Gedichtband „Wo wir bleiben“: Weiße Wildkirschen und graue Großstadt

Mit „Wo wir bleiben“ legt die Autorin Lydia Daher einen überaus atmosphärischen und poetisch dichten Lyrikband vor, der auf jeden Lesestapel gehört.

Die Autorin Lydia Daher ist in gleich mehreren Kunstformen zu Hause. Vornehmlich widmet sie sich der Literatur und der Musik, mitunter tut sie das an der Grenze zur Performance und bildenden Kunst. (Foto: Gerald von Foris)

Wundersam zeitenthoben scheinen die ersten Texte von Lydia Dahers Gedichtband „Wo wir bleiben“. Mit den Worten „[l]ass uns nicht von vorn anfangen, sondern hier. / In diesem Stelzenhaus in Brandenburg, wo wir glauben können / ans Weiß der Wildkirschen […]“, wird das Werk eröffnet; von einer genauen zeitlichen Fixierung des poetischen Geschehens und einer kausal-temporalen Rückverfolgung bis zu seinem Ursprung wird also zugunsten einer genauen räumlichen Situierung abgesehen. Womöglich, weil dieser erste, den vornehmlich wehmutsvollen Grundton der Gedichtsammlung festlegende Text vor allem als Gefühlsspeicher fungiert; als Container von Erinnerungen und Gestimmtheiten, die sich – da sie sich ins Gedächtnis des lyrischen Ichs einstanzten – der Linearität der Zeit entziehen und in ihrer ganzen Lebendigkeit bildlich konservieren.

Damit harmoniert auch der Gebrauch des Indikativ Präsens; Vergangenheit und Zukunft weichen vor der sich uneingeschränkt ausdehnenden Gegenwart zurück. Beschrieben wird der Frühling als eine Jahreszeit, die scheinbar ewig währt: „[U]nd immer riechts nach feuchtem Gras und jeden Tag / zur gleichen Zeit gleitet das lange Tuuuut des Zugs / am Supermarkt vorbei.“ Das lyrische Ich besingt zärtlich die ländliche Peripherie um Berlin, eine Landschaft, in deren schlichter Anmut ein gewisser Zauber liegt. Mit dem genannten „Atem der Gegend“ erweist sich die Natur als beseelt, und beseligt legt sich das Kind abends schlafen: „das Kind liegt vor Glück matt im Bett.“ Dass die Kindheit als unbeschwerte Lebensphase hier anzitiert wird, verstärkt die berührend-nostalgische Wirkung dieses den Auftakt gebenden und damit prominent platzierten Textes.

Das emotionale Fundament der folgenden Gedichte bilden Melancholie und Weltschmerz. Unter anderem besinnt sich das – bemerkenswert scharfäugige – lyrische Ich der Zufälligkeit alles Bestehenden. Nichts ist „zwingend“ unter den Gestirnen, „nicht die Entfernung der Knospe der Kirsche zum Mond, / nicht die Entfremdung der Worte im Mund“. Immer wieder kommt das lyrische Subjekt auch auf familiäre Bindungen zu sprechen, besonders die Mutter-Kind-Beziehung wird mittels kleiner, friedvoll-intimer Szenen thematisiert: „Warte, Mama, gleich / wird was schön. // Hebst den Arm. Hältst mir eine Möhre ans Ohr. / Hörst du die Erde, / hörst du ihr Summen?“ Anstelle von vollständigen, wuchtigen Tableaus werden hier Skizzen geliefert, die mit sparsam gesetzten Konturen immer Raum lassen für die Imagination und die eigenen Erfahrungen des*der Lesenden.

Spannender Szenenwechsel

(© Voland & Quist)

Mit dem zweiten Teil des Lyrikbands ändert sich auch das geografische Setting der Texte, wir befinden uns nun nicht mehr auf dem Land, sondern in der Stadt. Doch auch hier ist die Natur mit ihrer – in Benn’scher Manier mitunter als morbid charakterisierten – Schönheit präsent: „Ich hoffte mich vielmehr im Grünen. / Nicht hier, / wo unaussprechlich es nun blüht / aus einer Ratte.“ Im städtischen Dschungel liegen Hässlichkeit und Liebreiz so eng beieinander wie nirgendwo sonst, Schwäne nisten im Müll, unter den Fußsohlen rostet der Ahorn und die Sonne kommt über den Neubauten „angewankt“. Ebenso gemütvoll wie die Beschreibungen der ruralen Idylle, welche die erste Textpartie bestimmten, gestaltet sich Dahers pulsierende Großstadtlyrik, wobei die Roughness der Metropole in den Vordergrund gerückt wird. Von „Junkies mit Dealern“ ist die Rede, von „Pisse, Gewühl“ und dem paradierenden Elend, das die Szenerie bestimmt.

Die Ernüchterung des lyrischen Ichs, das während der Streifzüge durch das urbane Straßengewirr immer mehr Raum für sich beansprucht, wird im dritten und letzten Teil von „Wo wir bleiben“ anfangs noch einmal akzentuiert. Dennoch findet auch an dieser Stelle, wo sogar von einer „Untergangsshow“ gesprochen wird, die Hoffnung ihren Platz, gekoppelt an ein Bild, das wiederum die Natur mit ihrer lebensrettenden und -spendenden Kraft aufruft: „Manchmal denke ich, / der Vogel wird kommen, / uns aufpicken und in sein / funkelndes Nest verbauen.“ Bis zuletzt schwankt Dahers Dichtung zwischen polaren Bilder- und Gemütswelten; die scharfkantigen Kulissen der Stadt kontrastieren mit dem lichtdurchfluteten Dekor der Provinz. Damit zusammenhängend heben sich die vom Sprecher*innen-Ich empfundene Desillusion und Angst vor dem Selbstverlust von der zarten Wehmütigkeit und Seelenruhe ab, welche als Grundstimmungen den ersten Abschnitt des Bandes prägten und stets im Kontakt mit dem Naturreich, dem farbenfrohen Zentrum dieses literarischen Kosmos, zur Entfaltung gebracht wurden. „Wo wir bleiben“ versammelt bezaubernde Texte, die man unbedingt – und am besten draußen, auf einer Parkbank oder Picknickdecke – lesen sollte.

Lydia Daher: „Wo wir bleiben“, Gedichte, Edition Azur im Verlag Voland & Quist, Berlin und Dresden 2024, 93 Seiten, 20 Euro

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