Boykottaufrufe prägen derzeit viele kulturelle Veranstaltungen – ein Umstand, den auch die Petition von „Déi Lénk“ unterstreicht, die sich gegen Luxemburgs Teilnahme am „Eurovision Song Contest“ 2026 ausspricht. Doch wie sind kulturelle Boykotte überhaupt zu bewerten? Wo hört Kritik auf und wo beginnt Zensur? Fragen an die Forscherin Elfi Vomberg.

Die woxx hat sich mit der Wissenschaftlerin Elfi Vomberg über eines ihrer Forschungsthemen unterhalten, mit dem sie den Finger am Puls der Zeit hat: kulturelle Boykotte. (Foto: Elfi Vomberg)
woxx: Frau Vomberg, kulturelle Boykotte werden mitunter als Ausdruck eines den Kulturbetrieb mehr und mehr einnehmenden Moralismus gewertet. Ist da was dran?
Elfi Vomberg: Tatsächlich beobachten wir in Teilen des Kulturbetriebs eine stärkere Sensibilität für politische Normen, die aber nicht automatisch „Moralismus“ bedeutet. Kulturelle Boykotte können Ausdruck einer politisch reflektierten Verantwortung sein. Die Frage ist eher: Wie werden Entscheidungen begründet? Ist das Ziel Aufklärung und strukturelle Veränderung – oder möchte man durch einen Boykottaufruf moralische Überlegenheit demonstrieren? Der Unterschied ist zentral.
Was umfasst denn eigentlich der Begriff „kultureller Boykott“? Und wann würde man eher von „Cancelling“ sprechen?
Bei einem kulturellen Boykott verweigert man entweder die (weitere) Zusammenarbeit mit der boykottierten Person beziehungsweise Institution, entzieht ihr öffentliche Präsentationsmöglichkeiten oder verweigert die Nutzung kultureller Infrastruktur. Ein Boykott ist dabei kollektiv organisiert und öffentlich begründet. Er kann sich gegen Institutionen, Staaten oder auch gegen Akteur*innen richten, die in der Kritik stehen. „Cancelling“ hingegen äußert sich vor allem als affektgetriebene, mediale Dynamik, die stark mit der Netzkultur verbunden ist, dezentral stattfindet und sich sehr schnell vollzieht. Meist werden dabei einzelne Personen symbolisch delegitimiert und sozial ausgegrenzt – also in ihrer gesellschaftlichen Reputation beschädigt und negativ „gekennzeichnet“. Kulturelle Boykotte beruhen häufiger auf strukturellen Kritikansätzen – sie zielen darauf ab, auf gesellschaftliche Machtverhältnisse, Verantwortung und institutionelle Zusammenhänge aufmerksam zu machen. „Cancelling“ operiert demgegenüber oft primär über persönliche Zuschreibungen und Diskreditierung individueller Akteur*innen.
Sind kulturelle Boykotte ein modernes Phänomen?
Diese Praxis hat eine lange Geschichte. Neu jedoch ist die globale Vernetztheit sowie die Beschleunigung der Mobilisierung, die Boykotte heute schneller, breiter und unmittelbarer sichtbar machen. In digitalen Öffentlichkeiten verschärfen sich die Effekte: Löschungen werden rascher vollzogen, sind global öffentlich und werden teils algorithmisch verstetigt – etwa durch „Deplatforming“.
Boykott-Gegner*innen behaupten oft, dass kulturelle Boykotte den interkulturellen Dialog unterbrechen und oft auch systemkritische Stimmen tilgen. Befürworter*innen sehen kulturelle Boykotte hingegen als notwendige Form der Gegen- rede. Sind kulturelle Boykotte eher ein wirksames Mittel des Widerstands oder eine Form der Zensur?
Sie können beides sein. Boykotte sind zunächst ein machtpolitisches Instrument zivilgesellschaftlicher Akteur*in- nen: Wer nicht über institutionelle Macht verfügt, kann über den Entzug von Aufmerksamkeit oder Kooperation Druck ausüben. Gleichzeitig besteht die Gefahr, dass legitime Kritik in pauschale Ausschlüsse mündet und dadurch tatsächlich die Vielfalt von Perspektiven eingeschränkt wird – kritische Stimmen oder Minderheitennarrative können mitentfernt werden. Widerstand kippt dort in Zensur, wo er keine Dialogmöglichkeit mehr zulässt.
Weiterhin heißt es oft, dass Künst- ler*innen keine Politiker*innen seien und man von ihnen deswegen nicht verlangen könne, sich politisch zu positionieren. Ist dieser Hinweis berechtigt oder gibt es auch Situationen, in denen man Künstler*innen durchaus zumuten kann, politisch Stellung zu beziehen?
Kunst war immer in politische Aushandlungen eingebettet – auch dann, wenn sie sich als „unpolitisch“ verstand. Dennoch darf man Kunstschaffenden keine generelle Pflicht zur politischen Stellungnahme auferlegen. Zugleich gibt es Situationen, in denen ein Schweigen selbst eine Form der Positionierung ist. Die Erwartung besteht häufig darin, dass Künstler*innen ihre gesellschaftliche Verantwortung reflektieren – nicht darin, sie zu ideologischen Bekenntnissen zu zwingen.
Wenn eine Empörungswelle die nächste jagt, wie stark ist dann noch die Signalwirkung von Boykotten?
Boykotte können in Zeiten hoher Erregungsdynamik paradox wirken: Einerseits verstärken digitale Öffentlichkeiten ihre Sichtbarkeit enorm. Andererseits droht durch Überhäufung ein Bedeutungsverlust.
Was bedeutet es für Kulturinstitutionen oder Künstler*innen, boykottiert zu werden?
Ein Boykott ist eine performative Grenzziehung: Er entzieht symbolisches und oft auch ökonomisches Kapital. Das bedeutet Ausschluss aus Plattformen, Netzwerken und Märkten. Zugleich erzeugt ein Boykott eine starke soziale Markierung. Ein häufig betonter Aspekt in der Forschung ist, dass Boykotte nicht nur sanktionieren, sondern Wege zur Rehabilitation aufzeigen: Welche Veränderungen eröffnen eine Rückkehr in den Dialog?
Kulturboykotte und der ESC 2026
Kultur und Politik überblenden einander – das verdeutlichen die Proteste und Boykottaufrufe, die derzeit zahlreiche Kulturveranstaltungen sowohl vorausgehen als auch begleiten. Jüngstes Beispiel dafür ist die seit Anfang Dezember als gesichert geltende Teilnahme von Israel am nächsten „Eurovision Song Contest“ (ESC), die prompt Kontroversen auslöste. Spanien, Irland, Slowenien und die Niederlande kündigten bereits einen Boykott der Veranstaltung an. Auch in Luxemburg regte sich Widerstand: Am vergangenen Freitag lancierten „Déi Lénk“ eine Petition gegen die Teilnahme Luxemburgs am ESC. Auf Nachfrage der Woxx schreibt ein Sprecher des Senders und Organisators des nationalen Vorentscheids RTL, dass Luxemburg seine Teilnahme am ESC nicht in Frage stelle. „Diese Entscheidung wird vom Fernsehsender RTL unterstützt“, so RTL. „Seit mehreren Jahrzehnten stellt der ,Eurovision Song Contest‘ eine Plattform für den kulturellen Austausch dar, die Zuschauer in ganz Europa und darüber hinaus zusammenbringt. Er betont Vielfalt, Offenheit und gegenseitigen Respekt – Werte, die über Grenzen, Glauben und Herkunft hinausgehen.“ Im vergangenen September hatte der Abgeordnete Ben Polidori (LSAP) bereits in einer parlamentarischen Anfrage die Frage gestellt, welche Maßnahmen die luxemburgische Regierung im Falle einer Teilnahme Israels am ESC 2026 ergreife und ob eine Intervention beim Sender RTL für sie vorstellbar sei. In ihrer gemeinsamen Antwort betonten die beigeordneten Medienministerin Elisabeth Margue (CSV), Außenminister Xavier Bettel (DP) und Kulturminister Eric Thill (DP), dass der internationale Wettbewerb von der Europäischen Rundfunkunion (EBU) und ihren Mitgliedern unabhängig von jeglicher Regierungsbehörde koordiniert werde: „Die luxemburgische Regierung betrachtet den Eurovision Song Contest in erster Linie als einen Musikwettbewerb. In diesem Sinne ist es von entscheidender Bedeutung, eine klare Trennung zwischen den kulturellen Sphären und geopolitischen Spannungen zu wahren.“ Russland ist übrigens seit 2022 vom Wettbewerb ausgeschlossen. Die israelische Kosmetikfirma Moroccanoil gilt als Hauptsponsorin des ESC.

