Der Philosoph Hegel: Zeit der Eule

Zu seinem 250. Geburtstag gibt es endlich eine Biografie, die mit den Irrtümern um die Philosophie von Georg Wilhelm Friedrich Hegel aufräumt und sein Denken erklärt. Klaus Vieweg präsentiert ihn als Philosophen der Freiheit.

Vordenker der modernen bürgerlichen Gesellschaft: Hegels Geburtshaus in der Stuttgarter Innenstadt. (Foto: Flickr)

Was wiegt schwerer? Die „Grundlinien der Philosophie des Rechts“, die „Phänomenologie des Geistes“ oder die Aussicht auf eine Maß Bier im Englischen Garten von München? Diese Frage habe ich mir in meiner Studienzeit vor etwa 30 Jahren häufig gestellt. Während der Philosoph Dieter Henrich, eine der Koryphäen seines Fachs und großer Experte des Deutschen Idealismus, drei Vorlesungsstunden lang in den ehrwürdigen Gemäuern der Ludwig-Maximilian-Universität unter anderem über das Denken von Georg Wilhelm Friedrich Hegel dozierte, wurde mein Durst immer größer. Es war nicht nur mein Wissensdurst. Die Flasche Valpolicella zu Mittag in der legendären Cafeteria der nahen Kunstakademie hatte ihr Übriges geleistet. Sie hatte die Gedanken schwer werden lassen. Bis schließlich jeder Zweifel – Bier auf Wein, das lass sein – verflogen war. Hegels Denken, das wog tonnenschwer. Der Weingeist hatte gesiegt, der Weltgeist konnte warten.

Dieter Henrich hat es trotz dieser bacchantischen Verführungen geschafft, dem Rezensenten aufzuzeigen, was es bedeutet, Hegels Denken durch präzise Einzelstudien zu erschließen. Es war nicht so sehr der philosophiegeschichtliche Überblick, sondern die schrittweise Rekonstruktion zentraler Argumente, die zum Verständnis des Philosophen beitrugen. Henrich lieferte mir nicht zuletzt die Grundlage dafür, Hegels 1820 erschienenes Werk „Grundlinien der Philosophie des Rechts“ einzuordnen, eines der folgenreichsten Werke der politischen Theorie. Die sich auf ihn berufenden philosophischen Strömungen lassen sich unter dem Begriff Hegelianismus, der sich wiederum grob in Rechts- und Linkshegelianismus unterschied, zusammenfassen. Die wichtigste Folge ist die von Marx entwickelte Kritik der politischen Ökonomie, die neben der darin enthaltenen Kritik an der klassischen Nationalökonomie auch zentral in Auseinandersetzung mit den Schriften Hegels entstanden ist.

Insbesondere Hegels Rechtsphilosophie wurde von ihrem Erscheinen an kontrovers diskutiert. Das Vorurteil, er sei ein reaktionärer Denker und seine Rechtsphilosophie eine Rechtfertigungstheorie der preußischen Restauration gewesen, wirkt bis heute nach, auch wenn sich seit einigen Jahrzehnten eine alternative Lesart etabliert. Der Vorwurf, der dem Philosophen lange anhaftete, geht auf jenen berühmten Satz aus der Vorlesung „Grundlinien der Philosophie des Rechts“ zurück: „Was vernünftig ist, das ist wirklich; und was wirklich ist, das ist vernünftig.“

Ein geselliger Philosoph

Am 27. August jährt sich Hegels Geburtstag zum 250. Mal. Vor kurzem ist endlich eine umfassende Biografie über ihn erschienen. Sie war längst überfällig. Klaus Vieweg stellt in seinem Buch einiges richtig, was über den großen Denker, der 1770 in Stuttgart als ältestes von drei Kindern zur Welt kam, behauptet worden ist. Der 66-jährige Autor, Professor für klassische deutsche Philosophie an der Universität Jena, wo Hegel selbst seine akademische Karriere begonnen hatte, beschreibt ihn als Philosophen der Freiheit, wie das Buch auch im Untertitel heißt, sowie als Vordenker der modernen bürgerlichen Gesellschaft.

Vor allem aber war der schwäbische Beamtensohn, wie auch seine beiden berühmten Kameraden im Tübinger Stift, Friedrich Hölderlin und Friedrich Schelling, ein glühender Anhänger der Französischen Revolution. Noch später, als bürgerlicher, verheirateter Professor, soll er an jedem 14. Juli das Glas mit einem Trinkspruch auf „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“ erhoben haben.

Der Philosoph war alles andere als ein Akademiker im Elfenbeinturm. Er galt als gesellig, lebenslustig und humorvoll, und er pflegte weitreichende Kontakte. „Er erhält Zugang zur neuesten Literatur und vermag – im Gegensatz zu Hölderlin – sich in Bekannten- und Gesprächskreisen souverän zu bewegen“, schreibt Vieweg. Neben der Kommunikativität war „sein unbändiges Interesse an den vielfältigen Facetten des Lebens“ einer seiner hervorstechenden Charakterzüge.

Vieweg hat die Biografie auf 824 Seiten in neun Kapitel unterteilt, beginnend mit „Die liebe Vaterstadt – Kindheit und Jugend in Stuttgart“ (1770-1788). Er folgt Hegels nicht besonders aufregendem Lebensweg über das Studium in Tübingen, wo er aufgrund seines im Vergleich zu den Kommilitonen höheren Alters als „der Alte“ bezeichnet wurde, und die Zeit in der schwäbischen Wohngemeinschaft im Tübinger Stift (1788-1793), als Hofmeister bei einer Patrizierfamilie in Bern (1793-1796) bis zu den für den weiteren Lebenslauf wichtigen Jahren in Frankfurt, wo er – eine durch Hölderlin vermittelte Stelle – als Hauslehrer bei der Kaufmannsfamilie Gogel tätig war.

„In Frankfurt findet Hegel eine ‚sociale Welt‘, die ihm nach Herz und Geist zusagte“, heißt es. „Seine Aufgaben als Lehrer lassen ihm Zeit für seine philosophischen Arbeiten, deren Intensität er forciert.“ Hegel verkehrte damals in bürgerlich aristokratischen Kreisen und konspirierte zugleich mit Republikanern, Demokraten und Revolutionsanhängern aus Stuttgart, schreibt Vieweg. So ganz nebenbei entwarf er eine Konzeption für eine neue württembergische Verfassung. In Frankfurt stand er nicht nur in enger Verbindung mit den Sympathisanten der Revolution, sondern übernahm auch einen Briefübermittlungsdienst: „Die herzogliche Untersuchungskommission hat diesen gefährlichen Kurierdienst Hegels, eine den Tatbestand des Hochverrats erfüllende Handlung, protokolliert.“

Ein schlechter Redner

Weiter ging es schließlich nach Jena, was eine „Entdeckungsreise ins Wissen“, in die „Hauptstadt der Philosophie“, war und wo die Grundgedanken des „absoluten Idealismus“ entstanden. Dieser Phase (1801-1807) ist – neben der das Buch abschließenden Berliner Zeit – das zweitlängste Kapitel des Buches gewidmet. Es folgte ein kurzes Intermezzo als politischer Journalist bei der „Bamberger Zeitung“ (1807-1808). Zu Beginn dieser Lebensetappe wurde die „Phänomenologie des Geistes“ veröffentlicht (1807). Danach verschlug es ihn nach Nürnberg, wo Hegel Rektor des ersten humanistischen Gymnasiums in Deutschland wurde (1808-1816). Auf dem Weg zur akademischen Laufbahn machte er sich dann in Richtung Heidelberg (1816-1818) auf und verbrachte schließlich die letzten 13 Jahre in Berlin (1818-1831), wo Hegel seinen Aufstieg zur Weltgeltung erlebte.

Hegel galt übrigens als schlechter Redner: „Er zerstückelte Sätze, kramte in Papieren, schnupfte Tabak, krächzte und hustete. Er sprach zu sich selbst, ein lautes Selbstgespräch, eine Art denkende Improvisation – er dachte seinen Zuhörern etwas vor.“ Also war er wohl so ziemlich das Gegenteil von heutigen Populärphilosophen wie Michael Sandel oder Yuval Noah Harari. Auch sind seine Werke, anders als die Bücher solch medial dauerpräsenter Autoren, keine leicht zu konsumierende Ratgeberlektüre. Seine Sätze sind kompliziert. Das erinnert an Hegels Zeitgenossen Ludwig van Beethoven, der übrigens im selben Jahr geboren wurde: Der große Komponist schuf Stücke wie die Hammerklaviersonate, die lange als unspielbar galt, bis sie Franz Liszt Jahrzehnte später „bezwang“. Wie Hegel war auch Beethoven ein Anhänger der Französischen Revolution.

Hegels Einfluss breitete sich zuerst in Deutschland aus, im Ausland dann ab den 1820er-Jahren, sodass sich Hegel-Schulen mit je nach Land unterschiedlichen Positionen bildeten. Klaus Vieweg erzählt das Leben des Denkers nicht einfach nur brav nach, sondern stellt den Philosophen in den Kontext seiner Zeit. Er erklärt dessen Denken klar und anschaulich, erläutert Begriffe wie „das abstrakte Recht“ ebenso wie „Moralität“ und „Sittlichkeit“.

Die Familie wird als erste Stufe der Sittlichkeit dargestellt, die bürgerliche Gesellschaft als zweite und Staat und Freiheit als dritte – wobei „der Staat als die Wirklichkeit der sittlichen Idee“ begriffen wird. Dass Hegel fälschlicherweise als Verfechter des Obrigkeits- und Polizeistaates verunglimpft wurde, liegt schließlich an dem „verfemten Doppelsatz“ von der „Vernunft der Wirklichkeit“, mit dem Hegel versuchte, dem reaktionären Verfolgungsdruck zu entgehen. Es sei einer der „am meisten missverstandenen Stellen der gesamten Philosophiegeschichte“, schreibt Vieweg. In der Vorlesungsschrift hatte es nämlich geheißen: „Was wirklich ist, ist vernünftig. Aber nicht alles ist wirklich, was existiert.“ Hegel hat also einen emphatischen Begriff von – erst noch zu realisierender – Wirklichkeit.

Der Herr und der Knecht

Hegel wurde häufig unterschätzt. Dabei gelang es ihm wie kaum einem seiner Zeitgenossen, die Welt in Gedanken zu fassen, und so ist es auch deren Komplexität, die damit zu tun hat, dass dessen Schriften nicht leicht konsumierbar sind. In der „Phänomenologie des Geistes“ (1807) stellt Hegel das Bewusstsein in seinen verschiedenen Stufen der Selbsterkenntnis dar, die Entfaltung des Selbstbewusstseins. Dieses Selbstbewusstsein ist per definitionem gesellschaftlich. Zwei Subjekte befinden sich, metaphorisch gesprochen, in einem Kampf auf Leben und Tod. So wie das andere Selbst zerstört werden kann, kann dies auch mit dem eigenen Selbst geschehen. Beide sind miteinander verbunden, sind voneinander abhängig. Das Leben ist folglich immer ein gesellschaftliches Leben.

Doch das Subjekt in der „Phänomenologie des Geistes“ weiß nicht schon von Beginn an, dass es ein soziales Wesen ist. Diese Erkenntnis ergibt sich infolge des Kampfes auf Leben und Tod. Gewalt ist dabei zwar eine konkrete Möglichkeit. Aber die Erkenntnis, dass sie nicht zum Erfolg führen wird, steht am Anfang des ethischen Gebots, einen Weg zu finden, wie ich mich selbst und den anderen Menschen bestehen lassen kann. Ich stehe nicht nur in einer physischen Abhängigkeit zu ihm, sondern in einer wechselseitigen ethischen Pflicht. Jedes Subjekt entwickelt sich aus einer Abhängigkeit heraus. Es kann nicht von Anfang an auf eigenen Beinen stehen. Diese gegenseitige Abhängigkeit ist nicht immer zu ertragen. Sie ist ambivalent. Wir streben Anerkennung an. Unsere Abhängigkeit kann ungerecht sein wie die zwischen einem Herrn und seinem Knecht: Der Herr behandelt seinen Knecht wie einen Gegenstand, und dieser behandelt bei der Arbeit selbst einen Gegenstand. Indem er Letzteres tut, sieht er die Wirkung seiner Arbeit, wodurch sein Selbstbewusstsein im Zuge dieser Erkenntnis erwacht. Der Knecht ernährt den Herrn, und der ist daher ebenso an den Knecht gekettet wie dieser an ihn.

Bildquelle: Andrej/Flickr

Hegel war ein durch und durch politischer Mensch und positionierte sich öffentlich zu politischen Fragen. Die Grundgedanken der Französischen Revolution feierte er als „herrlichen Sonnenaufgang“ als „Morgenröte“ der freien Existenz. Und eben dieses Denken der Freiheit durchzog sein gesamtes Denken. Der Philosoph starb am 14. November 1831 in Berlin, als dort die Cholera grassierte. Sie gilt als offizielle Todesursache, obwohl auch ein chronisches Magenleiden für wahrscheinlich gehalten wird. Er wurde auf dem Dorotheenstädtischen Friedhof neben dem Philosophen Johann Gottlieb Fichte beerdigt.

Freiheit und Corona

Seine letzte Vorlesung hatte er beendet mit den Worten „Freiheit ist das Innerste, und aus ihr ist es, dass der ganze Bau der geistigen Welt hervorsteigt“. Er verstand Freiheit immer eng verknüpft mit dem, was vernünftig ist. Sie bedeutet nicht, dass man tun kann, was man will. Denn das wäre nicht immer im Sinne der Vernunft und damit ein falsches Verständnis von Freiheit. Hegel unterscheidet daher zwischen Freiheit und Willkür. Vieweg nannte vor kurzem in einem Interview als Beispiel die Corona-Feiern, die eben nicht ein freies Tun darstellen, sondern einfach Verstöße gegen fundamentale Rechte seien. Und ein Verbot solchen Tuns, so der Hegel-Biograf, sei keine Einschränkung der Freiheit, sondern das Garantieren von Freiheit.

Vieweg verweist darauf, dass Hegel Begriffe wie „Notzustand“ oder „Ausnahmezustand“ bei außergewöhnlichen Situationen wie Kriegen, Naturkatastrophen oder Epidemien verwendet hat. Demnach können bestimmte garantierte Rechte unter dem Blickwinkel höherer Rechte eingeschränkt werden. Hegel misst dem Gewaltmonopol des Staates einen hohen Wert bei, was ihn aber nicht zum Apologeten des preußischen Staates oder gar zum Vordenker des Totalitarismus macht, wie manchmal fälschlich behauptet wurde: Zwangsmaßnahmen sind nur durch staatliche Institutionen möglich. Dagegen ist Selbstjustiz nicht erlaubt, bis auf die Ausnahme der Notwehr. Auch ist für Hegel inhumanes Handeln kein freies, sondern willkürlich.

Hegels philosophisches Werk hat eine Wirkkraft wie wenige andere in der neuzeitlichen Philosophie, ob seine Lehre vom subjektiven, objektiven und absoluten Geist, seine Philosophie der Weltgeschichte „als denkende Betrachtung des menschlichen Geschehens in freiheitlicher Absicht“, seine Ästhetik wie auch seine Logik oder Naturphilosophie. Vieles bleibt bestehen. Vor allem „eine der schönsten Metaphern der Philosophiegeschichte“, wie Vieweg schreibt: „Die Eule der Minerva beginnt erst mit der eingehenden Dämmerung ihren Flug.“ Wenn die Morgenröte die Revolution ist, dann ist die Dämmerung die moderne Welt. Erst rückblickend, in der Stunde der Dämmerung, lässt sich ein erhoffter Fortschritt als solcher ermessen. Dafür steht diese Metapher. Minerva steht für das „sich wissende und wollende Göttliche“, als Göttin der Polis und des Wissens in einem. Für die Weisheit.

Klaus Vieweg: Hegel. Der Philosoph der Freiheit. Verlag C.H. Beck 2019, 824 Seiten.

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