Der Friedensprozess in Kolumbien hat in den ersten acht Monaten der Regierung von Iván Duque einen heftigen Dämpfer erhalten. Die Zahl der Morde an politischen wie sozialen Aktivisten steigt, die Paramilitärs erleben eine Renaissance. Das bekommen auch die Kleinbauern in den „humanitären Zonen“ im Norden des Landes zu spüren.
Vor 42 Jahren kam Antonio Flores als einer der ersten Siedler ins Flussgebiet von Curvaradó und Jiguamiandó. Der 60-jährige gehört zu den Älteren, die in der humanitären Zone „Nueva Esperanza“ leben, die ganz im Norden Kolumbiens, nahe der Grenze zu Panama liegt. Chocó heißt der Verwaltungsbezirk und ist bekannt für seinen Ressourcenreichtum. Edelhölzer, Gold und andere Industriemetalle soll es dort geben; für die Kleinbauern von „Nueva Esperanza“ ist das Segen und Fluch zugleich. Die 75 Familien, die dort leben, sind allesamt Rückkehrer. „Am 3. Dezember 1999 sind wir nach unserer gewaltsamen Vertreibung durch Militärs und Paramilitärs an diesen Ort zurückgekehrt. Seitdem verteidigen wir, was wir mit unseren Händen erst erschlossen haben“, sagt Flores.
Die Kleinbauern, die in drei Dörfern leben, die sich alle zu humanitären Zonen erklärt haben und untereinander eng vernetzt sind, haben einen kollektiven Landtitel über 53.000 Hektar. Auch die Finca von Antonio Flores, die rund fünf Kilometer vom Dorf „Nueva Esparanza“ entfernt liegt, ist Teil davon. Yucca, Bananen, Mais und Gemüse baut er an. In erster Linie für den Konsum der eigenen Familie, erst an zweiter Stelle für den Verkauf in Pavarandó, dem nächstgelegenen Dorf, wo sich auch der Militärposten befindet.
Der kleine Ort ist so etwas wie der Flaschenhals, durch den man muss, um überhaupt in die Region zu gelangen. Von Pavarandó aus führt die einzige Straße ins Flusstal von Jiguamiandó und Curvaradó – sonst bleibt nur der Wasserweg über den Curvaradó. Der breite, gemächlich fließende Fluss mäandert nur ein paar Steinwürfe vom Holzhaus von Antonio Flores entfernt entlang. Auf dem Wasserlauf wird das Holz transportiert, welches das zweite ökonomische Standbein des Dorfes ist. „Wir schlagen Edelhölzer aus den weiter oben liegenden Wäldern unseres Territoriums und verkaufen sie nach Medellín“, erklärt Flores.
Das könnte einer der Gründe gewesen sein, weshalb die 17. Brigade der kolumbianischen Armee gemeinsam mit paramilitärischen Verbänden im Jahr 1997 mehr als 4.000 Kleinbauernfamilien aus der Region der Flussläufe des Jiguamiandó, des Curvaradó und des Bajo Atrato vertrieben haben. Viele der regionalen Anführer wurden dabei ermordet, Frauen vergewaltigt und die Dörfer verwüstet.
Auf die Armee mag sich Antonio Flores nicht verlassen – zu gut hat er die offene Kooperation zwischen Armee und Paramilitärs während der Vertreibung in Erinnerung.
Auch Antonio Flores, der seinen wirklichen Namen aus Sicherheitsgründen nicht preisgeben will, musste mit seiner Familie fliehen. Mehr als zwei Jahre verbrachte er im Exil, dann kam er gemeinsam mit den meisten der 75 Familien, die heute in „Nueva Esperanza“ leben, zurück.
Der Neuanfang war alles andere als einfach und wäre ohne die Begleitung der Interkirchlichen Kommission für Gerechtigkeit und Frieden kaum möglich gewesen. Die kirchliche Menschenrechtsorganisation engagiert sich bis heute für die Rechte der kleinbäuerlichen Gemeinden im Chocó und anderen Regionen Kolumbiens. Ihre Vertreter sind regelmäßig vor Ort. Die Anwälte der Kommission haben 2001 auch das Modell der „Zonas humanitarias“, der humanitären Zonen, entwickelt, die sich auf das humanitäre Völkerrecht berufen. Das Modell wurde vom Gerichtshof für Menschenrechte der Organisation amerikanischer Staaten (OAS) anerkannt und der kolumbianische Staat wurde in mehreren Fällen dazu verpflichtet, die Zonen zu schützen. Das sorgt für relative Sicherheit.
Doch auf die Armee mag sich Antonio Flores nicht verlassen. Zu gut hat er die offene Kooperation zwischen staatlichen Ordnungskräften und Paramilitärs während der Vertreibung, die als „Operación Génesis“ bekannt wurde, in Erinnerung. „Erst heute wurden Paramilitärs in der Umgebung des Dorfes Limón gesehen. Das ist nur ein paar Kilometer entfernt“, sagt er und zieht die Augenbrauen missbilligend nach oben. Vergangenen Februar wurde ein Jugendlicher aus diesem Dorf getötet, vier Tage später tauchten im Dorf acht Paramilitärs auf und fragten nach zwei bekannten Gemeindemitgliedern. „Die Gefahr ist real“, sagt Flores mit bitterer Miene und macht die Armee für das Treiben der Paramilitärs mitverantwortlich. „Es gibt nur zwei Optionen, um in die Region um unser Dorf zu kommen: über die Straße von Pavarandó, die die Armee kontrolliert, oder auf dem Wasserweg. Warum können sich die Paramilitärs trotzdem ohne Probleme bewegen?“, fragt er.
Indizien, die darauf hindeuten, dass sich durch das Friedensabkommen zwischen FARC-Guerilla und Regierung wenig geändert hat. Auch die Politik der seit acht Monaten amtierenden Regierung von Iván Duque ist für Flores ein Déjà-vu. Er fühlt sich an die ersten Jahre der Regierung von Álvaro Uribe Vélez und dessen Konzept der „demokratischen Sicherheit“ erinnert. Der Ausbau des Militärs, ein Ambiente des Misstrauens und der gegenseitigen Bespitzelung waren Kernpunkte des Programms. All das habe wieder Konjunktur. Mit dieser Einschätzung ist er in „Nueva Esperanza“ nicht allein wie Benjamín Sierra, der Sprecher der Gemeinde, bestätigt.
„Schutz von den staatlichen Ordnungskräften haben wir Kleinbauern nicht zu erwarten“, meint der 38-Jährige. „Nur wenn wir geschlossen auftreten und die Internacionales uns weiter unterstützen, haben wir eine Chance“, sagt er. Als „Internacionales“ werden im Dorf die Freiwilligen der „Internationalen Friedensbrigaden“ (PBI) bezeichnet, die die Mitarbeiter der bereits erwähnten Interkirchlichen Kommission für Gerechtigkeit und Frieden begleiten. Deren Präsenz sorgt für Sicherheit, die eigenen Strukturen für Identität. „Nach unserer gewaltsamen Vertreibung und unserem Exil in der Hafenstadt Turbo haben wir begriffen, dass wir nur eine Chance haben, wenn wir uns einig sind“, erklärt Benjamin Sierra. Zum Zeitpunkt der Vertreibung war er gerade einmal 17 Jahre alt.
Sein Vater Erasmo, mittlerweile in seinem 76. Lebensjahr, hat damals den Kontakt zur Interkirchlichen Kommission für Gerechtigkeit und Frieden (CIJP) gehalten und mit deren Mitarbeitern lange über die Rückkehr und die internen Strukturen diskutiert. Die sind heute für das Funktionieren des Lebens in der humanitären Zone „Nueva Esperanza“ verantwortlich. Um Gesundheit, Wasserversorgung, Arbeit, Jugend- und Frauenrechte, aber auch um Bildung kümmert sich die Kommission.
Sie trägt auch dazu bei, dass der Austausch mit den beiden anderen humanitären Zonen von Pueblo Nuevo und Villaflores läuft. Mit diesen beiden Dörfern teilen sich die 75 Familien von Nueva Esperanza seit dem 21. Mai 2000 einen kollektiven Landtitel über 53.000 Hektar. Das schweißt zusammen, aber auch der Aufbau einer eigenen Schule, wo die Älteren ihr Abitur nachholen können, hat dazu beigetragen, dass eine lokale Identität entsteht.
Auch Luz Dani Sierra, eine der Töchter von Erasmo Sierra, geht dort zur Schule. Der 25-Jährigen gefällt, dass hier mit einem Bezug zur Situation und Geschichte der drei Dörfer unterrichtet wird. „Wir lernen unsere eigene Geschichte im Kontext der kolumbianischen Geschichte kennen. Das ist etwas, was wir anderen Dörfern voraushaben“, sagt die junge Frau.
Das Konzept für die Schule wurde mit Hilfe der Kommission entwickelt und zielt darauf ab, die Widerstandskultur in den Dörfern zu stärken. „Wir wollen eine Bildung mit lokalem Bezug, Inhalte auch selbst definieren“, betont Benjamín Sierra und neben ihm nicken Antonio Flores und Erasmus Sierra zustimmend. Sie gehören zur alten Generation, die die Prozesse im Dorf noch begleitet, aber nicht mehr steuert. Für die nötigen Diskussionen wurde eine offene Versammlungshalle gegenüber der Schule gebaut. Dort findet auch die regelmäßige Vollversammlung des Dorfes statt.
Derzeit ist die Rückkehr der Paramilitärs das zentrale Thema. Angeblich sind sie wieder aufgetaucht, um die in der Region präsenten Guerilleros der ELN zu bekämpfen. Die Älteren um Antonio Flores haben da so ihre Zweifel. „Die Paramilitärs haben immer die Interessen von irgendwelchen Großgrundbesitzern oder Konzernen vertreten. In Kolumbien geht es fast immer um Land“, meint Flores. Dann huscht ein Grinsen über sein Gesicht. „Als die Paramilitärs Ende Februar bei uns im Dorf waren, nach zwei unserer Repräsentanten fragten und niemand ihnen antwortete, wurden sie unsicher. Wenig später registrieren sie, dass wir nicht allein waren. Einer rief: ‚die Gringo-Hurensöhne sind da, lasst uns abhauen!‘, und so war der Spuk schnell wieder vorbei“, erinnert sich Flores lachend. Doch er weiß genau, dass sie nun wieder mit dem Spuk des Paramilitarismus konfrontiert sind. Es hat sich nicht viel geändert in Kolumbien.