Der Kosmos des Dietmar Dath: Literarische Wundertüte

„Gentzen oder: Betrunken aufräumen“ heißt die neueste Lieferung aus der faszinierenden Textfabrik des Dietmar Dath. Darin wird kühn fabuliert und zugleich theoretisiert. Ein anspruchsvoller literarischer Brocken, in dem der Autor einmal mehr eine Geistesgröße der Vergessenheit entreißt.

Gesellschaftskritik und Naturwissenschaft mit visionärem Denken verbinden: der Autor Dietmar Dath versteht es, seine Leserschaft zu faszinieren. (Foto: Hanke Wilsmann)

„Erst wird einer krank. Dann noch einer. Dann erwischt´s eine, dann noch wieder einen. Noch einer folgt, noch eine, dann sind sogar ein paar mehr als fünf oder acht auf einmal dran.“ Der Beginn des sechsten von insgesamt 140 Kapiteln in Dietmar Daths Roman „Gentzen“, trägt, wie so oft bei Dath, gesellschaftskritische Züge. „Nichts Wildes geschieht eigentlich: Ein paar Körper werden krank und melden sich deswegen bei Amtspersonen, soll sagen, bei Individuen an den Keyboards und Keypads der sozialen Administration, bei Angestellten des Staates, die Geld verwalten, das der Allgemeinheit gehört. Von diesem Geld müssen einige der kranken Körper leben. Sie leben meist nicht gut, ob krank oder gesund.“

Dennoch geht es in dem Roman nicht zuletzt um Mathematik und mathematische Physik. Der Protagonist des Buches ist Schriftsteller und arbeitet selbst an einem Roman über den deutschen Mathematiker und Logiker Gerhard Gentzen, der die moderne mathematische Beweis
theorie mitbegründet hat. Daths Roman beginnt mit dem traurigen Ende der Hauptfigur: Der 1909 in Greifswald geborene Gentzen starb im August 1945 im Prager Kreisgefängnis an Unterernährung. „Was dem Kopf des Gefangenen entsprungen ist, wird helfen, Computer zu programmieren“, ist zu lesen. Doch seine Klugheit habe ihm nichts genützt: „Er weiß seit Tagen, dass er an seinem Hunger wird sterben müssen.“

Das Buch ist keine Biografie, die eine Lebensstation des Protagonisten nach der anderen abhandelt. Das hat Dath bereits 2003 in seiner improvisierten Biografiesammlung „Höhenrausch. Die Mathematik des XX. Jahrhunderts in zwanzig Gehirnen“ vermieden. Das Sachbuch besteht aus einzelnen Szenen oder fiktionalisierten Gesprächen mit 20 wichtigen Mathematikern.

Der 1909 in Greifswald geborene Gerhard Gentzen arbeitete im von den Nationalsozialisten besetzten Tschechien ab 1943 an der deutschen Universität in Prag als Dozent. Nach der deutschen Kriegsniederlage wurde er dort festgenommen und inhaftiert. Dath kontrastiert den logisch denkenden Gentzen mit dem nationalsozialistischen Regime. Dieses zog seine Legitimation aus Wahnvorstellungen. Mathematik ist das Gegenteil von Wahn. Doch Gentzen war kein Oppositioneller. Eher könnte man ihn als Mitläufer bezeichnen. Er trat der NSDAP bei, glaubte gleichwohl nicht an die Nazi-Ideologie: „Er widersetzte sich dem Zeug aber auch nicht stärker als die meisten seiner Landsleute. Er trat sogar in einen Verein von Arschlöchern namens Sturmabteilung ein, abgekürzt SA, weil er sich selbst einredete, dass man in ‚Deutschlands Größe‘ wohl gar nicht mehr zum Rechnen, Denken, Arbeiten kommen würde, wenn man nicht einem Arschlochverein angehörte, der die genannten Wahnideen mit Gewalt gegen zusehends Wehrlose propagierte und umsetzte.“

Gentzen kommt in dem Buch doppelt vor, sowohl als historische wie auch als spekulative Figur. So erlebt man ihn etwa als Siebenjährigen, der seiner Mutter ein Gedicht schreibt, als Bücher verschlingenden Teenager und als Wehrmachtssoldat. Dath hat seinen Roman aus mehreren Dutzend Figuren und unzähligen Szenen, Haupt- und Nebensträngen, sowie unterschiedlichen Textarten komponiert: erzählend, essayistisch, dialogisch. Dem einen oder anderen Leser mag es daher schwerfallen, sich in diesem Textlabyrinth zurechtzufinden. Das Buch scheint überfrachtet, ab und an verwirrend zu sein; aber „Betrunken aufräumen“, so der zweite Untertitel, bedeutet eben abenteuerliches, kreativitätsgetriebenes Denken, das doch auch wieder um eine logische Ordnung ringt. Aber so wenig, wie der Roman handlungs- und charaktergetrieben ist, so wenig gibt der Autor seiner Leserschaft einen roten Faden in die Hand.

Das Buch ist keine Biografie, die eine Lebensstation des Protagonisten nach der anderen abhandelt.

Im Gegenteil treibt Dath so manche surreal anmutende Szene aus dem Roman hervor. So lässt er Gentzen etwa mit Lady Gaga ausgehen, ob ins Kino, ins Museum, zum Konzert einer Popsängerin, oder ins Café, wo er mit ihr über Primzahlen spricht und versucht, ihr die Welt der Mathematik näherzubringen. Dabei merkt er, wie sehr ihm die nicht-mathematische Welt fremd ist. Wie in manchen seiner Romane verfällt Dath auch hier an einer Stelle in exzessives Namedropping, wo der Besitzer eines Comicladens ebenso vorkommt wie der Autor Clemens J. Setz als Souffleur oder Whisky und Whiskey, „zwei überwiegend gute Geister“. Auch Frank Schirrmacher tritt auf. Der 2014 verstorbene Herausgeber der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“, wird als geradezu besessen von dem sogenannten Readerscan beschrieben, mit dem die Lesegewohnheit und das Interesse von Zeitungslesern ermittelt werden sollte. In dieser ziemlich komischen Episode heißt es: „Rezensionen mögen sie gar nicht. Ob sie gerne in der Nase popeln, steht noch nicht fest.“

In einigen Kapiteln geht es um die Notwendigkeit von Kunst, um die Schönheit von Gedanken oder um einen 36-Jährigen in einem Dreiecksverhältnis, kleine Geschichten aus dem „Leben in seiner umfassenden Dummheit“. Komplexer kann ein Plot kaum sein. Chaotisch unaufgeräumt und ausschweifend ist das Buch. Dem Leser wird es, wie gesagt, nicht leicht gemacht, aber er wird, wenn er sich darauf einlässt, belohnt. Nicht zuletzt mit einer Fülle von Einfällen, die in dem Roman wie in einer Wundertüte zu finden sind. Ein Rundumschlag aus Ideen. Ein intertextuelles Feuerwerk, in dem immer wieder Figuren aus anderen Dath-Romanen auftauchen. Wie etwa Cordula Späth, die Wirklichkeit betrachtend von einem „viewpoint außerhalb der Zeit“.

In einem der Handlungsstränge sucht eine Gruppe von drei Freunden, darunter er selbst oder zumindest eine Person seines Namens, ihren verschwundenen WG-Mitbewohner. Die Freunde wollen fast vergessene Geistesgrößen wie Gentzen zurückholen, sie dem Vergessen entreißen, wie Dath es in vielen seiner Texte tut. Dagegen weiß keiner etwas vom Verbleib des Mitbewohners – nicht einmal, ob es ihn überhaupt gegeben hat.

Der 1970 in Südbaden geborene Dietmar Dath, der in Freiburg Physik und Literaturwissenschaft studierte, hat vor seiner literarischen Tätigkeit für verschiedene Zeitungen und Magazine geschrieben, vor allem über gesellschaftliche und popkulturelle Themen. Von 1998 bis 2000 war er Chefredakteur von „Spex“, dem mittlerweile eingestellten Magazin für Popkultur. Inzwischen hat er rund 30 Romane und Erzählungen verfasst, dazu Theaterstücke, Essays, Sachbücher und journalistische Texte. Sein Erzählwerk wurde im Laufe der Zeit immer vielschichtiger. Seit zehn Jahren ist er Redakteur im Feuilleton der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“. Wie 2008 bereits sein Buch „Die Abschaffung der Arten“, stand „Gentzen oder: Betrunken aufräumen“ in diesem Jahr auf der Longlist für den Deutschen Buchpreis.

Auf formal und stilistisch faszinierende Weise nimmt Dath seine Leser mit auf eine Zeitreise, die mit dem schottischen Aufklärer David Hume bis weit zurück ins 18. Jahrhundert und, in einer dystopischen Episode, bis zum 23. Mai des Jahres 2130 reicht; eine Zeit, in der „Apparate besser denken, mehr empfinden und schöner sprechen als Menschen“. Düster ist der Roman auch dort, wo es um „die Zerstörung der Vernunft“ geht, die Abdankung der reflektierten naturwissenschaftlichen Forschung. Die Technologie stünde nicht mehr im Dienst der Menschen, sondern der Konzerne, die sich mit Algorithmen die Welt untertan machen.

In Gentzen bündelt Dietmar Dath vieles aus seinen früheren Werken. Dem US-Schriftsteller Thomas Pynchon ähnelt er dabei nicht nur, weil er wie dieser Physik studierte, sondern auch aufgrund der Komplexität der Werke beider Autoren. Was bei Dath aber mehr ins Gewicht fällt, ist sein gesellschaftskritischer Ansatz. Auch wenn in dem eingangs zitierten Kapitel „Seuchensteuerung und Selbstauskunft“, die Menschen in den „Scheißwohnblocks“ nur noch als von sogenannten Amtspersonen kontrollierte „Körper“ daherkommen, ist Daths Roman mehr als eine Dystopie. Sie ist ein großer und in Ansätzen zumindest visionärer und zum Denken anregender Wurf.

Dietmar Dath: Gentzen oder: Betrunken aufräumen. Kalkülroman. 
Verlag Matthes & Seitz, 604 Seiten.

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