Irak
: Entronnen, aber traumatisiert

Der „Islamische Staat“ hat im Nordirak an Gelände verloren. Doch die Wunden bleiben, die das Regime des „Kalifats“ verursacht hat. Ein Besuch im Flüchtlingslager „Sharia“, in dem auch viele YezidInnen leben, die den jihadistischen Häschern entkommen sind.

Vom „Islamischen Staat“ entführt worden, doch dann gelang ihr die Flucht: Die 18-jährige Adiba (zweite von links) zu Besuch im Flüchtlingslager „Sharia“, hier mit ihrer Schwägerin und deren Kindern. Adibas Geschwister sowie ihr Vater sind noch in den Händen der Jihadisten. Sie selbst lebt mittlerweile in Deutschland. (Foto: Bernd Beier)

Ein Flüchtlingslager nahe Dohuk, einer Großstadt im kurdischen Nord-
irak. Es ist ein Lager, wie man es sich vielleicht typischerweise vorstellen mag, und es ist riesengroß. Tausende von kleinen Wohnzelten säumen die nicht befestigten Wege. Regnet es stark, verwandelt sich der Untergrund in Schlamm. Mehr als 17.000 Menschen leben hier, auf diesem Areal mit den vielen Zelten und etwas Infrastruktur in Containern. Viele sind traumatisiert von ihren Erlebnissen aus den vergangenen zweieinhalb Jahren. Es sind überwiegend Frauen und Kinder, denn viele Männer wurden getötet.

Die hier leben, sind sogenannte „internally displaced persons“, Binnenflüchtlinge also, im NGO-Sprech schlicht IDPs genannt. Nebenan, nur 70 Kilometer weit entfernt, wütet ein erbarmungsloser Krieg. Das Lager, in dem sie leben, befindet sich auf vergleichsweise sicherem Territorium. Ihre Zukunft ist ungewiss. Vielleicht wird eine junge Generation in diesen Zelten und den Containern aufwachsen und die Älteren werden dort sterben. Solche Lager haben die Tendenz, sich zu verstetigen. Nach Angaben des „International Rescue Committee“ leben Flüchtlinge weltweit durchschnittlich 17 Jahre lang im Status von Vertriebenen.

Bewegt man sich von Südwesten her auf der Schnellstraße auf das 500.000 Einwohner zählende Dohuk zu, kann man am Stadtrand große, leerstehende Neubauten von Hochhäusern sehen, ohne Fenster, ohne Türen, ohne Strom und Wasser, ohne Balkongeländer. Sie sind Überbleibsel des Baubooms, den der hohe Preis für Erdöl, das Exportgut des Nordirak, bis vor nicht allzu langer Zeit ermöglicht hat. Mittlerweile ist der Boom vorbei, der Ölpreis im Keller, zig Baufirmen haben Pleite gemacht, viele Gebäude wurden nicht fertiggestellt. In diesen Rohbauten waren Hunderte der Vertriebenen untergebracht, bevor das Lager namens „Sharia“ im Herbst 2014 eröffnet worden ist. Doch nicht wenige Flüchtlinge campieren angeblich noch immer in solchen Rohbauten. Im Verwaltungsbezirk Dohuk leben mittlerweile etwa 1,3 Millionen Menschen. Die Hälfte davon sind Geflüchtete, viele Yeziden, aber auch andere Flüchtlinge aus dem Irak und Syrien.

Im Sharia-Lager selbst ist nach und nach eine rudimentäre Infrastruktur entstanden. Ein größeres Zelt wurde zu einer behelfsmäßigen Schule ausgebaut. In einigen Containern, oft mit Graffiti verschönert, gibt es Toiletten und Waschgelegenheiten, in anderen lagern Nahrungsmittel. Es gibt eine Art Frauenzentrum, ebenfalls in Containern untergebracht. Einen Fußballplatz gibt es auch. Eine Lagerleitung ist für das Funktionieren des Camps zuständig und koordiniert die Dutzenden NGOs aus aller Welt, die diverse Projekte umsetzen. Teils ist vor den Wohnzelten Wäsche zum Trocknen aufgehängt. Für Wärme in den Zelten sollen Petroleumheizer sorgen, die durch einen Aufsatz auch als Kocher nutzbar sind. Sie stinken erbärmlich.

Im Flüchtlingslager „Sharia“ leben überwiegend Frauen und Kinder, viele der Männer wurden getötet.

In einem der kleinen weißen Zelte in dem Lager sitzt Adiba. Sie ist 18 Jahre alt und stammt aus einer großen yezidischen Familie. „Am 3. August 2014 ist Isis nach Sinjar gekommen“, erzählt sie. „Sie haben viele Eltern getötet und Kinder und Mädchen verschleppt. Mich auch.“ So begann ihre Odyssee in den Händen der Jihadisten von Isis, dem mittlerweile als „Islamischen Staat“ (IS) bekannten Hybrid aus sunnitisch-islamistischer Terrormiliz, Mafia, Geheimdienst und Protostaat.

26 Tage sei sie in den Händen eines IS-Typen gewesen, der sie im Sinjar-Distrikt von einem Ort zum anderen gebracht habe. Dann sei ihr die Flucht gelungen. Eine Stunde sei sie gelaufen, bis sie in einem Haus Zuflucht gefunden habe. Die Bewohner hätten ihr ein Handy zur Verfügung gestellt, mit dem sie ihren Bruder angerufen habe, der bereits nach Dohuk geflohen war. Zunächst habe sie dann bei ihm in einer Schule gewohnt, bis sie im Sharia-Lager bei Dohuk untergekommen sei. „Mein Vater ist noch von Isis gefangen“, sagt sie. „Meine vier Geschwister, drei Neffen und eine Nichte auch. Wir haben keinen Kontakt zu ihnen.“ In dem Lager seien 16 Personen ihrer weit verzweigten Familie untergekommen.

Im Juni 2014 hatte der sunnitisch-jihadistische IS die nordirakische Millionenstadt Mossul eingenommen. Die zahlenmäßig weit überlegene irakische Armee war geflüchtet. Kurze Zeit später, am 29. Juli, rief der Anführer des IS, Abu Bakr al-Baghdadi, in der Stadt das Kalifat aus. Es folgte eine Offensive des IS in den überwiegend yezidisch besiedelten Gebieten im Norden des Irak. Am Morgen des 3. August brachten IS-Truppen Adibas Heimatstadt Sinjar sowie die umliegenden Dörfer des gleichnamigen Distrikts unter ihre Kontrolle. Die Stadt hatte damals schätzungsweise 90.000 hauptsächlich yezidische Einwohner. Die etwa 11.000 in der Gegend stationierten Peschmerga, Truppen der kurdischen Regionalregierung im Nordirak, hatten sich in der Nacht zuvor zurückgezogen.

In den Tagen darauf begingen die IS-Truppen das sogenannte Sinjar-Massaker, dem zunächst etwa 2.000 Yeziden und Yezidinnen zum Opfer fielen. Nach Schätzungen wurden im August 2014 insgesamt 5.000 yezidische Männer massakriert, Tausende Frauen und Kinder in die Sklaverei verschleppt und in vielen Fällen vergewaltigt.

Der IS veröffentlichte in seinem digitalen Magazin „Dabiq“ im Oktober 2014 eine religiöse Rechtfertigung für die Versklavung yezidischer Frauen – eine Ideologie, die die „New York Times“ im folgenden Jahr als „Theologie der Vergewaltigung“ bezeichnete. Neben dem territorialen Gewinn ging es dem Artikel von Rukmini Callimachi zufolge bei der Offensive des IS gegen die Yeziden um eine sexuelle Eroberung. Teils wurden die Yezidinnen Jihadisten als Sexsklavinnen ausgeliefert, teils verkauft, teils als Geiseln benutzt – ebenso wie Kinder -, um Lösegeld von Angehörigen zu erpressen. Die Versklavung der Frauen diente dem IS sowohl dazu, seine Kassen aufzufüllen, als auch zum Zweck, mit der Aussicht auf solche Sexsklavinnen weitere Jihadisten zu rekrutieren.

Vor den Kämpfen in der Sinjar-Region waren im August 2014 mindestens 200.000 Menschen geflohen, überwiegend Yeziden und Yezidinnen, viele von ihnen in den kurdischen Nordirak. Etwa 50.000 von ihnen flüchteten in das Sinjar-Gebirge, wo sie zunächst ohne Wasser, Lebensmittel und medizinische Versorgung ausharrten, eingeschlossen von IS-Einheiten. Zwischen dem 9. und 11. August 2014 rettete eine Gruppe von PKK-Kämpfern bis zu 35.000 Yeziden aus den Bergen durch einen Korridor nach Syrien, den syrisch-kurdische Kämpfer der sogenannten Volksverteidigungseinheiten (YPG) freigekämpft hatten. Am 13. August erklärte die US-amerikanische Regierung, die Luftunterstützung für die kurdischen Einheiten geleistet hatte, die Belagerung des Sinjar-Gebirges für beendet.

Über ein Jahr später, im November 2015, befreiten Peschmerga, unterstützt von yezidischen Milizen und PKK-Kämpfern, die Stadt Sinjar endgültig vom IS. Kampfflugzeuge der internationalen Koalition gegen den IS hatten dessen Stellungen und Nachschublinien bombardiert. Die Stadt ist wegen der Kämpfe und der Bombardements ein Trümmerfeld, der Status des Gebiets ungeklärt. De facto steht es unter der Kontrolle der kurdischen Regionalregierung. In den vergangenen Wochen kam es dort zu Auseinandersetzungen zwischen Peschmerga und yezidischen Milizen, die sich den syrisch-kurdischen YPG und der PKK angeschlossen haben, deren Führung sich im kurdisch-nordirakischen Qandil-Gebirge aufhält.

Neben Adiba hat sich ihre Schwägerin ins Wohnzelt gesetzt. Sie macht einen deprimierten Eindruck, spricht leise. „Als ich von Isis verschleppt wurde, war ich schwanger“, sagt sie. In Gefangenschaft bekam sie ihr Baby. Über zwei Jahre lang sei sie gefangen gewesen, an verschiedenen Orten. Zwei ihrer Söhne, sechs und acht Jahre alt, sowie ihre zehnjährige Tochter seien von ihr getrennt worden. Später sind die Kinder für Tausende Dollar aus den Klauen der IS-Häscher zurückgekauft worden. Irgendwie hatte ihre Familie das Geld zusammengeklaubt. Sie will weiter hierbleiben, in der Hoffnung, etwas für die Familienangehörigen tun zu können, die sich noch immer in der Gewalt des IS befinden.

Adiba hingegen lebt nicht mehr im Nordirak, wo sie auch keine Zukunft für sich sieht. Sie ist lediglich für einige Tage zu Besuch in das Lager gekommen. Mittlerweile wohnt sie in Stuttgart in Süddeutschland. „Baden-Württemberg hat gesagt, dass es 1.000 Yezidinnen aufnimmt“, erzählt sie, „da habe ich ‚ja‘ gesagt.“

Ende 2014 hatte die Landesregierung Baden-Württembergs ein „Sonderkontingent für besonders schutzbedürftige Frauen und Kinder aus dem Nordirak“ aufgelegt, für insgesamt 1.100 Frauen und Kinder, die meisten Yezidinnen. Sie haben eine zunächst auf zwei Jahre befristete Aufenthaltsgenehmigung und bekommen medizinische und psychotherapeutische Betreuung. Adiba gehört dazu. „Ich lerne seit gut einem Jahr Deutsch“, sagt sie. Wenn alles klappt, möchte sie in Deutschland als Lehrerin arbeiten.

Adiba hat eine Perspektive, und das unterscheidet sie sichtlich von vielen anderen, die in dem Lager leben – mit ungewisser Zukunft, oft traumatisiert, in Sorge um ihre verschleppten Angehörigen. Auf dem Rundgang durch das Camp sagt ein alter yezidischer Mann mit rot-weißer Kufiya auf dem Kopf: „Manchmal gibt es hier Engpässe beim Essen, und einige Zelte sind sehr abgenutzt. Aber wir möchten uns bei allen bedanken, die etwas für uns tun: der kurdischen Regierung, der amerikanischen Regierung, den europäischen Ländern, der internationalen Gemeinschaft.“ Er fügt hinzu: „Es wäre großartig, wenn wir in unser Gebiet zurückkehren könnten. Aber das geht nur, wenn es internationalen Schutz gibt. In der Umgebung gibt es viele arabische Communities, und wir möchten nicht noch einmal angegriffen werden.“

Bernd Beier ist Chef vom Dienst der in Berlin erscheinenden Wochenzeitung „Jungle World“.

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