Soziale Netzwerke formen längst unsere Identität, Inszenierung und Interaktion. In seinem Vortrag „Das digitale Selbst im Surveillance Capitalism“ zeigte Georg Mein, wie Algorithmen unser Verhalten lenken – oft unbemerkt und wirtschaftlichen Interessen folgend. Ein Gespräch über Selbstwahrnehmung, Gruppendynamiken und die unsichtbaren Mechanismen hinter unseren Bildschirmen.
woxx: Wir sind es mittlerweile gewohnt, auf sozialen Netzwerken wie Facebook, Instagram und Tiktok über unser Leben zu posten und auch am Leben anderer teilzuhaben. Inwieweit beeinflusst das, wie wir uns selbst und die Welt wahrnehmen?

Prof. Dr. Georg Mein ist Direktor des University of Luxembourg Institute for Digital Ethics (ULIDE) und Professor für Neuere deutsche Literatur und Kulturtheorie an der Universität Luxemburg. ULIDE, gegründet im Januar 2025. Er erforscht die ethischen und gesellschaftlichen Herausforderungen der Digitalisierung, insbesondere künstliche Intelligenz, Big Data und digitale Demokratie. (FOTO: woxx)
Georg Mein: Wir interagieren ständig mit sozialen Netzwerken und dabei lässt sich – zum ersten Mal in dieser Form – eine starke Dominanz der Bildebene beobachten. Brächte man einen Zeitreisenden aus dem Jahr 1980 ins Jahr 2025, würde er überall Menschen sehen, die mit gebeugtem Rücken stundenlang in einen kleinen metallenen Gegenstand schauen. Das ist eine völlig andere Realität als noch vor 2006. Das erste Smartphone wurde 2007 von Apple präsentiert und es brauchte noch etwas Zeit, bis die Technologie die Übertragungsgeschwindigkeit für Fotos und Videostreams ermöglichte, die wir mit Instagram und Co. heute gewohnt sind. Das hat massive Auswirkungen auf unsere Selbstwahrnehmung und unser Kommunikationsverhalten. Viele Studien zeigen deutlich, dass unsere Aufmerksamkeitsspanne durch die Nutzung sozialer Medien abnimmt. Selbst wenn das Smartphone stumm geschaltet ist, kontrollieren wir regelmäßig, ob etwas passiert ist. Jede neue Nachricht, jedes Update bewirkt eine Dopaminausschüttung – ein kleiner Kick, der uns immer wieder zurückholt. Das Smartphone ist perfekt darauf ausgelegt, unser Bedürfnis nach Neuigkeiten zu bedienen. Ich nenne das „Erlebnisvermehrung“ – die endlose Abfolge immer neuer, immer kürzerer Reize. Soziale Netzwerke haben eine Umgebung geschaffen, die das wunderbar unterstützt, und zwar durch visuelle Reize in schneller Taktung.
Smartphones beeinflussen also unser Verhalten und damit auch unsere Realität. Wie funktioniert diese digitale Welt?
Die Kombination von visuellen Reizen und Schnelligkeit, die ständige Erlebnisvermehrung, ist besonders für junge Menschen extrem attraktiv. Das merke ich auch bei meinen eigenen Kindern, obwohl sie in unserer Familie viele andere Angebote haben. Die ständige Dopaminausschüttung, der Kick, zieht uns immer wieder zum Smartphone. Ein weiterer Punkt ist, dass soziale Netzwerke auch zwischenmenschliche Erwartungshaltungen erzeugen. Genauso wie wir uns im realen Leben mit „Guten Tag“, „Auf Wiedersehen“ verabschieden oder Höflichkeitsformeln wie „Danke“ und „Bitte“ verwenden, gibt es auch in sozialen Netzwerken ganz bestimmte Formen der Interaktion. Es gibt – gerade bei Jugendlichen – Erwartungen, wie man sich in sozialen Netzwerken bewegt und auch, wie schnell man auf bestimmte Aufforderungen reagiert. Nehmen wir zum Beispiel Snapchat: Dort haben sich mittlerweile regelrechte Kommunikationsstandards etabliert. Wenn mir jemand einen sogenannten „Snap“ schickt und ich nicht innerhalb von drei bis fünf Minuten reagiere, dann bin ich entweder tot oder mag die Person nicht. Das Nicht-Antworten ist also bereits eine Botschaft. Und das ist natürlich ein ganz fieser Trick. Überträgt man Paul Watzlawicks berühmten Satz „Man kann nicht nicht kommunizieren“ auf die digitale Ebene, führt das zu einer kollektiven Verpflichtungshaltung. In bestimmten digitalen Welten herrschen eigene Regeln. Diese Regeln kann man natürlich auch bewusst brechen – zum Beispiel, indem man nicht antwortet. Doch genau darin liegt ein omnipräsenter Anspruch. Selbst das bewusste Nicht-Antworten ist bereits eine kommunikative Handlung mit Bedeutung.
In der analogen Welt wäre es ja genauso. Wenn Sie mich ansprechen und ich nicht reagiere, wäre das ebenfalls eine bewusste Aussage.
Das Problem ist: In einer persönlichen Gesprächssituation können Sie meine Äußerungen interpretieren, indem Sie meine Gestik, meine Mimik und mein Verhalten beobachten. Selbst wenn ich eine lange Pause mache, ist da immer eine physische Präsenz, die Ihnen Raum zur Interpretation gibt. Im digitalen Raum gibt es das nicht. Auch wenn Sie offline sind, wird Ihre Abwesenheit als eine Form der Kommunikation gewertet. Ohne jegliche physische Präsenz entsteht also die Erwartung, dass man sich beteiligen muss. Das ist gerade bei Jugendlichen eine schwierige Dynamik, weil es dadurch umso schwerer wird, andere Interessen einzubauen oder Alternativen zu finden. Die digitalen Medien bieten völlig neue Formen der Selbstinszenierung und Selbstdarstellung und unterstützen das auch aktiv. Zum Beispiel Snapchat: Dort gibt es unzählige Filter, mit denen man seine Bilder bearbeiten kann – sei es auf lustige Weise oder zur Optimierung. Man stellt ein kuratiertes Bild von sich selbst ins Netz.
Welche Auswirkungen hat ein solch kuratiertes Bild auf unsere Selbstwahrnehmung?
Dazu gibt es interessante Studien. Besonders hervorzuheben ist eine, die zum ersten Mal bereits 2007 von zwei Stanford-Forschern durchgeführt wurde. Den Teilnehmenden wurde ein Avatar als menschenähnliches Abbild ihrer Selbst zugewiesen. Einige der Avatare waren groß und gut aussehend, andere kleiner und weniger attraktiv. Anschließend sollten sich die Teilnehmenden mit diesen Avataren in einer Online-Umgebung bewegen. Es gab folgende Beobachtung: Menschen, die in der digitalen Welt attraktive Avatare steuerten, verhielten sich selbstbewusster. Sie waren flirtfreudiger und sprachen bereits nach kurzer Zeit andere Nutzer*innen an. Weniger attraktive Avatare verhielten sich dagegen eher zurückhaltend, ließen sich schneller unterordnen. Und das, obwohl die anderen Nutzer*innen in der virtuellen Welt gar nicht wussten, welchen Avatar ihr Gegenüber hatte. Es handelte sich also um eine reine Selbstprojektion. Das Interessante war, dass sich diese Verhaltensänderung auch in der realen Welt gezeigt hat. Dieses Phänomen nennt man den Proteus-Effekt und er wurde in unzähligen Studien bestätigt und wiederholt – in den unterschiedlichsten Kontexten.
Wenn ich meinen Avatar selbst gestalte, könnte das doch auch positiv sein – etwa, indem ein attraktiveres Selbstbild mehr Selbstbewusstsein erzeugt. Verhält sich das in sozialen Netzwerken anders?
Es gibt sicherlich auch positive Selbstverstärkungseffekte. Experimente mit Sportler*innen zeigen zum Beispiel, dass sie sich durch solche Techniken besser motivieren können. Allerdings habe ich bislang keine Forschung gefunden, die das Konzept des Avatars in einer Spielumgebung direkt auf das kuratierte Selbstbild in sozialen Medien überträgt – obwohl das eigentlich naheliegend wäre. Meine Vermutung ist jedoch, dass diese kuratierten Selbstbilder, die man online präsentiert, tatsächlich eine ähnliche Wirkung auf die Psyche haben wie Avatare in virtuellen Welten. Es gibt aber Grenzen: Man kann seine Bilder noch so sehr filtern – im echten Leben bleibt die Realität eine andere. Ich glaube, dass der Drang zur Selbstinszenierung nicht nur durch Likes und Klicks motiviert ist, sondern dass dahinter auch eine Art „Avatar-Bildung“ steckt. Man erschafft sich in der digitalen Welt eine Identität, die der Person entspricht, die man gerne sein möchte. Dazu gibt es zahlreiche Möglichkeiten – sei es durch beeindruckende Bilder von sich selbst oder indem man gezielt bestimmte Aspekte der eigenen Persönlichkeit betont. Zum Beispiel posten Jungen, die sich stark mit Körperkultur identifizieren, Bilder aus dem Fitnessstudio, präsentieren ihren durchtrainierten Körper und fokussieren sich in sozialen Netzwerken fast ausschließlich auf Muskelaufbau, Proteine und Training. Andere Lebensbereiche treten in den Hintergrund. Das dient nicht nur der Selbstinszenierung, sondern auch der Gruppenbildung: Die „Gymbody“-Jungs vernetzen sich, bestärken sich gegenseitig in ihrer Haltung und formen eine Community mit eigenen Normen. So verstärken soziale Netzwerke spezifische Identitäten und schaffen Echokammern, in denen bestimmte Werte überhöht werden. Soziale Netzwerke verstärken immer beide Aspekte gleichzeitig; Individualität und Gruppenzugehörigkeit. Und genau an diesem Punkt nähern wir uns dem Konzept des Surveillance Capitalism.
Was genau steht hinter dem Begriff „Surveillance Capitalism“?
Google, Instagram, Snapchat, Facebook und Tiktok sind keine neutralen Plattformen, sondern verdienen mit Werbung Geld. Ihr Ziel ist es, möglichst viele Nutzer*innen möglichst lange vor dem Bildschirm zu halten – durch Videos, Bilder und interaktive Funktionen. Das entscheidende Prinzip ist: Wir zahlen keine direkten Gebühren, sondern sind selbst das Produkt. Unsere Daten sind die Währung, mit der Plattformen ihr Geld verdienen, indem sie Werbung verkaufen. Zuerst hatte Google die gesammelten Suchanfragen ihrer Nutzer lediglich dazu verwendet, um die eigene Suchmaschine zu optimieren. Der Mitgründer Larry Page sagte einmal, dass Google gar keine klassische Websuche aufbauen wollte, sondern das eigentliche Ziel sei gewesen, eine künstliche Intelligenz zu entwickeln. Dafür brauchte man möglichst viele Trainingsdaten, weshalb die Daten aus den Suchanfragen auch nie gelöscht wurden. 2001 erkannte Google zum ersten Mal, dass die gesammelten Daten auch für die Erstellung von Nutzerprofilen extrem wertvoll waren. Je mehr Daten gesammelt und verknüpft wurden, desto gezielter konnte eine personalisierte Ansprache erfolgen. Die personalisierte Werbung war die entscheidende Idee.
Wie führt personalisierte Werbung zu Filterblasen?
Um ein provokantes Beispiel zu geben: Jemand, der am Existenzminimum lebt, bekommt keine Werbung für Prada, Rolex oder Mercedes, sondern stattdessen Anzeigen für McDonald‘s-Gutscheine. Das klingt zynisch, aber genau so funktioniert zielgerichtetes Marketing. Und als diese Erkenntnis in der Branche ankam, war das wie ein Geistesblitz: Plötzlich realisierten alle, dass sie über riesige Datenmengen verfügten, die bis dahin als wertlos galten – und dass man diese systematisch auswerten konnte. Mit dem Clustern von Daten entstanden die berühmten Empfehlungsalgorithmen. Durch die Verwendung gigantischer Mengen an Daten, die früher kein Mensch hätte verarbeiten können, erstellen Algorithmen ein hochpräzises Nutzerprofil. Dann schlagen sie Ihnen Inhalte vor und beobachten, wie Sie darauf reagieren. Hängen bleibt vor allem das, was Sie emotional anspricht – nicht unbedingt das, was Sie mögen, sondern auch das, was Sie aufregt. Diese Selbstverstärkung führt dazu, dass „Hate News“ nicht nur geteilt werden, sondern dass sie auch viel häufiger in den Feeds ganz oben angezeigt werden. Hetzerische Beiträge verstärken sich innerhalb einer Plattform immer weiter.
Geht es dabei nur darum, mehr Werbung verkaufen zu können?
Mit Surveillance Capitalism ist nicht nur die Überwachung im klassischen Sinn gemeint. Diese Systeme sind ausschließlich an unseren Daten interessiert. Es interessiert sie nicht wirklich, was wir lesen, wohin wir gehen oder welche persönlichen Interessen wir haben. Der einzige relevante Faktor ist: Wie lassen sich diese Rohdaten nutzen, um unser Verhalten vorherzusagen und gezielt Angebote zu machen? Denn am Ende geht es nur darum, aus diesen Daten Geld zu generieren – und das passiert fast ausschließlich durch Werbung. Soziale Netzwerke wie Facebook und Instagram sind eigentlich keine sozialen Netzwerke – es sind im Grunde Werbeunternehmen. Ein anderer Aspekt an ihnen ist, dass sie uns den Eindruck vermitteln, dass wir uns frei bewegen, sie in Wirklichkeit jedoch unser Verhalten gezielt lenken. Sie analysieren unsere Interessen und steuern, für uns unbewusst, unsere Kaufentscheidungen. Hinter diesem System steckt eine neoliberale Konsumlogik und eine Form kapitalistischer Steuerung. Perfide daran ist, dass wir das nicht merken. Das Prinzip ist einfach: Wir alle müssen permanent zum Kaufen animiert werden, sonst funktioniert das Wirtschaftssystem nicht. Die Algorithmen sorgen dafür, dass uns genau das vorgeschlagen wird, was uns anspricht. Und wenn sich das auch noch in unserer Peergroup verbreitet, entsteht ein Gruppeneffekt: Am Ende finden alle das Gleiche gut und kaufen es.