Kanadische Kurzgeschichten: Das ungelobte Land

Kanada ist Gastland bei der derzeit stattfindenden Frankfurter Buchmesse, und einer der dort präsentierten Autoren ist Kenneth Bonert. In seiner Geschichtensammlung „Toronto“ skizziert er die Metropole und ihre Bewohner*innen. Er möchte Entfremdung beschreiben, seine Geschichten wirken aber eher befremdlich.

Studierte Journalistik an der Ryerson Universität in Toronto und arbeitet heute als Reporter und Schriftsteller: der kanadisch-südafrikanische Autor Kenneth Bonert. (Foto: © Richard Dubois)

„Willkommen im Eishotel”, betitelt Kenneth Bonert eine der vier Geschichten seines Erzählbandes. Wie ein großes Hotel aus Eis empfindet der Protagonist Blake seine Stadt: „Von Fremden bevölkert, Schattenmenschen, aus allen Teilen der Erde zusammengewürfelt.” Fremdheit und emotionale Kälte spielen in den vier Geschichten von Bonerts neuem Buch „Toronto“ eine zentrale Rolle. Im Klappentext als Liebesgeschichten angepriesen, trifft das nur teilweise zu. Die vier Protagonist*innen sind ihrem Leben fremd geworden; nur durch die Begegnung mit einer oder einem Unbekannten fühlen sie sich wieder für kurze Zeit lebendig. Dieses Aufbäumen hat jedoch seinen Preis. Eine Frau, die um ihren Sohn trauert, verliert sich in einer sexuellen Beziehung mit einem jungen Maler; ein Ehemann driftet nach der Berührung durch eine Arbeitskollegin in die Welt der Massage-Salons ab; ein Paar gerät durch einen Hauskauf in Existenznot und ein prokrastinierender Webdesigner verstrickt sich in eine Affäre mit einer Frau, die ihn eigentlich abstößt.

Toronto ist nur selten ein Schauplatz in der Literatur; bekannt ist die kanadische Metropole vor allem als Filmkulisse, genauer gesagt als New-York-Ersatz, wenn der Dreh im Big Apple zu kostspielig und zu aufwendig ist. Auch Bonert verweist auf diesen Umstand, er nennt es „Torontos kriecherischen Minderwertigkeitskomplex“. Wer die Stadt als Tourist*in kennenlernt, der erlebt sie als freundlich und weltoffen. Ihre Bevölkerung wirkt wesentlich entspannter als vielerorts beim nordamerikanischen Nachbarn. Es hätte durchaus vielversprechend sein können, das Porträt dieser Stadt durch die Augen der Protagonist*innen zu zeichnen und einen Blick hinter ihre Kulissen zu werfen.

Doch dazu kommt es nicht. Zwar liefert der Autor bisweilen soziologische Betrachtungen, die das Buch stellenweise lesenswert machen. Als Geschichtenerzähler oder Stilist überzeugt der 1972 im südafrikanischen Johannesburg geborene Kenneth Bonert aber nicht.

Schon der Einstieg in die erste Geschichte lässt Böses ahnen: Eine Frau spielt Cello, als plötzlich ein fremder Mann an ihre Tür klopft. Bonert beschreibt dies wie folgt: „Im Nachhinein sah sie darin einen wundersamen, mystischen Zufall, ein Zusammentreffen der Umstände, dass sie das Cello im Augenblick des Klopfens zwischen ihren weit gespreizten Oberschenkeln hatte und den glatten, lackierten Körper in der klassischen, uralten Haltung einer Frau hielt, die das Fleisch und den Samen des Geliebten tief in den Schoß aufnahm.“ Wer nicht bereits bei den Worten „wundersamer, mystischer Zufall“ zusammengezuckt ist, dem bietet der Rest des Satzes genügend Grund sich zu fragen, ob man sich nicht vergriffen hat und stattdessen ein neues Werk von E.L. James in den Händen hält. Das Cello spielt im weiteren Verlauf der Geschichte keine wesentliche Rolle mehr und dient offensichtlich lediglich dazu, eine klassische, uralte Männerfantasie heraufzubeschwören, die Udo Lindenberg schon subtiler besungen hat.

Leider zeigt sich bald, dass die allzu verschachtelten Sätze und bemühten Vergleiche fester Bestandteil von Bonerts Stil sind. Oftmals kann er sich zwischen zwei Bildern nicht entscheiden und versucht daher, beide zu kombinieren. Dabei bringt er sich sprachlich derart in Schwierigkeiten, dass es auf die Leser*innen wirkt, als suche er während des Schreiben verzweifelt nach einem Weg, Anfang und Ende des Satzes doch noch zusammenzuführen. „Bei all den Schrullen, Untugenden und Seltsamkeiten eines Menschen, die unter der Oberfläche der öffentlichen Maske brodeln, besteht so wenig Hoffnung, jemanden zu treffen, der die richtigen Schlitze für die eigenen Laschen und die passenden Stecker für die eigenen Steckdosen hat.” Solche Sätze wirken weniger tiefsinnig oder poetisch denn unfreiwillig komisch.

Da nicht klar wird, welche erzählerische Absicht Kenneth Bonert verfolgt, gerät das Verstörende seiner Geschichten zum Selbstzweck.

Man könnte dem Autor zugutehalten, manch ungelenke Formulierung sei möglicherweise eher der Übersetzung geschuldet als ihm selbst. Wer etwa bei früheren Werken das englische Original mit der deutschen Fassung vergleicht, dem fällt auf, dass sich die Sprache im Englischen ein wenig flüssiger liest.

Doch auch die Wendungen von Bonerts Geschichten sind bemüht. „Das Paradies“ beginnt vielversprechend – ohne gespreizte Beine oder sich ergießenden Samen –, doch nachdem er die Handlung verhältnismäßig behutsam aufbaut, lässt er sie in einem vollkommen unglaubwürdigen Showdown gipfeln. Immer wieder führt er Elemente ein – die Trennung eines Elternpaares, eine Krebserkrankung, die Vor- und Nachteile der Digitalisierung – die für die Entwicklung der Geschichte unerheblich sind und die Leser*innen am Ende darüber im Unklaren lassen, was der Autor eigentlich erzählen wollte.

Wirklich befremdlich aber ist Bonerts Tendenz, immer wieder diskriminierende Klischees aller Art in seine Prosa einzuflechten. Er versucht, die multikulturelle Gesellschaft Kanadas abzubilden, das sogenannte kulturelle Mosaik, welches im Gegensatz zum amerikanischen Modell des Melting Pots steht. Er möchte zeigen, wie das Miteinander in Wirklichkeit eher ein Nebeneinander ist. Doch dabei reproduziert er selbst Vorurteile.

In der Geschichte „Berührungen“ entwickelt ein Mann mittleren Alters eine Obsession für seine junge, taiwanesische Arbeitskollegin Ping, berauscht sich an ihrem „gelassenen Lächeln“ und ihrem „starken Akzent“. Nachdem sie plötzlich verschwindet, versucht er sich zu befriedigen, indem er in zwielichtigen Massage-Salons Ausschau nach „zierlichen“ asiatischen Frauen hält. Am Ende landet er bei einer belorussischen Ärztin, die sich in Toronto prostituieren muss: „Das strähnig blond gefärbte Haar war am Ansatz dunkel herausgewachsen, und sie hatte den üppigen Busen und den Akzent einer Osteuropäerin.” Vielleicht würde Bonert hier argumentieren, er betrachte die Frau aus der Sichtweise seines Protagonisten, doch ähnliche Charakterisierungen ziehen sich durch alle vier Geschichten, ohne dass der Autor sie in irgendeiner Form bricht.

Das verwundert umso mehr, als Kenneth Bonert die südafrikanische Apartheidpolitik, sowie Rassismus und Antisemitismus im Allgemeinen zu zentralen Themen seines Schreibens gemacht hat. Seine Charaktere gehören zum Teil selbst einer ethnischen Minorität an und erfahren Diskriminierung. So wirkt es fast wie Gedankenlosigkeit, wenn er wie nebensächlich erwähnt, dass eine Figur einen „albernen Zigeunerrock mit ekligen Suppenflecken“ trägt. Oder wenn er sich unterhaltende Frauen mit Vogelschwärmen vergleicht, die sich schrill anschreien und mit „gespitzten Mündern“ gegenseitig ins Gesicht picken.

Es hat nicht mit übersteigender „Woke“-Sensibilität zu tun, wenn man solche Darstellungen als unnötig verstörend empfindet. Wer Charles Bukowski, Heinz Strunk oder Chuck Palahniuk gelesen hat, wird durch explizite Textstellen so schnell nicht verschreckt. Doch bei diesen Autoren sind die Grenzüberschreitungen in einen Kontext eingebettet. Bei Bonert ist dies nicht der Fall. Da nicht klar wird, welche erzählerische Absicht er verfolgt, gerät das Verstörende zum Selbstzweck. Warum es für den Verlauf der Erzählung wichtig ist zu beschreiben, wie sich im Krankenhaus eine „fettleibige Frau (…) platschend über den ganzen Boden“ entleert oder der Erzähler sich vorstellt, wie seine Mutter an Alzheimer erkranken könnte und er ihr den „Sabber aus den Mundwinkeln“ wischen müsste, während sie dabei „ihren eigenen Kot an die Wände“ schmiert, erschließt sich nicht.

Blake, der erfolglose Webdesigner, der diese Vorgänge schildert, lässt sich in der letzten Geschichte auf eine sexuelle Beziehung mit einer älteren, „molligen” Frau, die er nur als Dirty Cougar bezeichnet und die sich als ungebildeter Messie entpuppt. Es wäre interessant gewesen, auszuloten, warum Blake von dem, was ihn eigentlich abstößt, gleichsam sexuell erregt wird. Aber bis zum Ende bleibt rätselhaft, warum der Sex mit dieser als namenlos, dick, ungebildet, mittelalt, ungepflegt und vulgär präsentierten Frau die „äußerste Grenze seines extremsten körperlichen Lustempfindens“ durchbricht. Anstatt in die Tiefe zu gehen, dehnt Bonert die immer gleichen Motive aus, bis sie der Skyline Torontos gleichen: „flach und breit und fade”. Seine Erzählungen durchbrechen lediglich die äußersten Grenzen dessen, was man als Leser*in noch nachvollziehen kann.

Kenneth Bonert: Toronto. 
Aus dem Kanadischen von Stefanie Schäfer. Diogenes-Verlag, 256 Seiten.

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