Demenz: War Ich gestern?


Claire Faber und Anina Valle Thiele

Der Welt-Alzheimertag am 21. September soll die Öffentlichkeit für das Thema „Alzheimer“ sensibilisieren. Was bedeutet eine Alzheimer-Diagnose, und wie gehen wir mit dementen Menschen um?

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13te Edition des Memory-Walks an der Place Clairefontaine. (Foto: Wikimedia)

„Ech muss mech vu mir trennen, mäin Numm ass just e Wuert, mat deem dir mech wëllt vernennen, dee Mënsch, deen ech mol wor, ass am gaange fort ze rennen, dir braucht och net ze maachen, wéi wann der mech géift gutt kennen …“ Dieses Lied ist anders, als das, was man von Serge Tonnar kennt. Es klingt nicht heiter und frech, sondern düster. Martialisch singt ein Chor den Refrain des Lieds: „Bonjour & Awuer“. Was sich beim Hören des Liedes einstellt, ist dumpfe Beklemmung und, ja: Betroffenheit. Entspricht die Vorstellung, dass Menschen mit Alzheimer sich selbst verlieren, nicht einem 
Klischee?

Chiara Muller (Name von der Redaktion geändert), bei deren Vater vor drei Jahren „Alzheimer“ diagnostiziert wurde, ist da anderer Meinung. „Als ich das Lied zum ersten Mal gehört habe, ist mir wirklich bewusst geworden, dass mein Vater sich auch von sich selbst trennen muss. Ich dachte, dass nur wir darüber trauern, dass er nicht mehr der Mensch wird, der er mal war.”

Was bedeutet die Diagnose „Alzheimer“ für den Betroffenen selbst? Kommt es wirklich zu einem sukzessiven Identitätsverlust – wie wir landläufig meinen, und wie Tonnar es in seinem Lied singt, das er eigens für den Welt-Alzheimer-Tag am 21. September im Auftrag des Familienministeriums komponiert und gemeinsam mit Betroffenen nach einem Workshop aufgenommen hat? Gibt man sich selbst, seine Identität, die die eigene Persönlichkeit ausmacht, auf und kommt dies einem Verlust gleich? Was macht überhaupt das ‚Ich’ aus, und wofür schätzen wir einen Menschen – für seine Erfahrungen, Werte oder Interessen? Und verändert sich die Persönlichkeit, wenn Erinnerungen nicht mehr da sind und Bezüge im Alltag nicht mehr zugeordnet werden können? Ihr Vater habe sich schon verändert, erzählt Chiara Muller: „Von einem wirklich intellektuellen Menschen, der immer auf dem neuesten Informationsstand war, viele Zeitungen und Bücher gelesen hat, hin zu jemanden, der kaum mehr liest.“ Stattdessen interessierten ihn heute für uns eher banale Sachen, zum Beispiel, wie viele Flugzeuge in einer Stunde fliegen. Er war und ist noch immer ein sehr ruhiger Mensch, erzählt Chiara, die in der Entwicklung eher eine Interessenverschiebung sieht als eine wirkliche Persönlichkeitsveränderung.

„Demenz“ ist ein Sammelbegriff für Erkrankungen, die mit einem Verlust der geistigen Funktionen wie Denken, Erinnern, Sich-Orientieren, Verknüpfen von Denkinhalten usw. einhergehen. Eine Alzheimer-Erkrankung ist die häufigste Form von Demenz und wird in rund 60% der Fälle diagnostiziert.

Von einer Alzheimer-Erkrankung sind fast ausschließlich Menschen im fortgeschrittenen Alter betroffen. Durch die demografische Entwicklung der, vor allem in den westlichen Industrienationen, unaufhaltsam alternden Gesellschaft, nimmt die Alzheimer-Prävalenz kontinuierlich zu. Unter den 65-Jährigen sind etwa zwei Prozent betroffen, bei den 70-Jährigen sind es drei Prozent und bei den 75-Jährigen sechs Prozent. Unter den 85-Jährigen zeigen bereits etwa 20 Prozent Symptome der Krankheit. Frauen sind häufiger betroffen, da sie im Durchschnitt älter werden. Weltweit sind insgesamt rund 46 Millionen Menschen von Demenzerkrankungen betroffen, zwei Drittel davon in Entwicklungsländern.

Für Luxemburg gibt es keine Studien. Die „Association Luxembourg Alzheimer“ (Ala) geht auf der Grundlage von Statec-Schätzungen von rund 7.000 Menschen mit einer Alzheimer-Erkrankung aus. Aktuell unterhält die Ala sechs Tagesstätten. 2014 wurden dort rund 250 Personen begleitet. Die Nachfrage nach Bettenplätzen ist hoch; auf den Wartelisten stehen im Durchschnitt über 270 Personen. Neben ihren Beratungsstellen bietet die Ala eine 24 Stunden erreichbare telefonische Helpline an, sowie ein Alzheimer-Café und Schulungs-Kurse. „Es ist gut, dass es diese Anlaufstelle gibt“, unterstreicht Chiara Muller, die den Beratungsdienst der Ala für Angehörige schon zweimal konsultiert hat, um Unsicherheiten loszuwerden und Fragen zur Krankheit zu stellen. „Die haben mich dort gut aufgefangen.“ Die Fragen von Angehörigen, die sich an die Ala wenden, drehen sich meist um administrative Vorgänge oder um die Krankheit selbst.

Voreilige Diagnose?

Noch wird die Krankheit im Regelfall indirekt, d.h. per Ausschlussverfahren, diagnostiziert. Daneben gibt es wissenschaftliche Verfahren, die aber mangels Ausgereiftheit und wegen der hohen Kosten nur selten angewandt werden. Diese alternativen Diagnosemöglichkeiten werden in Luxemburg noch nicht angeboten, sodass der Patient sie nur im Ausland nutzen kann – ein teures und aufwendiges Unterfangen.

Gerade in jüngster Zeit kritisieren Autoren in verschiedensten populärwissenschaftlichen Publikationen immer wieder die aus ihrer Sicht zu voreilig getroffene Diagnose per Ausschlussverfahren. Denn nicht selten führten Depressionen oder traumatisierende Erlebnisse ebenfalls zu demenzähnlichen Zuständen. Die überstürzte Alzheimer-Diagnose münde in einer raschen und breitgefächerten Verabreichung von Medikamenten, von der nicht der Patient, sondern die Pharmaindustrie profitiere. So hält Cornelia Stolze in ihrem Buch „Vergiss Alzheimer!“ die Diagnose vor allem für eine Auswirkung von Arzneimitteln, Depressionen und falschen Therapien (woxx 1214). Und selbst wenn Alzheimer kein Konstrukt ist, von dem allein die Pharma-Konzerne profitieren, wie Stolze meint, so kann die Vermischung mehrerer Medikamente fatale Folgen haben. „Man muss Multimedikation vermeiden“, betonen die beiden Direktionsbeauftragten der Ala, Lydie Diederich und Denis Manchini. Oft werde auch in Luxemburg die Diagnose „Alzheimer“ zu leichtfertig abgegeben, bestätigt Michèle Wennmacher von der Patientenvertretung.

Chiara Muller erzählt, dass es anfangs – bevor die Alzheimer-Diagnose bei ihrem Vater gestellt wurde – hart für sie war, mit den Veränderungen umzugehen und diese einzuordnen. Zu Beginn der Krankheit habe er immer wieder dieselben Geschichten erzählt, und es sei schwierig gewesen, zu unterscheiden, ob das die Folge von Stress oder das Ergebnis einer Depression war. „Als die Diagnose dann kam, war ich nicht wirklich überrascht“. Heute hätten sich die Rollen in der einst engen Vater-Tochter-Beziehung quasi vertauscht. War er früher für Chiara da, wenn sie einen Ratschlag brauchte, müsse sie heute zunehmend Entscheidungen für ihn treffen. Das gleiche einem langsamen Entmündigungsprozess, und solche Entscheidungen seien für Angehörige sehr schwierig. Wie 
etwa sollen Angehörige entscheiden, wann der Betroffene nicht mehr Auto fahren darf?

Rückzug, Trotz und Momente in denen die Selbstbestimmung offensiv eingefordert wird, erscheinen da nur als logische Folge. Das Bewusstsein über den eigenen Zustand ist abhängig vom Stadium der Demenz. Anfangs ist sich der Patient seiner Situation bewusst und stellt sich viele Fragen. Je fortgeschrittener die Krankheit, desto seltener werden die „klaren Momente“. Wird die Person nicht dauernd auf ihre Defizite angesprochen, so kann sie sich durchaus wohlfühlen, berichten die Direktionsbeauftragten der Ala. Doch besonders im Anfangsstadium, wenn die Patienten sich ihrer Situation noch voll bewusst sind, ist die psychische Belastung sehr hoch, weshalb nicht selten zusätzlich eine Depression entsteht. Dies ist zwar medikamentös behandelbar, doch gerade bei der Medikation ist Vorsicht geboten, da Antidepressiva die Verwirrung noch verstärken können – inbesondere in Kombination mit Schlafmitteln und verschiedenen Psychopharmaka, wie Benzodiazepinen.

Ruhigstellung kann verwirren

Doch leider gibt es in den Pflegehäusern und Kliniken Luxemburgs zu wenig geschultes Fachpersonal, das sich der Folgen einer solchen Multi-Medikation bewusst ist. Unruhige Patienten durch Medikamente „ruhigzustellen“, erweist sich nun einmal als die pragmatischste Lösung bei Überbelastung des Personals. Obwohl Alzheimer nicht heilbar ist, ließe sich das Fortschreiten durch adäquate Behandlung und einen den Gegebenheiten angepassten sozialen und psychologischen Umgang mit dem Patienten ein Stück weit bremsen, unterstreicht Lydie Diederich. Hektik im Alltag, ein straffer Tagesablauf und zu wenig Personal sind gerade im Umgang mit Alzheimer-Patienten schlechte Vorrausetzungen, um auf individuelle Bedürfnisse einzugehen. Wie lässt sich die Würde der Menschen in Pflegeinrichtungen wahren? Wie vermeiden, dass das Umfeld und das Pflegepersonal in Heimen die Betroffenen behandeln wie Kleinkinder?

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An der Schwelle zur Ewigkeit, Vincent van Gogh (1890).

„Es gibt sicherlich eine ‚richtige’ Betreuung. Dafür gilt es einen hohen Personalschlüssel zu haben, das Personal muss qualifiziert sein, und man muss auch auf die Lebensgeschichte der Person sowie auf ihren persönlichen Rhythmus eingehen“, betont Michèle Wennmacher. So sollten Menschen, die keine Frühaufsteher waren, auch im Heim nicht zwangsweise zu solchen gemacht werden. Mit den Menschen zu reden, auf sie, ihre Geschichte und ihre Bedürfnisse einzugehen und sie nicht wie eine Topfpflanze zu behandeln, sei wichtig. Leider fehle es, so Wennmacher, an einer richtigen Anlaufstelle für Beschwerden. Denn trotz des Patientenrechtsgesetzes vom 24. Juli 2014 und der „Europäischen Charta der Rechte und Pflichten älterer hilfe- und pflegebedürftiger Menschen“ seien immer wieder Fehltritte zu beklagen. „Alter und Pflegebedürftigkeit dürfen nicht dazu führen, dass die in den internationalen Dokumenten anerkannten und in den demokratischen Verfassungen verankerten Freiheiten und Rechte missachtet werden“, stellt die Charta klar. Ein hehrer Grundsatz, dem die Realität aber kaum gerecht wird.

Neben der Wahrung ethischer Grundsätze in Heimen kommt es aber auch darauf an, die breite Masse stärker für das Thema zu sensibilisieren. Oft verdrängt man die Möglichkeit einer solchen Erkrankung – wie man sich ja auch nicht mit dem Älterwerden auseinandersetzt. Doch die Zeit holt einen ein und irgendwann auch die Krankheit, ob selbst betroffen oder als Angehöriger. Da die Anzahl der Erkrankten voraussichtlich in den nächsten Jahrzehnten massiv steigen wird – die WHO rechnet bis 2050 mit einem Anstieg auf 131,5 Millionen -, und wir immer älter werden, wächst allgemein das Risiko der Erkrankung. Es besteht also Bedarf an einer gesellschaftlichen Auseinandersetzung mit Demenz.

Diese strebt auch die Ala mit ihrem „Memory Walk“, der am 19. September zum vierzehnten Mal stattfindet an. Bei einem Happening mit Musik, Facepainting und gastronomischen Genüssen auf der Place Clairefontaine will sie öffentlich auf Demenz und Alzheimer aufmerksam zu machen. Der 21. September als „Welt-Alzheimertag“ steht im Zeichen der Betroffenen wie der Angehörigen. Ein wichtiger Termin, doch letztlich nicht mehr als ein Tropfen auf den heißen Stein. Denn müsste man sich nicht – statt nur einmal im Jahr durch die Stadt zu laufen und plakativ auf die Krankheit hinzuweisen – viel mehr die Frage stellen, welchen Stellenwert ältere Menschen in unserer Hochleistungsgesellschaft haben? Betrachtet man die überlaufenden Wartelisten der Alters- und Pflegeheime, beschleicht einen das Gefühl, kranke und alte Menschen seien das Abfallprodukt einer ausschließlich auf Wachstum fixierten Gesellschaft, in der die Begriffe Solidarität und Altruismus nur noch die Werteunterrichtsbücher verschönern. Dass die wachsende Zahl von Demenzkranken, Nebenresultat des medizinischen Fortschritts des letzten Jahrhunderts, der eine höhere Lebenserwartung ermöglicht, auch die Kassen der Pflegeversicherung sprengen wird, macht die Sache nicht besser.

So kann man wohl nur Chiara Mullers Beispiel folgen, nämlich unseren natürlichen Instinkt, die Angst vor Veränderung, zu überwinden versuchen und die Menschen so anzunehmen, wie sie sind: „Ich glaube schon, dass man akzeptieren muss, dass der Mensch, der einmal mein Vater war, nicht mehr zurückkommt. Also, dass man sich sagen muss: Es ist jetzt so, wie es ist. Man hat ja noch viele schöne Momente. Vorher konnte ich vier Stunden mit ihm durch die Stadt schlendern, jetzt ist es halt ne halbe Stunde. Es hängt davon ab, wie er drauf ist, aber dann freue ich mich umso mehr, wenn wir gute Momente haben.“


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