Krankheit konfrontieren: „In Würde sterben ist Bullshit”

Nach neun Jahren Beziehung erkrankte Syd Atlas’ Mann und Vater ihres Sohnes an der Nervenkrankheit ALS. Gerade als sie dachte, dieses Schicksal meistern zu können, kam es richtig schlimm. Atlas erzählt diese Geschichte in „Das Jahr ohne Worte”.

Erzählt in schonungsloser Offenheit: Die in Berlin lebende Autorin Syd Atlas. (Foto: Daniel Steinmetz)

Am Anfang scheint alles fast zu schön, um wahr zu sein: Gerade von ihrem ersten Mann geschieden, begegnet die Schauspielerin Syd Atlas in Berlin dem Filmemacher Theo. Er ist das genaue Gegenteil des Mannes, den sie soeben verlassen hat, ist selbstsicher und leidenschaftlich, und er versteht sich ausgezeichnet mit Atlas’ Sohn Henry. Manchmal kann Theo ein wenig chaotisch sein und Hypochonder ist er auch, weshalb sie ihm zuerst nicht glaubt, als er ihr von seinem Verdacht erzählt, an ALS erkrankt zu sein.

Auf Englisch heißt Atlas’ Buch „Five Seasons of Love” und sie erzählt in diesem Erstlingswerk ihre eigene Liebesgeschichte, vom Kennenlernen über die ersten Beziehungskrisen, die noch vor Ausbruch der Krankheit auftreten, bis hin zu Theos Tod fast zehn Jahre später. Die in New York geborene Autorin lebt weiterhin in Berlin und arbeitet als Rhetorik-Coach und Moderatorin.

Auch der Physiker Stephen Hawking beispielsweise litt an ALS, Amyotropher Lateralsklerose, und wie bei vielen seltenen Krankheiten sind mehrere Untersuchungen nötig, bis die Diagnose eindeutig ist. Eindringlich beschreibt Atlas, wie das Paar zwischen Hoffnung und Ernüchterung schwankt, wie die Krankheit manchmal lediglich wie eine Einbildung scheint, bis sie schließlich Gewissheit haben. Bei Theo schreitet die Krankheit rasch voran und sie nimmt ihm zuerst seine Stimme, dann nach und nach die Kontrolle über seinen Körper. Bald kann die Familie nur noch über einen Computer kommunizieren und Theos Stimme wird ersetzt durch die einer Software mit weiblicher Identität und britischem Akzent. So beginnt die Entfremdung.

Nach Theos Diagnose verändert sich die Dynamik innerhalb der Beziehung. War Theo ursprünglich der Hauptverdiener, so muss nun Atlas diese Rolle übernehmen. Mit fortschreitender Erkrankung ziehen Pflegekräfte ein, ständig wechselnde Fremde, die in der Wohnung rauchen, telefonieren und essen. Atlas erzählt schonungslos und nimmt sich dabei auch selbst nicht aus: Sie schildert, wie es ihr nach jedem berufsbedingten Auslandsaufenthalt ein wenig schwerer fällt, in ihr Zuhause zurückzukehren, wie auch die Kinder nach und nach eine Scheu vor dem Vater entwickeln. Und wie Atlas letztendlich vielleicht einen Schritt zu weit geht in ihrer Ehrlichkeit, als sie ihren Mann fragt, ob es nicht besser sei, in Würde zu sterben, als an einem Leben festzuhalten, das lediglich von Krankheit bestimmt ist. „In Würde sterben ist Bullshit”, tippt Theo daraufhin in sein Handy. Das ist die zentrale Frage des Buches: Wie viel Platz kann man als Partner*in oder Kind für sich selbst beanspruchen, und wann entfernt man sich zu weit von dem, der nicht mehr folgen kann?

Am Ende ist es dann nicht Atlas, die sich entfernt, sondern Theo. Er betrügt Atlas wiederholt, mit einer Kollegin und einer Pflegekraft, in der gemeinsamen Wohnung. Freunde, Familie liefern sich daraufhin einen Stellungskrieg und Atlas erkennt, dass sie Theo in einem entscheidenden Punkt missverstanden hat: Während sie versuchte, sich selbst, ihre Kinder und ihren Mann auf den Tod vorzubereiten, wollte er vor allem leben, so lange und so intensiv wie möglich. Dabei überschreitet auch Theo eine Grenze und verletzt ausgerechnet die Menschen, die ihm am nächsten stehen und auf deren Unterstützung er angewiesen ist.

Wie viel Platz kann man als Partner*in für sich selbst beanspruchen, und wann entfernt man sich zu weit von dem, der nicht mehr folgen kann?

„Das Jahr ohne Worte” ist nicht zuletzt deshalb lesenswert, weil das Memoir zeigt, welche Aufgabe es bedeutet, nicht nur Platz zu schaffen für die größtmögliche Selbstverwirklichung der Gesunden und Aktiven, sondern auch den Kranken, zu denen wir alle jederzeit werden können, dieselben Möglichkeiten zuzugestehen.

Syd Atlas: Das Jahr ohne Worte. Ins Deutsche übersetzt von Martin Ruben Becker. Rowohlt Verlag 2020, 251 Seiten.

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