Die neuen Fußballbücher „Matchplan“ von Christoph Biermann und „Die Zeit der Strategen“ von Tobias Escher zeigen die rasante Fortentwicklung der weltweit populärsten Mannschaftssportart im digitalen Zeitalter. Weitere Neuerscheinungen erzählen von den Schattenseiten des Fußballs und haben manche Anekdote parat.
Er probiere Geschichten an wie Kleider, sagt der Erzähler in Max Frischs Roman „Mein Name sei Gantenbein“. Dass man auch den Fußball als eine gigantische Geschichtenfabrik betrachten kann, schreibt Christoph Biermann in „Matchplan“, der sich dabei auf den Schweizer Schriftsteller beruft.
Jede Saison sei wie eine Staffel einer großen Serie namens „Bundesliga“ oder „Premier League“. Sie entwickle ihren eigenen Plot, mit verrückten Wendepunkten und Schicksalen von Mannschaften und Spielern, so Biermann. In der Tat ist die Geschichte des Fußballs voller Anekdoten. Ob das bereits verfilmte „Wunder von Bern“ 1954, als Deutschland gegen den haushohen Favoriten Ungarn das WM-Finale gewann, das umstrittene „Wembley-Tor“ der englischen Mannschaft im Endspiel gegen Deutschland bei der WM 1966 oder Diego Armando Maradonas „Hand Gottes“, mit der er Argentinien 1986 mit zum Sieg im WM-Viertelfinale gegen England verhalf.
Der deutsche Sportjournalist Christian Eichler hat all diese Geschichten in seinem vergangenes Jahr erschienen Buch „90 oder die ganze Geschichte des Fußballs in neunzig Spielen“ vorgestellt. Eichler erzählt bekannte und weniger bekannte Anekdoten, wie zum Beispiel jene von der Selbsteinwechslung des deutschen Bundesliga-Spielers Günter Netzer im DFB-Pokalendspiel 1973, obwohl die Autorität hierzu dem Trainer vorbehalten ist. Er berichtet auch von der Verflechtung von Fußball und Politik, anhand von Beispielen wie dem „Fußballkrieg“ zwischen Honduras und El Salvador, wo ein Fußballspiel 1969 zunächst zu blutigen Ausschreitungen und schließlich zu einem viertägigen Waffengang zwischen den beiden Ländern führte, sowie dem skandalumwobenen 6:0 der Argentinier gegen Peru bei der Weltmeisterschaft 1978 während der argentinischen Militärdiktatur.
Fußball und Intellektuelle
Die „ganze“ Geschichte des Fußballs ist damit sicherlich nicht erzählt. Einerseits besteht diese aus Mythen, andererseits dient der Sport als Metapher für Politik, Gesellschaft und allgemein für das Leben. Längst haben Intellektuelle den Fußball entdeckt, wie zum Beispiel der belgische Schriftsteller Jean-Philippe Toussaint mit seinem Buch „Fußball“ (2015) oder der Philosoph Gunter Gebauer mit seiner „Poetik des Fußballs“ (2006). Vor zehn Jahren hat der uruguayische Schriftsteller Eduardo Galeano („Die offenen Adern Lateinamerikas“) ein prägendes Werk über die anarchische, poetische Kraft des Sports um das runde Leder verfasst: „Der Ball ist rund und Tore lauern überall“. Diese Geschichten lesen sich wie Märchen, und sie handeln von Zauberern und deren Tricks. Wie jener des Chilenen Ramón Unzaga: „Mit dem ganzen Körper in der Luft, den Rücken zum Boden, schossen die Beine mit einem plötzlichen Überschlag den Ball nach hinten.“ „La Chilena“, der Fallrückzieher, war geboren.
Nichts für Fußball-Romantiker ist das kürzlich aktualisierte Buch „Football Leaks. Die schmutzigen Geschäfte im Profifußball“ von Rafael Buschmann und Michael Wulzinger. Die beiden Autoren und „Spiegel“-Journalisten haben dafür Informationen ausgewertet, die Whistleblower der Enthüllungsplattform „Football Leaks“ geliefert hatten. Beim Blick hinter die schillernde Oberfläche des Milliardengeschäfts geht jegliche Illusion verloren.
Christoph Biermann hingegen ist der Faszination des Sports sowie dem Zusammenhang von Fußball und Leben mit Büchern wie „Wenn du am Spieltag beerdigt wirst, kann ich leider nicht kommen“ (1995) und „Wenn wir vom Fußball träumen“ (2014) auf den Grund gegangen. In seinem neusten, „Matchplan“, geht es weder um Fußballmythen noch um Philosophie, sondern vielmehr darum, wie Technik und Digitalisierung den Sport geprägt haben. Denn der Fußball hat sich stark verändert.
Während früher Weisheiten wie „Der Ball ist rund“, „Ein Spiel hat 90 Minuten“ und „Das Runde muss ins Eckige“ des einstigen deutschen Bundestrainers Sepp Herberger ausreichten, um den Ballsport zu beschreiben, ist heute von Fluidität, individueller Belastungssteuerung und digitalen Scouting-Lösungen die Rede. Die Wahrheit liegt nicht mehr einfach nur auf dem Platz, wie der deutsche Trainer Otto Rehhagel, 2004 mit Griechenland Europameister, einst erklärte. Zwar sind die Grundprinzipien dieselben geblieben: ein Ball, zwei Tore und ein Spielfeld. Aber der Fußball ist komplexer geworden – und wissenschaftlicher, wie der Sportjournalist Fritz von Thurn und Taxis kürzlich in der Süddeutschen Zeitung bedauerte.
Fußball und Wissenschaft
Wer ein Fußballspiel von heute mit einer Partie aus den 1960er-Jahren vergleicht, erkennt schnell den Unterschied: Früher brauchten die Mannschaften eine halbe Minute, um den Ball von einem Tor vor das andere zu bringen. Heute dauert dies oftmals weniger als zehn Sekunden. Wenn früher die eine Mannschaft den Ball verlor, zog sie sich meist weit in die eigene Spielhälfte zurück und wartete auf den Angriff der anderen. Heute greift sie nach dem Ballverlust möglichst sofort wieder an. Noch vor 20 Jahren legte ein Spieler vielleicht sieben oder acht Kilometer pro 90 Minuten zurück, heute laufen manche fast doppelt so viel in derselben Zeit.
Der Fußball ist schneller und die Spieler sind athletischer geworden. Außerdem spielen seit einigen Jahren Daten eine immer größere Rolle. Christoph Biermann hat dies bereits vor acht Jahren in seinem Buch „Die Fußball-Matrix“ festgestellt: „Fußball ist ein Spiel der Zahlen geworden.“ Der Fußball wird vermessen. Der 57-jährige Sportjournalist, früher bei der „Süddeutschen Zeitung“ und beim „Spiegel“, heute Mitglied der Chefredaktion des Fußball-Monatsmagazins „11 Freunde“, beschreibt in „Matchplan“ die Veränderung des Sports als eine Metapher für das digitale Leben. Die Vermessung des Fußballs und seiner Akteure erfasst nicht mehr nur Ballbesitz und Laufdistanz, Torschüsse und Passquoten. Dies reicht nicht mehr aus.
„Die Zukunft im Fußball wird nicht einfach denen gehören, die über die Daten verfügen“, schreibt Biermann, „sondern jenen, die aus Informationen die besten Schlüsse ziehen.“ Biermann hat diese Trainer und Manager, Scouts und Wissenschaftler aufgesucht. Er fuhr nach Dänemark zum FC Midtjylland, dem seinen Worten zufolge „modernsten Club der Welt“, weil dieser bei seiner Kaderplanung besonders systematisch vorgeht, aber auch nach England, ins Land der Wettprofis, zu Matthew Benham im Norden Londons, der eine Art Wettfabrik aufgebaut hat, Spielergebnisse besser tippt als die alteingesessenen Buchmacher und seinen Lieblingsverein kaufte – und er beschreibt die Underdog-Strategie von Trainer Tony Pulis, der seine Außenseiterteams auf Standardsituationen einschwört. Bis hoch in den Norden auf die Insel Vestmannaeyjar zog es Biermann gar, wo der Zahnarzt und isländische Nationaltrainer Heimir Hallgrímsson zu Hause ist.
Fußball und Schicksal
Was aber, wenn selbst der noch vor einigen Jahren so oft gepriesene Ballbesitzfußball nicht mehr als Schlüssel zum Erfolg ausreicht? Wäre es nach den herkömmlichen Parametern und Analysewerten gegangen, hätte Deutschland 2014 im WM-Halbfinale nicht 7:1 gewonnen, sondern Brasilien wäre als Sieger vom Platz gegangen. Biermann weiß auch, dass viel aussagekräftiger als der Ballbesitz die sogenannten „Expected Goals“ sind. „Wenn man nun alle Schüsse nimmt, die eine Mannschaft im Laufe eines Spiels abgibt, und schaut, mit welcher Wahrscheinlichkeit sie ins Tor gegangen wären, erhält man einen Gesamtwert. Er wird Expected Goal genannt“, schreibt Biermann. Dafür werden Computeralgorithmen entwickelt, um zu erfahren, von wo auf dem Spielfeld man in welcher Situation mit welcher Wahrscheinlichkeit ein Tor trifft.
Gleich im zweiten Kapitel unter dem Titel „Die Macht des Zufalls“ geht es um diese „Expected Goals“. Die Deutsche Fußball Liga (DFL) ließ 50 Spiele der Bundesligasaison 2014/15 analysieren. Entscheidend waren drei Indikatoren: Raumkontrolle, Pressingindex und Passeffektivitätsparameter. Letzterer beschreibt, wie effizient Gegenspieler durch einen Pass in Vorwärtsrichtung ausgeschaltet werden. Der Pressingindex gibt an, wie schnell eine Mannschaft nach Ballverlust den Gegner attackiert. Laut dem Projekt, das von der Deutschen Sporthochschule Köln durchgeführt wurde, war jedoch vor allem die Raumkontrolle der Schlüssel zum Erfolg, also die Herrschaft einer Mannschaft über die für einen jeweiligen Spieler erreichbaren Räume auf dem Fußballfeld. Mit verschiedenen Tools lassen sich die Positionsdaten der Spieler verarbeiten. Dabei werden neuronale Netze verwendet, dem menschlichen Gehirn nachempfundene Algorithmen. Ein digitales Neuron reagiert auf eine bestimmte Spielsituation. So lassen sich die einzelnen Situationen analysieren und miteinander vergleichen – und herausfinden, von wo auf dem Spielfeld in welcher Situation mit welcher Wahrscheinlichkeit ein Tor erzielt werden kann.
Doch daraus ein Spielergebnis vorauszuberechnen, würde heißen, einen wichtigen Faktor zu unterschlagen: „Im Fußball gehen Spiele nicht selten seltsame Wege, wenn etwa eine hochfavorisierte Mannschaft gegen einen Außenseiter trotz Dauerbelagerung des Tores nicht trifft und der Underdog mit einem seiner wenigen Vorstöße den entscheidenden Treffer macht“, weiß Biermann. „Das sind Momente, die vom Schicksal erzählen und eine fast poetische Qualität haben.“ So zeigt sich, dass Borussia Dortmund in der letzten Saison unter Trainer Jürgen Klopp aus den aussichtsreichsten Positionen geschossen, aber kaum getroffen hat. Wie ein Spielanalyst ermittelte, hätte das Team damals in der Hinrunde 25 Tore erzielen sollen, schaffte aber nur 17. Dass Leistung und Erfolg weniger eng zusammenhängen als in anderen Mannschaftssportarten wie Basketball oder Handball, erklärt Biermann damit.
Noch aussagekräftiger als die „Expected Goals“ ist die „Packing-Rate“, die Zahl der überspielten Gegner, entwickelt vom ehemaligen Bundesliga-Profi Stefan Reinartz. Wie gut solche Daten letztendlich sind und wieviel sie taugen, hängt aber von dem ab, der sie analysiert. „Informationen sind nicht alles, sondern was man mit ihnen macht“, schreibt Biermann. Nicht selten werden die Trainer der jüngeren Generation despektierlich als „Laptop-Trainer“ bezeichnet. Coaches wie Thomas Tuchel greifen auf eine Vielzahl von Daten zurück, um das Spiel ihrer Mannschaft zu verbessern.
Von Tuchel, dem künftigen Trainer von Paris Saint-Germain, stammt auch der Begriff „Matchplan“. Für Tuchel und Co. ist die Spielanalyse und Vorbereitung ohne die Daten nicht mehr denkbar. Einen Coach werden sie aber nie ersetzen. Aber sie machen heute oftmals den spielentscheidenden Unterschied aus. Was für eine Bedeutung die Trainer, die auf „Big Data“ zurückgreifen für den Fußball von heute haben, zeigt Tobias Escher in seinem neuen Buch. Der Journalist und Mitbegründer des Taktikblogs „spielverlagerung.de“ hat vor zwei Jahren in „Vom Libero zur Doppelsechs“ die Taktikgeschichte des deutschen Fußballs erzählt.
Fußball und Taktik
Ein Standardwerk der Taktikgeschichte hat bereits der Brite Jonathan Wilson vor zehn Jahren mit „Inverting the Pyramid“ geschrieben, auf Deutsch „Revolutionen auf dem Rasen“. Es ist ein Standardwerk, geprägt von dem ewigen Gegensatz zwischen Kunst und Ergebnis. Vom schönen Fußball, dem „Jogo Bonito“, wie es in Brasilien heißt, und dem „Totaalvoetbal“ der Niederländer einerseits und dem reinen Ergebnisfußball andererseits.
Letzteren vertritt zum Beispiel José Mourinho, heute Coach von Manchester United. Er gehört zu den ersten „Laptop-Trainern“ jener Generation, die als akribische Datensammler und Analytiker Erfolg hatten. Weitere Beispiele, deren Aufstieg Escher schildert, sind Pep Guardiola, Jürgen Klopp, Joachim Löw, Thomas Tuchel, Julian Nagelsmann und Zinedine Zidane, aber auch jenen von einem der fanatischsten Analyse-Freaks, dem Argentinier Marcelo Bielsa. Letzterer sagte einmal: „Wer schönen Fußball für das Ergebnis opfert, den sollte man meiner Meinung nach foltern. Die Ärmsten unter uns haben nur Fußball zur Entspannung. Ich würde es schrecklich finden, wenn man ihnen nur Ergebnisse böte.“
„Cattenaccio“ und „Schweizer Riegel“ prägen Eschers „Vom Libero zur Doppelsechs“, der Fußball der Zukunft ist das Thema seines neuen Buches. Darin kommt „Tiki-Taka“, der spanische Kombinations- und Ballbesitzfußball, vorweggenommen von der argentinischen Nationalmannschaft bei der Weltmeisterschaft 2006 und weiterentwickelt unter anderem von Joachim Löw bei der deutschen Mannschaft, ebenso vor wie Pressing und Gegenpressing.
Zu gewinnen oder die Suche nach dem perfekten Fußball, das haben sich die porträtierten Trainer zur Aufgabe gemacht. „Ein Trainer ist kein Idiot“, sagte Giovanni Trapattoni, damals Trainer des FC Bayern München, in seiner berühmten Wutrede vor zwanzig Jahren, und er fügte hinzu: „Ein Trainer sehen was passieren in Platz.“ Die Wahrheit liegt auf dem Platz, um Otto Rehhagel zu wiederholen. Biermann und Escher zeigen dies auch in ihren Büchern. Beide führen uns unterhaltsam durch die Welt des Fußballs und der Fußballstrategen – aber beide haben nicht vergessen, um was es letztendlich geht: „Das Runde muss ins Eckige.“
Ob „Expected Goals“, „Expected Assists“ oder „Packing-Rate“ und viele andere Daten über den Fußball – „man kann aus guten Gründen problematisch finden, wie gläsern Spieler geworden sind“, schreibt Biermann. „Ein noch größeres Problem ist der technologische Graben, der Fußball heute durchzieht und der in den kommenden Jahren noch größer werden wird.“ Durch die Digitalisierung wachse die Gefahr, dass die wirtschaftlichen Unterschiede zwischen den reichen Clubs und den kleinen Vereinen zunehmen. Die einen können sich wissenschaftliche Experten leisten, die anderen kaum einen Jugendtrainer. Als positives Ausnahmebeispiel nennt Biermann den SC Freiburg, der immer wieder den Mut hatte, mit Trainern wie Volker Finke und Christian Streich „Außenseiter und Regelbrecher“ zu engagieren, die sich stets einen Vorteil erarbeiten mussten, um den finanziellen Nachteil gegenüber der reicheren Konkurrenz aufzuholen. Und Biermann zitiert den „Packing“-Experten Reinartz, der vom deutschen Teamkapitän Ton Kroos schwärmt: „Einen Pass von ihm kann man hören.“