Christian Dunker arbeitet als Psychoanalytiker und Professor für Psychologie an der Universität São Paulo. Seit langem beschäftigt er sich mit den möglichen Ursachen des Rechtsextremismus. Die woxx sprach mit ihm über die Fortexistenz des Bolsonarismus in Brasilien und die globale Ausbreitung faschistischer Ideen.

„Wir brauchen eine andere politische Arena“: Der brasilianischen Psychoanalytiker denkt darüber nach, wie man globalen faschistischen Tendenzen entgegentreten kann. (Foto: privat)
woxx: Im Jahr 2022, während des Wahlkampfs des heutigen brasilianischen Präsidenten Lula und seines rechtsextremen Vorgängers Jair Bolsonaro, machten Sie eine Prognose (siehe „Affekte zwischen Furcht und Hass“ in woxx 1696): Selbst falls dieser die Wahl verliere, könne die Ideologie des Bolsonarismus überdauern. Zu welchem Urteil kommen Sie zwei Jahre nach seiner Abwahl?
Christian Dunker: Der Bolsonarismus hat tatsächlich überlebt und ist mehr und mehr unabhängig von der Figur Bolsonaros. Dieser hat zwar persönliche Macht verloren (nach einer Verurteilung wegen Amtsmissbrauchs kann Bolsonaro bis 2030 nicht mehr in öffentliche Ämter gewählt werden; Anm. d. Red.), doch die Ideologie dauert fort – etwa durch Politiker wie Pablo Marçal (ein „Influencer“, der am kommenden Sonntag bei den Bürgermeisterwahlen in São Paulo antritt; Anm. d. Red.). Die Bolsonaro-Formel ist mächtiger als Bolsonaro selbst. Das ist das Gefährliche.
Wie kommen Sie als Psychologe dazu, sich mit Faschismus zu beschäftigen?
Zunächst mal war es ein Familienthema, denn meine Eltern kamen aus Deutschland. Bei Besuchen dort sprach ich mit dem Rest der Familie darüber. Ich begann mich für die Geschichte von Europa, Krieg und Totalitarismus zu interessieren. Als ich dann mit dem Psychologiestudium begann, war Brasilien gerade in der Phase der Redemokratisierung. Das war 1985, ein Jahr nach dem Ende der Militärdiktatur. Dadurch interessierte ich mich auch für Politik, und so landete ich beim Faschismus.
Lässt sich global von einer Rückkehr des Faschismus sprechen?
Ja, das wird immer deutlicher. Meine Diagnose dazu: Wir haben vergessen, unsere Geschichte mit dem Faschismus in Verbindung zu bringen. Hier in Brasilien etwa gibt es das offizielle Narrativ der Nationsbildung als modernistisches Projekt: Entwicklung, Eroberung der Natur, das ganze Land erschließen, die neue Hauptstadt Brasilia. Der Beginn der Nation liegt demnach bei den Modernisten der 1920er-Jahre. Aber was wir vergessen: Die Hälfte der Modernisten waren Faschisten, und es gab eine sehr große faschistische Bewegung hier im Land. Doch hier sah man Faschismus lange als ein deutsches, italienisches oder russisches Phänomen.
Mangelndes Geschichtsbewusstsein als Nährboden des Neofaschismus ist aber doch nicht nur ein brasilianisches Phänomen?
Das stimmt. Hinzu kommt, dass die Linke keine Perspektiven und Träume mehr anzubieten hat, gerade in ökonomischer Hinsicht.
Bislang haben wir über politische Aspekte gesprochen. Gibt es auch eine spezifisch psychologische Analyse der Entwicklung?
Zunächst mal sind da die Konflikte, die mit sozialer Veränderung einhergehen. Hier in Brasilien gab es viel Veränderung durch die linken Regierungen nach dem Millennium, doch diese Veränderung wurde den Leuten nicht erklärt. Das ist aber unabdingbar. Ein weiterer wichtiger Punkt sind die evangelikalen Kirchen (diese standen fest an der Seite Bolsonaros und sind auch heute im rechten politischen Spektrum angesiedelt; Anm. d. Red.). Für sie ist „Zukunft“ ein sehr begrenzter Begriff, denn die Apokalypse steht ihrer Meinung nach kurz bevor, und nur ausgewählte Personen werden überleben. Manche sagen sogar konkret: nur 144.000 Menschen.
Und diese vorapokalyptische Situation bewirkt, dass Menschen sich dem Faschismus zuwenden?
Ja. Diese Apokalypse-Vorstellung hat ja durchaus auch ein wissenschaftliches Fundament: Wir müssen tatsächlich etwas tun, sonst zerstört uns die Klima-Katastrophe. In einer solchen Situation ist da eine starke religiöse Instanz, in den Familien und den sozialen Bindungen, die sagt: die Zukunft ist sehr kurz. Auch dadurch ist die „Generation Z“ konservativer als andere und anfälliger für Faschismus. Dieser verändert damit sein Gesicht: Es sind nicht mehr nur alte Militärs mit viel Geld, sondern Heranwachsende, wie zum Beispiel „incels“ (die sogenannten „involuntary celibates“, die sich durch ihre Misogynie auszeichnen; Anm. d. Red.), die populäre „red pill“-Kultur (eine ebenfalls misogyne rechte Cyberkultur; Anm. d. Red.).
„Wir müssen den verschiedenen Faschismen eine transnationale Opposition gegenüberstellen.“
Hat der Faschismus den Konservatismus abgelöst?
Faschismus kann nicht aus sich selbst heraus groß werden. Er braucht Konservative. Konservatismus und Faschismus produzieren eine Art internes System. Ein Faschist ist eine konservative Person, die sich radikalisiert hat. Dazu kommt, dass wir eine ganze Reihe von Krisen erleben. Sie sind unabhängig voneinander, aber sie kollidieren, etwa ökonomisch oder demografisch. Was mich besonders interessiert, ist die Krise der mentalen Gesundheit. Man sagt den Leuten: „Nimm ein paar Pillen und mach weiter“, oder „Mach irgendein mentales Training, und du wirst geheilt von deiner Depression oder Angst!“ Aber das ist nicht genug.
Wie kommt es zur Akzeptanz faschistischer Konzepte und Ideen?
Faschismus kann eine sehr populäre Bewegung sein, die ältere Leute mit jungen Leuten verbindet und Menschen aus der Mittel- und Oberschicht mit solchen aus der Arbeiterklasse. Das schafft eine sehr mächtige Allianz. Wir sehen, dass Macht personalisiert wird, und so entstehen auch personalisierte Konflikte, wie nun in der Auseinandersetzung zwischen Elon Musk und Richter Alexandre de Moraes (de Moraes ist ein brasilianischer Richter, der gegen Desinformation in den sozialen Medien vorgeht, und in diesem Zusammenhang auch gegen Musks Plattform „X“; Anm. d. Red.): Am Ende haben wir eine Politik, in der die Kontrahenten wie Gladiatoren in einem Kampf von Gut gegen Böse antreten.
Sie spielen auf die jüngste Sperrung von Musks Plattform X an, die wegen Desinformation und Verbreitung extremistischer Inhalte in Brasilien seit Wochen nicht erreichbar ist. Danach demonstrierten Bolsonaro und Tausende Anhänger für Meinungsfreiheit.
Der Bruch geht quer durch die Gesellschaft und reicht bis in die Familien hinein. Die beiden Gruppen haben den öffentlichen Raum untereinander praktisch aufgeteilt. Es gibt Orte, an die man nicht geht, eine Art natürlicher Segregation. Man sieht die Spaltung in Wirtschaft, Kultur und Musik.
Dem Überleben des Bolsonarismus folgt im November womöglich die Rückkehr von Donald Trump als US-Präsident. Waren liberal Gesinnte zu naiv, als sie nach den vergangenen Wahlen in den USA und Brasilien aufgeatmet haben?
Ja. Denn wir haben das politische Zentrum verloren, es gibt kein Zentrum mehr. Es hat Macht und Repräsentation verloren. Wie machen wir nun weiter? Auf der Linken gibt es die Idee eines möglichst harten Gegendrucks, des Kampfs und der Radikalisierung linker Ideen. Ich verstehe das, denke aber nicht, dass es so funktionieren wird, denn die Radikalisierung ist besetzt durch die bereits angesprochenen radikalisierten Leute.
Welche Perspektiven gibt es dann noch?
Wir brauchen eine andere politische Arena. Einen anderen Raum, einen transnationalen. Wir müssen den verschiedenen Faschismen eine transnationale Opposition gegenüberstellen und etwa jemanden wie Maduro (der regierende venezolanische Staatspräsident Nicolás Maduro; Anm. d. Red.) bekämpfen. Der ist auch ein Faschist, wenn auch keiner der alten Schule, weshalb die Linke es nicht sehen konnte. Aber es geht darum, wie man mit der Opposition umgeht und Konflikte behandelt. Ohne transnationale Positionen werden wir diesen Kampf verlieren. Der Faschismus ist auch transnational, er denkt global und handelt lokal.
Brasilien wurde oft mit den USA vergleichen. Nicht nur, weil Trump und Bolsonaro sich gegenseitig schätzen, sondern auch wegen gewisser Parallelen bis hin zu gescheiterten Putschversuchen nach den verlorenen Wahlen (siehe „Bolsonaros klägliches Spiel“ in woxx 1719). Trifft der Vergleich zu?
Trump steht für eine Art von Pathologie, die in der republikanischen Partei aufkommt. In Brasilien haben wir den Faschismus Bolsonaros als Entwicklung konservativer Kräfte, die nicht vereint waren, sondern durch den Faschismus zusammenkamen. In den USA bedeutet „Make America great again“ durchaus, das Land gegen andere zu vereinen. In Brasilien gibt es das nicht. Hier diskutieren wir nur über Brasilien und ignorieren den Rest der Welt.
Wie sieht das aus psychologischer Perspektive aus?
Während der Diskurs in den USA von Furcht dominiert wird, dreht er sich in Brasilien eher um Hass. Furcht operiert in einem größeren Zeitrahmen: Sie können ein ganzes Leben in Furcht führen, aber nicht ständig in Hass überleben. Biden hat sich recht gut geschlagen, wenn man etwa die grundlegenden Statistiken sieht und die niedrigen Arbeitslosenzahlen. Aber die Furcht bleibt, die konnte er nicht überwinden.
„Die Geschichte des Faschismus zeigt, dass der zweite Versuch an die Macht zu kommen am Schlimmsten ist.“
Was erwarten Sie von einem möglichen Wahlsieg Trumps?
Wir wissen aus der Geschichte des Faschismus, dass der zweite Versuch an die Macht zu kommen am Schlimmsten ist. Beim ersten Mal werden die Dinge vorbereitet, etwa ein Coup, man bildet Allianzen, macht Versprechungen, zerstört die Opposition. Eine solche Regierung muss noch nicht faschistisch klingen, sondern vielleicht noch nach Befreiung. Das Problem ist die zweite oder dritte Regierung. Auch das erleben wir gerade bei Maduro.
Wie blicken Sie auf die Situation in Europa?
Das ist je nach Land unterschiedlich – je nachdem, wie schnell die Expansion des Faschismus verläuft. Geschieht das langsam, können wir ihn stoppen, bevor er in einem jeweiligen Land ein komplettes Chaos anrichtet. Zeit ist dabei also der entscheidende Faktor. In Frankreich verläuft dieser Prozess langsam, hier in Brasilien geschah es sehr schnell, mit einem plötzlichen Umschwung. Das ist am Schlimmsten. Auch in den Niederlanden verläuft die Entwicklung rapide. Die Effekte davon werden wir in den nächsten Jahren sehen.
Wieso bleibt der Faschismus aller historischen Erfahrungen zum Trotz so attraktiv?
Weil der Geschmack eine solche Verlockung ist. Faschismus ist wie Zucker für Kinder. Man will probieren, denkt, dass es in diesem Fall nicht so furchtbar wird. Das Prinzip, wie er funktioniert, ist schnell zu verstehen und leicht zu reproduzieren, es ist wie eine Welle. Also denkt man: „Gib mir noch mehr Süßigkeiten!“ Der Kunstkritiker Clement Greenberg sagte einst, wenn man Menschen Freizeit gibt, aber keine Kultur, produziere das Faschismus.
Haben wir die Demokratie also wirklich so satt?
Es gibt viele Bücher, die das behaupten. Aber ich glaube, es ist teilweise so, dass wir das gewöhnliche Leben satt haben. Und Demokratie geht mit gewöhnlichem Leben einher. Wir wollen intensivere, bedeutungsvollere Leben, mehr Bedeutung, und wir wollen sie jetzt. Das steht gegen die alte Vorstellung, dass es okay ist, gewöhnlich zu sein, einfach zu überleben, einen guten oder mediokren Job und eine Familie zu haben. Nein, wir wollen eine neue Art von Leben, in dem man ein Held sein muss, oder eine Art von Superman. Demokratien können dem nicht widerstehen: Sie sind langwierig und institutionalisiert. Und auf der anderen Seite gibt es dann diese Versprechung: „Zucker! Und ihr könnt immer mehr davon haben.“
Hätten Sie diese Entwicklung damals für möglich gehalten, als Sie sich mit dem Thema zu beschäftigen begannen?
Nein, niemals. Niemand konnte sich das damals vorstellen.
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