Sylvester bei der Familie Lamalle: Die Eheleute Céline und Robert erwarten Besuch; eingeladen sind zwei Unbekannte aus einer Asylunterkunft. Im Vordergrund von Guy Rewenigs Erzählung „La coupe est pleine“, im November auf französisch bei Éditions Guy Binsfeld erschienen, steht aber nicht das Festmahl, sondern das Warten auf die Gäst*innen – und jenes beginnt am Frühstückstisch des gutbürgerlichen Paars. Céline und Robert liefern sich ab 8:30 Uhr einen Schlagabtausch in Dialogform. Das Setting erinnert an Samuel Becketts „Warten auf Godot“: Das Warten und die Ungewissheit sind ähnlich aufreibend und stürzen die Charaktere in Gedankenstrudel, die von privaten Streitigkeiten bis zu politischen Überlegungen reichen. Immer wieder entlarvt Rewenig, wie heuchlerisch bis diskriminierend das Paar, das sich selbst zweifelsfrei als hilfsbereit begreift, doch eigentlich ist. Das Tempo der Erzählung ist flott, sodass sie sich mühelos lesen lässt. Seite für Seite zieht der Autor die Leser*innen tiefer in die Wohnung der Lamalles, die schon bald furchtbar einengend wirkt. Komische Episoden lockern die Atmosphäre jedoch auf. Ein satirisches, bissiges Buch, das viel über die verzerrte Wahrnehmung von Gesellschaft und persönlichen Beziehungen aussagt. Damit den Leser*innen an diesem Sylvester kein ähnliches Schicksal blüht, wie den Lamalles, lohnt sich die Lektüre vor Jahresende doppelt!
Guy Rewenig: La coupe est pleine, Éditions Guy Binsfeld (ISBN 978-99959-42-97-7). 256 Seiten.