Im Kino: Les passagers de la nuit

Mikhaël Hers’ „Les passagers de la nuit“, ein Nostalgiefilm über Familie und Zusammenhalt, besticht mehr durch seine Atmosphäre als durch die Erzählung.

In Mikhaël Hers’ neuem Film dominiert die Harmonie. (Fotos: © Pyramide Distribution)

Paris, 1985: Als ihr Mann sie für seine Liebhaberin verlässt, verliert Elisabeth (Charlotte Gainsbourg) den Boden unter den Füßen. Plötzlich muss sie, die seit der Geburt ihrer Kinder keiner Lohnarbeit mehr nachgegangen ist, alleine für die Miete aufkommen. Noch dazu ist sie nun alleinerziehende Mutter der Teenager Mathias (Quito Rayon-Richter) und Judith (Megan Northam). Sie fällt in eine Depression. Doch dann findet sie unverhofft einen Job bei einem Radiosender

Anders als man nach der Zusammenfassung von „Les passagers de la nuit“ annehmen könnte, geht es in Mikhaël Hers’ rund zweistündigem Film nicht um Prekarität. Denn trotz aller Schicksalsschläge genießt Elisabeth ein recht privilegiertes Leben. Darüber, wie sie sich die große Wohnung mit Panoramablick leisten kann oder wie sie so schnell und ohne jegliche Qualifizierung einen so tollen Job finden konnte, sollte man besser nicht zu viel nachdenken. Darum geht es Hers auch allem Anschein nach nicht. „Les passagers de la nuit“ ist ein Nostalgiefilm, bei dem die Atmosphäre eine weitaus größere Rolle spielt als die Erzählung.

Nicht, dass in Hers’ Film nichts passierte, auf eine wirkliche Entwicklung oder einen Höhepunkt wartet man vergebens. Der Großteil der Veränderungen im Film entstehen dadurch, dass Judith und Mathias nach und nach erwachsen werden. Neben Elisabeths Identitätsfindung spielt vor allem auch Mathias’ sexuelles Erwachen eine zentrale Rolle im Film. Lechzt er anfangs noch nach seinen Mitschülerinnen, so bestimmt von einem Tag auf den anderen nur noch eine Frau seine Gedanken: die 18-jährige Talulah (Noée Abita). Elisabeth hatte die junge Obdachlose beim Radio kennengelernt und ihr prompt einen Schlafplatz bei sich zu Hause angeboten.

Ein lockeres Gespräch reicht und schon hat Elisabeth einen Job beim Radio.

Es ist naheliegend, dass Hers versucht hat, seinem Film mit diesem Erzählstrang dynamischer zu machen. Talulah wirkt wie prädestiniert, um das Stilmittel eines Katalysators zu erfüllen. Doch wie alles in Hers’ Film ist Tallulahs Einzug etwas, das passiert, ohne aber weitreichende Konsequenzen zu haben oder auch nur für Konflikte zu sorgen.

Letztlich ist der Erzählstrang rund um Talulah jedoch die größte Schwäche des Films. Die weiße, priviligierte cis Frau, die ihrem Leben einen neuen Sinn gibt, indem sie sich einredet, einer armen Seele zu helfen, erinnert unangenehm an John Lee Hancocks „The Blind Side“. Nicht weniger abgedroschen ist die Romanze zwischen Mathias und Manic Pixie Dream Girl Talulah. Letztere erwacht als Figur nie wirklich zum Leben, sondern ist vielmehr ein Konglomerat dessen, was andere in ihr sehen.

Wer darüber hinwegsieht, kann sich auf einen Film freuen, der in seiner Umsetzung weitaus besser ist als auf dem Papier. Auch wenn nicht viel passiert, so ist der Streifen durchgehend unterhaltsam, stellenweise sogar bewegend. Das ist vor allem Charlotte Gainsbourg zu verdanken, deren Schauspieltalent so manche Schwäche des Drehbuchs wettmacht. Wenn man sich vor Augen hält, welche Bandbreite an Figuren die 50-Jährige im Laufe ihrer Karriere bereits überzeugend verkörpert hat, kann man von dieser Wandelbarkeit nur beeindruckt sein. Vom unbeschwerten Girl next door bis hin zum traumatisierten Nervenbündel scheint es nichts zu geben, das sie nicht kann.

Es gibt Schlimmeres, als sich die Zeit bis zu einem nächsten „Melancholia“ oder „21 Grams“ mit Hers’ luftig-leichter Tragikomödie zu versüßen.

Im Ciné Utopia. Alle Uhrzeiten finden Sie hier.

Bewertung der woxx : XX


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