: „Das größte Risiko ist im Augenblick, dass das Regierungslager zu Meutereien in den Polizeikräften der Bundesstaaten aufruft.“ Gerade in den unteren Rängen der Streitkräfte und der Militärpolizei finden sich die extremistischsten Anhänger des Präsidenten. Die Hardliner könnten sie zum Aufstand anstiften. „Das hat diese Gruppe schon früher versucht und das war immer die schlimmste Hypothese für meine Analysen.“ Allerdings ist unklar, ob diese extremistischen Gruppen Bolsonaro noch uneingeschränkt unterstützen: Dessen Verhandlungen mit dem Kongress passen schließlich so gar nicht zum „Mythos“.

Thilo F. Papacek ist Projektkoordinator beim Institut für Ökologie und Aktions-Ethnologie und arbeitet als freier Journalist.

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