Die Bewohner*innen des belgischen Städtchens Zwijndrecht erleben ein Szenario, das in den USA bereits als Vorlage für einen Hollywoodfilm diente: Hochgiftige Chemikalien aus einer nahen Chemiefabrik verseuchen die Umgebung und gefährden ihre Gesundheit. Nun bereiten sie eine Sammelklage vor.
Jedes Mal, wenn Kurt Verstraete nach Hause kommt, in der Einfahrt seines renovierten Bauernhofs parkt und die paar Meter bis zur Tür zurücklegt, wird er daran erinnert, was aus seinem Traum vom Landleben geworden ist. Erwartungsvolles Gackern begrüßt ihn, wenn er an dem Gehege vorbeigeht. Hoffend auf Futter, kommen die vier Hühner aus ihrem Unterschlupf. Doch deren Eier, die Verstraete und seine Familie früher so gerne aßen, rühren sie heute nicht mehr an: Bei Messungen wurde im Jahr 2021 festgestellt, dass sie zwischen 80 und 310 mal mehr Anteile der hochgiftigen Chemikalie PFOS (Perfluoroctansulfonsäure; siehe Kasten) enthielten als in Europa zulässig ist.
Kein Wunder also, dass auch die Blutwerte der Verstraetes weit über der als unbedenklich geltenden Grenze von fünf Mikrogramm pro Liter lagen, als sie sich daraufhin testen ließen. 751 waren es bei der Mutter, 310 bei der Tochter, der Sohn kam auf 607. Das Blut von Kurt Verstraete, einem 52-jährigen Ingenieur, der im nahen Hafen von Antwerpen arbeitet, wies 1023 Mikrogramm PFOS pro Liter auf.
Familie Verstraete ist kein Einzelfall in Zwijndrecht, einem belgischen Städtchen von knapp 20.000 Einwohner*innen. Bei Bauarbeiten zur Erweiterung des Antwerpener Rings wurde im Sommer 2021 entdeckt, dass der Boden mit sogenannten Ewigkeits-Chemikalien verseucht ist. Eine Blutuntersuchung bei knapp 800 Bewohner*innen in einem Drei-Kilometer-Radius um die Fabrik des Chemiekonzerns „3M“ ergab, dass 90 Prozent von ihnen erhöhte Werte hatten, 59 davon in einem Maß, das Gesundheitsrisiken wahrscheinlich macht. Nur neun Prozent der Betroffenen zeigten Werte, die als unbedenklich gelten.
„Wir wollten hier Obst und Gemüse ohne Pestizide anbauen. Nun bekommen wir unser Gift eben auf diese Weise ab“, bemerkt Kurt Verstraete sarkastisch. Der schlaksige, jugendlich wirkende Mann wuchs auf dem Land zwischen Gemüsegärten und eigenen Hühnern auf. Genau so wollten er und seine Familie auch wieder leben, als sie 2013 das große Anwesen zwischen dem Städtchen und der Schelde bezogen, das in einem landwirtschaftlichen Gebiet rund einen Kilometer Luftlinie von der „3M“-Fabrik entfernt gelegen ist. Aus dem Fenster des renovierten Wohnhauses fällt der Blick über den gepflegten Garten. „Die Fabrik sieht, hört und riecht man hier nicht.“
„Wir wollten hier Obst und Gemüse ohne Pestizide anbauen. Nun bekommen wir unser Gift eben auf diese Weise ab.“
Inzwischen fühlt sich Kurt Verstraete oft machtlos. „Es gibt so viele Dinge, auf die man keinen Einfluss hat“, sagt er. Seine Stimme ist ruhig, er ist kein aufbrausender Typ. Doch dass der Konzern die Risiken für die Gesundheit lange verkannte, das Ausmaß der Verschmutzung und damit verbundene Gefahren für sich behielt, macht ihn wütend. „Natürlich ist es schwer, individuelle Erkrankungen eins zu eins darauf zurückzuführen. Aber die flämische Regionalregierung ließ hier kürzlich eine Studie unter 300 Jugendlichen durchführen, die in der Nähe der Fabrik wohnen. Meine Tochter nahm auch daran teil. Drei Viertel davon haben erhöhte PFAS-Werte.“ Die Abkürzung PFAS steht für Per- und Polyfluoralkylsubstanzen und ist ein Sammelname für Tausende von Chemikalien.
Vieles von dem, was in Zwijndrecht in den letzten zwei Jahren geschah, erinnert an den US-amerikanischen Spielfilm „Dark Waters“ aus dem Jahr 2019. Darin werden die Machenschaften des Teflon-Produzenten „DuPont“ thematisiert, Durch Verklappen und fahrlässige Entsorgung brachte der Chemiekonzern Personal und Anwohner*innen des Standorts Parkersburg, West Virginia, mit hochgiftigen PFAS-Chemikalien in Kontakt. Auch Trinkwasserquellen wurden verseucht. Informationen darüber hielt „DuPont“ jahrzehntelang geheim. 2005 und 2006 wurden die Blutproben von rund 69.000 Anwohner*innen untersucht, was Rückschlüsse auf die Wahrscheinlichkeit schwerer Gesundheitsschäden erlaubte. Eine Sammelklage von über 3.500 Geschädigten endete mit einem Vergleich, und „DuPont“ zahlte 671 Millionen Dollar.
„Darkwater 3M“ ist daher auch in Zwijndrecht der Name einer „Vereinigung von Nachbarinnen und Bürgern, um Recht geschehen zu lassen im PFAS-PFOS-Fall gegen 3M“, wie es auf ihrer Website heißt. Zu den fünf Familien, die den Verein bald nach dem Bekanntwerden des Skandals gründeten, gehörten die Verstraetes: „Wir wollen, dass 3M endlich zu seiner Verantwortung steht und betroffene Bürger*innen für alle erlittenen Schäden kompensiert, nun und in der Zukunft.“
Die Zukunft der Menschen hier ist auch das, was Steven Vervaet antreibt. „Wir müssen diesen Ort der nächsten Generation in einem besseren Zustand hinterlassen und die Verschmutzung beseitigen“, sagt er mit Nachdruck. Der 46-jährige Politiker der Partei Groen, selbst zweifacher Vater, ist in Zwijndrecht Beigeordneter für Umweltfragen und eines der Gesichter des Kampfes gegen die chemische Kontaminierung. Zu Beginn des Sommers empfängt er in der Cafeteria des Rathauses, in dem eine Koalition aus Grünen, Christ- und Sozialdemokrat*innen regiert. Dass „aufgeräumt“ werden müsse, wiederholt er in diesem Gespräch mehrfach. Es ist ein Ziel, dem er sein politisches Wirken verschrieben hat.
Wegen des regnerischen Wetters trägt Steven Vervaet eine schwarze Outdoor-Jacke. „Ohne PFAS“ betont er, auf die Beschichtung weisend und mit einem Anflug des halb gequälten, halb ironischen Lächelns, das an die Züge Kurt Verstraetes erinnert. Inzwischen ist er ein Experte für die alltäglichen Produkte und Situationen, in denen Menschen in Kontakt mit PFAS kommen (siehe Kasten). 2019, als er sein Amt antrat, war das noch anders. Er machte sich mit seinem Fachgebiet vertraut und erfuhr, dass es im Umfeld der 3M-Fabrik in der Vergangenheit verschmutztes Grundwasser gegeben hatte. Über den Boden machte man sich damals keine Gedanken.
Die Geschichte von PFAS in Zwijndrecht ist kein Einzelfall, obwohl das Städtchen heute in ganz Belgien als Synonym für eine toxisch gewordene Umwelt gilt. Zugleich gibt es etwa 17.000 solcher verschmutzter Gebiete in ganz Europa, wie das von 18 europäischen Medien getragene investigative „Forever Pollution Project“ im vergangenen Frühjahr offenlegte. Über 2.100 dieser Gebiete gelten als „hotspots“, an denen die Konzentration „ein Niveau erreicht, das als gesundheitsgefährdend eingestuft wird“. Zwijndrecht hat zwar mit die höchsten PFAS-Werte, doch finden sich im stark industrialisierten Flandern genau wie in Teilen Großbritanniens oder Nordrhein-Westfalens noch zahlreiche weitere stark verschmutzte Orte.
Insofern ging man an der Schelde mit der Gefahr jahrelang nicht nachlässiger um als andernorts. „Zwijndrecht weiß seit Beginn der Nuller-Jahre einiges über die von „3M“ verursachte PFOS-Verschmutzung“, sagte Steven Vervaet, als er Anfang 2022 von einer Untersuchungskommission des flämischen Parlaments als Zeuge gehört wurde. Genau wie sein Bürgermeister und Parteikollege André Van de Vyver betonte er aber, die Kommune sei von föderaler oder regionaler Seite nie wegen einer Gefährdung „für die Gesundheit unserer Leute“ alarmiert worden.
Die 3M-Fabrik in Zwijndrecht, seit 1971 in Betrieb, stellt vor allem Halbfabrikate her, die an anderen Standorten weiterverarbeitet werden: Leim, synthetisches Gummi oder Kühlmittel für den Elektroniksektor. Dass sie 2002 die Produktion des besonders verrufenen PFOS aufgab, mag dazu beigetragen haben, dass der Handlungsbedarf weniger akut schien. Auch 2004, als Forscher*innen der Universität Antwerpen in einem nahen Naturgebiet die höchsten je gemessenen PFOS-Werte bei Mäusen feststellten. Weder das flämische Umweltministerium noch die entsprechende lokale Behörde schritten ein, obwohl damals beide von grünen Politikern geleitet wurden.
Vor diesem Hintergrund trat Steven Vervaet 2019 sein Amt an. Recht bald hatte er Kontakt mit „3M“, wegen womöglich verschmutzten Grundwassers. Der Konzern, den er damals für „integer“ hielt, konnte die Zweifel des Lokalpolitikers ausräumen. Davon, was im Boden steckte, war nicht die Rede, was Vervaet bis heute ungeheuerlich findet. Zwei Jahre später rief ihn ein Umweltaktivist an und riet ihm dringend, im Umfeld der Fabrik Bodenproben zu entnehmen. „Als sie zurückkamen, dachte ich: uiiii!“, erinnert sich der Beigeordnete lebhaft. Alle Werte lagen deutlich über der Norm für Bodensanierung. „Ich schrieb dann an das Ministerium und die Behörde für Giftmüllstoffe. Sie fielen aus allen Wolken.“
Der Konzern reagiert in solchen Fällen gerne mit elastischer Rhetorik. Rebecca Teeters, ihres Zeichens „Senior Vice President of Fluorochemical Stewardship“, betonte im Sommer 2021 vor besagter Untersuchungskommission, es gebe keinen wissenschaftlich bewiesenen kausalen Zusammenhang zwischen PFOS und Gesundheitsschäden. „3M“-Europadirektor Peter Vermeulen sagte kurz darauf bei einem Interview im belgischen Radio: „Nach über 20 Jahren Forschung können wir schließen, dass es bei den Konzentrationen, die wir heute und in der Vergangenheit sehen, keinen Einfluss auf die Gesundheit gibt.“ Auf eine aktuelle Anfrage, ob man weiter hinter dieser Aussage stehe, ging der Standort Zwijndrecht nicht ein.
„Die Debatte darüber, wie hoch der Schadensersatz tatsächlich ausfällt, kommt noch.“
Hingegen gab man zu, dass sich „die Art, wie wir mit PFAS umgehen, verändert“ habe. In Zukunft wolle „3M“ die „Abhängigkeit von persistenten Materialien durch Innovation vermindern“. Ende 2025 soll die Produktion von PFAS beendet und diese schrittweise aus allen Produkten des Konzerns verbannt werden. Man strebe einen „verantwortlichen“ Umgang mit Wasser an, will mit PFOA (Perfluoroctansäure) und PFOS verschmutzte Gebiete sanieren und selbstverständlich auch die Kosten dafür tragen, „zum Vorteil der Einwohner*innen von Flandern“.
Der Beigeordnete Steven Vervaet ist ein pragmatischer Politiker, der seine Worte mit Bedacht wählt. „Darauf drängen das Problem zu lösen, aber sich nicht in seiner Wut verlieren“, lautet seine Devise. Doch wenn er von einer seiner Unterredungen mit 3M-Vertreter*innen berichtet, geht auch ihm der Hut hoch. „Jemand sagte zu mir: ‚Die Gesellschaft wollte PFAS, sie hat PFAS bekommen.‘ No way! No way!“, empört er sich. Dass den Menschen hier das Kleingärtnern genommen wurde und ihnen die flämische Regionalregierung rät, keine Eier von eigenen Hühnern mehr zu essen und wenig selbstgezüchtetes Gemüse, macht ihn sichtbar betroffen.
Inzwischen hat man im Rathaus Maßnahmen ergriffen. Im erweiterten Umkreis der Fabrik wird ab 2024 der Boden saniert und die oberen 70 Zentimeter abgetragen. Im Mai begann die bislang größte PFAS-Blutuntersuchung Europas, zu der 75.000 Personen eingeladen wurden, die im Umkreis von fünf Kilometern der Fabrik wohnen. Außerdem geht die Kommune gerichtlich gegen „3M“ vor, weil der Konzern seiner Fürsorgepflicht für die Umgebung nicht nachgekommen sei. Näheres kann Steven Vervaet dazu aber noch nicht sagen. Die Kommune wartet darauf, die Akten einsehen zu können.
In Zwijndrecht können die Menschen sich nun im Gesundheitszen- trum „Z+“ in einer der Einkaufsstraßen kostenlos testen lassen, zwischen der Apotheke und einem Laden mit Hunde-Jäckchen. „Die Blutabnahme hat begonnen“, verkündet ein Plakat im Fenster. Drinnen läuft beschwingte Musik, beim Eingang liegen Gesundheitsbroschüren aus und ein Ratgeber mit dem Titel „Nie mehr krank“. Claire de Baets, die die Studie für die Laborgruppe Eurofins leitet, berichtet, bislang gebe es 10.500 Anmeldungen, 50 bis 70 neue kämen täglich hinzu. „Die Leute sind motiviert, an dieser Untersuchung teilzunehmen, damit wir mehr Informationen sammeln können.“ Ein Jahr soll das ganze dauern, erste Ergebnisse werden im Winter erwartet.
Im Frühjahr meldete sich Rob Billot mit einer Videobotschaft bei den Betroffenen in Zwijndrecht zu Wort. Billot ist der Anwalt, der die Machenschaften von „DuPont“ in den USA aufgedeckt hat und dessen Geschichte in dem Film „Dark Waters“ nacherzählt wird. „In den letzten 24 Jahren habe ich alles getan um bekannt zu machen, dass PFAS-Kontaminierung eine massive Gefährdung der Gesundheit darstellt. Ich habe beobachtet, wie sich die Geschichte in Belgien entfaltet. Das Testen hat begonnen, und die Menschen begreifen, dass es sich um ein weltweites Problem handelt.“ Billot spricht ermutigende Worte: „Gesetze können sich ändern, Regulierungen können sich ändern, das Verhalten von Unternehmen kann sich ändern. Alle, die sich nun mit diesem Thema in Belgien beschäftigen: Seien Sie zuversichtlich! Sie können dazu beitragen, dass die Wahrheit herauskommt.“
Wenn Billot in Belgien eine Entsprechung hat, dann übernimmt der Brüsseler Anwalt Geert Lenssens diese Rolle. Der 62-Jährige ist Spezialist für Betrugsfälle und Sammelklagen. Anfang 2022 nahm Kurt Verstraete Kontakt zu ihm auf. Vergangenen Mai nun reichte Lenssens für seine Mandant*innen beim Zivilgericht in Antwerpen Klage gegen „3M“ ein. Der Vorwurf: übermäßige Belästigung von Nachbarn. Ein Jahr später kam das Urteil: Das Unternehmen ist haftbar und muss der vierköpfigen Familie provisorisch 2.000 Euro Entschädigung zahlen. „Ein kleiner Vorschuss“, erläutert Lenssens. „Die Debatte darüber, wie hoch der Schadensersatz tatsächlich ausfällt, kommt noch. Im Fall gesundheitlicher Beschwerden kann der Fall zeitlich unbefristet wieder eröffnet werden.“
In seiner Kanzlei im Zentrum der belgischen Hauptstadt erklärt der Anwalt die Strategie: „Eine Sammelklage mit einem pilot case. Das Besondere ist, dass wir ein großes Unternehmen als Nachbarn verklagt haben. Das Gericht hat anerkannt, dass der Chemiekonzern und die Verstraetes Nachbar*innen sind. Was die übermäßige Belästigung betrifft, hatte die Familie durch ihre hohen PFAS-Werte eine starke Position. Als Nachbarn muss man manches tolerieren, aber nicht solche Giftstoffe im Boden und im Blut!“
„3M“ erklärt auf Anfrage dazu, das Gericht habe zwar der Klage auf Nachbarschaftsbelästigung stattgegeben, doch nicht geurteilt, „dass PFAS negative Gesundheitseffekte haben oder verursachen können“. Der Anwalt betont dagegen: „Das Gericht hat ausdrücklich eine grundsätzliche Entschädigung im Fall von Gesundheitsschäden genannt. Der Weg dahin steht jetzt offen.“
Nach der erfolgreichen Pilotphase folgt im Herbst der zweite Schritt: ein erneuter Gang vor das gleiche Zivilgericht, diesmal mit möglichst vielen Kläger*innen. Anfang des Sommers waren es 1.500, sagt Lenssens, Anfang September schon 3.000. Er erzählt auch von einem dokumentierten Krebsfall, der einen Zusammenhang mit der PFAS-Verschmutzung belegen soll. Und von einer Frau, der er im Juni begegnete, als er das Konzept bei einem „Dark Water 3M“-Treffen vorstellte. „Sie sagte, ihre Kinder, die in Zwijndrecht aufwuchsen, seien krank und hätten alle drei die gleichen Symptome, auf die sie nicht näher eingehen wollte.“
Es gibt keine Pille, keine Medizin, keinen chirurgischen Eingriff dagegen. Es bleibt einfach in deinem Körper.“
Geert Lenssens hat keinen Zweifel daran, dass die Verhältnisse im Wandel begriffen sind. „Die Zeiten, als Industrie- und vor allem Chemieunternehmen nur eine Lizenz brauchten, sich sonst um nichts zu kümmern mussten und sich die Behörden nur nach ökonomischen Interessen richteten, sind vorbei.“ Die Bevölkerung werde sich bewusst, dass alle durch Ewigkeitschemikalien krank werden können.
Sein Mandant Kurt Verstraete ist fürs erste zufrieden. „Das ist jetzt ein Beispiel, auf das sich künftige Klagen stützen können.“ Im Moment, sagt er, fühle er keine gesundheitlichen Beschwerden. Wird das so bleiben? Und was, wenn nicht? „Es gibt keine Pille, keine Medizin, keinen chirurgischen Eingriff dagegen. Es bleibt einfach in deinem Körper.“
Fraglich ist auch, was wird, wenn die Bagger für die Sanierung kommen, die obersten Bodenlagen abgetragen werden, das Gras, der Garten, die Bäume, wenn alles verschwunden ist, und nur noch Erdreich und Sperrzäune draußen vor dem Fenster zu sehen sein werden. Dann werden Tausende von Lastwagen mit kontaminiertem Boden auf der Ladefläche das Bild prägen. Kann die Familie angesichts einer solchen Perspektive überhaupt hier wohnen bleiben? Kurt Verstraete zuckt die Schultern. „Es ist, als säßen wir in einem Zug, und wüssten nicht, wo er anhalten wird.“
Tobias Müller berichtet für die woxx aus Belgien und den Niederlanden.
Ewigkeits-Chemikalien
Per- und Polyfluoralkylsubstanzen (PFAS) ist ein Sammelname für Tausende von Chemikalien. Ihr gemeinsames Merkmal sind Kohlenstoff-Fluor-Verbindungen, eine der stärksten Verbindungen der organischen Chemie. Einmal freigesetzt, verbreiten sie sich leicht weiter. PFAS sind nicht, beziehungsweise nur sehr langsam abbaubar und werden daher als „forever chemicals“ oder „Ewigkeits-Chemikalien“ bezeichnet. Zu ihnen zählen Perfluoroctansulfonsäure (PFOS) und Perfluoroctan- säure (PFOA), auch als C8 bekannt. Ihr wasser- und fettabweisender Charakter führte dazu, dass PFAS ab den späten 1940er-Jahren massenhaft produziert wurden. Sie sind vor allem wegen der Diskussion um die Schädlichkeit von Teflon-Pfannen bekannt, werden oder wurden aber auch in Backformen, Allwetter- Kleidung, Teppichen, Einwegverpackungen, Backpapier, Kosmetik, Zahnseide, Löschschaum und manchen Wärmepumpen verwendet. Spuren von PFAS sind inzwischen so gut wie überall auf der Erde zu finden und im Blut fast aller Menschen enthalten. Studien legen unter anderem einen Zusammenhang mit Nieren- und Hodenkrebs nahe, aber auch erhöhtes Cholesterol, Schäden am Immun- und Hormonsystem und Schilddrüsen-Krankheiten. Die EU hat daher nach PFOS im Jahr 2006 auch PFOA (im Jahr 2020) verboten. Die Umweltbehörden aus Deutschland, den Niederlanden, Norwegen, Schweden und Dänemark reichten Anfang des Jahres bei der Europäischen Chemikalien-Agentur (ECHA) einen Antrag auf ein allgemeines Verbot ein.