Britischer Literaturpreis: Roman ohne Trost

Das Aufwachsen in einer traditionellen religiösen Gemeinschaft in der niederländischen Provinz und ein tragisches Unglück stehen im Zentrum von Marieke Lucas Rijnevelds Roman „The Discomfort of Evening”. Das Erstlingswerk ist mit dem diesjährigen International Booker Prize ausgezeichnet worden.

Marieke Lucas Rijneveld (hier auf einem Foto aus dem Jahre 2016) machte zuerst mit Gedichten auf sich aufmerksam, bevor mit „The Discomfort of Evening” der erste Roman folgte. (Foto: Wikimedia/CC-BY-SA-4.0)

Als Jas zehn Jahre alt ist, stirbt ihr großer Bruder Matthies kurz vor Weihnachten bei einem tragischen Unfall. Die Familie, die einer strenggläubigen calvinistischen Gemeinde angehört, zerbricht an diesem Verlust, besonders da es niemandem gelingt, das Geschehene in Worte zu fassen. Über Tote spricht man nicht, den Toten gedenkt man, sagt die Mutter und drückt ihre Trauer dadurch aus, dass sie beginnt zu hungern. Jas weigert sich ihrerseits, ihre rote Jacke abzulegen und der Vater widmet sich nur noch seinem Hof und seinen Kühen. Matthies’ drei jüngere Geschwister müssen alleine nach Wegen suchen, das Geschehene zu verarbeiten.

Der Roman „The Discomfort of Evening” von Marieke Lucas Rijneveld dokumentiert diese Suche aus der Sicht der jungen Ich-Erzählerin. Sie beobachtet alle Familienmitglieder ganz genau, beschreibt aus kindlicher Perspektive und trotzdem akribisch, wie der Tod das Verhalten aller Menschen verändert. „From now on, every visitor to the house would wipe their feet for longer than necessary.” Jas sieht, hört und empfindet alles, was eigentlich unter der Oberfläche liegt, sie verleiht dem Schmerz der Familie eine Stimme. Sehr eindringlich schildert Rijneveld die Momente, in denen die Familie von Matthies’ Tod erfährt und die Tage, an denen der Sohn im Haus aufgebahrt wird.

Dafür wurde Rijneveld in diesem Jahr mit dem International Booker Prize ausgezeichnet, als jüngste*r Autor*in und erste*r Niederländer*in. Rijneveld definiert sich selbst als nicht-binär, der Zweitnamen Lucas ist einem imaginären Freund aus der Kindheit entliehen. Auch Rijnevelds Bruder verstarb früh bei einem Autounfall, die Familie war streng religiös und Rijneveld arbeitet heute neben der Schriftstellertätigkeit in einem landwirtschaftlichen Betrieb. In den Roman fließt Erlebtes ein, ausdrücklich autobiografisch ist er jedoch nicht. In der Laudatio zum Booker Prize hieß es, Rijneveld erschaffe hier eine Sprachwelt, die mit nichts anderem zu vergleichen sei.

Immer tiefer sinkt man hinunter in diese eiskalte Kindheit.

Das in drei Teile gegliederte Buch begleitet Jas und ihre Familie über zwei Jahre, in denen das Leben sich immer mehr zum albtraumhaften Huis Clos steigert. Aus Kindern, die nicht trauern dürfen, werden Kinder, die zwanghafte Ticks und schwerwiegende psychische und physische Leiden entwickeln. Obwohl Nachbarn und Lehrerin Anstoß am immer auffälliger werdenden Verhalten der Kinder nehmen, befreit niemand sie aus ihrer Starre. Der im Titel enthaltene Begriff „Discomfort” lässt es schon erahnen: Trost sucht man hier vergeblich.

Immer tiefer sinkt man hinunter in diese eiskalte Kindheit. In der zweiten Hälfte kommt es zu einer thematischen und stilistischen Verschiebung: Der verstorbene Bruder gerät außer Sichtweite, stattdessen fokussiert sich Rijneveld auf die bald von sexueller Gewalt geprägten Beziehungen zwischen den Geschwistern Jas, Hannah und Obbe. Die anfangs vielschichtigen Figuren werden immer düsterer und eindimensionaler; die Grausamkeiten, die Jas selbst erlebt oder deren Zeugin sie wird, immer unerträglicher: So vergewaltigt ihr Bruder Obbe eine Schulfreundin auf brutalste Weise und der Vater versucht, Jas’ chronische Verstopfung zu kurieren, indem er ihr vor aller Augen Seife einführt.

Diesen Teil des Buches zu besprechen, ist ein schwieriges Unterfangen, denn natürlich ist es wichtig, solches Leid in aller Deutlichkeit zu benennen, andererseits fühlt man als Leser*in aber auch das titelgebende Unbehagen, wenn man, wie ein*e Voyeur*in, der immer dichter werdenden Folge an sich wiederholenden Grausamkeiten hilflos beiwohnt. Der Ton ist hier weniger definiert: Mal klingt Jas eher wie ein Kleinkind als wie eine 12-Jährige, dann wieder analysiert sie ihre Situation eloquent und lyrisch, sodass Rijnevelds Stimme klarer zu vernehmen ist als die der Figur. Die wiederholten Verweise auf eine vermeintliche jüdische Familie, die Jas im Keller vermutet, wirken manchmal, als instrumentalisiere Rijneveld die Naivität der Protagonistin, um das eigentlich Unsagbare dann doch zu sagen.

Im Laufe der Lektüre beginnt „The Discomfort of Evening” immer stärker an „Und es schmilzt” zu erinnern, den 2017 erschienen Debütroman der Belgierin Lize Spit. Nicht nur in Tonfall und Thematik, auch identische Motive, wie Eis oder eine Schlinge, spielen eine entscheidende Rolle.

Rijnevelds Buch berührt dadurch, wie unerbittlich und treffend kindliches Leid und Trauer in der ersten Hälfte seziert werden. Die zweite Hälfte ist zweifellos eindringlich, aber es bleibt das ungute Gefühl, dass die Schonungslosigkeit zum Selbstzweck wird und Rijneveld um des Verstörens willens verstört. Möglicherweise ist das aber ein kluger literarischer Schachzug: So unerbittlich wie die Umstände, ist auch der/die Autor*in. Das Gnadenloseste an diesem Buch ist am Ende vielleicht, dass Werk und Autor*in durch dieses Vorgehen eine Aufmerksamkeit zuteil wird, die der Protagonistin, und Kindern wie ihr, leider meist verwehrt bleibt.

Marieke Lucas Rijneveld: The Discomfort of Evening. Aus dem Niederländischen ins Englische übersetzt von Michele Hutchison. Graywolf Press, 296 Seiten.

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