Die wirtschaftlichen Folgen des russischen Krieges gegen die Ukraine sind für Lettland gravierend, haben zu einer wachsenden Staatverschuldung und stark gestiegenen Energiepreisen geführt. Dennoch werden die Sanktionen gegen Russland bislang von der großen Mehrheit der Bevölkerung unterstützt.
Im Zentrum der lettischen Hauptstadt Riga findet man sie fast in jeder Straßenecke: Ukrainische Flaggen, mal zusammen mit der lettischen Nationalfahne, mal für sich alleine, hängen vor Hotels und Wohnhäusern oder in den Fenstern von Bars. An den Kassen von Supermärkten werden Spenden für die ukrainische Bevölkerung gesammelt. Auch in der EU setzt sich Lettland wie die anderen baltischen Staaten für schärfere Sanktionen gegen Russland und eine größere Unterstützung der Ukraine ein. Dem Kieler Institut für Weltwirtschaft zufolge hat Lettland bisher in Höhe von 0,8 Prozent des jährlichen Bruttoinlandprodukts bilaterale finanzielle, humanitäre oder militärische Hilfe an die Ukraine geleistet – eine Rate, die nur vom nördlichen Nachbarn Estland knapp übertroffen wird. Deutschland leistete bisher Hilfe in Höhe von 0,08 Prozent der Wirtschaftsleistung und hat wie Luxemburg einen Anteil von 0,1 Prozent des BIP zugesagt. Das lettische Verteidigungsministerium sammelte gemeinsam mit einer privaten Initiative sieben Millionen Euro für die ukrainische Armee.
Auch bei einer Demonstration in Riga am 24. August, dem ukrainischen Unabhängigkeitstag, an der viele aus der Ukraine geflüchtete Menschen teilnahmen, wurde die lettische neben der ukrainischen blau-gelben und der schwarz-roten Fahne der ukrainischen Nationalisten gezeigt. Knapp 600 Menschen zogen vom großen Freiheitsdenkmal im Zentrum der lettischen Hauptstadt, das zur Zeit der ersten lettischen Republik in den 1930er-Jahren errichtet wurde und weder von den Nationalsozialisten noch der Sowjetunion, die nacheinander über Lettland herrschten, abgerissen worden war, bis zur russischen Botschaft. Hier riefen sie „Russland – Terrorist“ und sangen patriotische Lieder. „Danke, Lettland“, riefen Demonstranten auf Lettisch.
Am 21. August 1991, drei Tage vor der Ukraine, hatte Lettland seine Unabhängigkeit von der Sowjetunion erklärt. Dazwischen liegt ein anderer Jahrestag, dem in beiden Ländern seit ihrer Unabhängigkeit große Bedeutung zugeschrieben wird: Am 23. August 1939 hatte der deutsche Reichsaußenminister Joachim von Ribbentrop in Moskau in Anwesenheit von Stalin den sogenannten „Hitler-Stalin-Pakt“ unterzeichnet. Die Existenz des geheimen Zusatzprotokolls, in dem auch Lettland der Sowjetunion zugeschlagen wurde, hatte die sowjetische Führung bis 1989 nie offiziell zugegeben. Am 50. Jahrestag der Unterzeichnung des Pakts bildeten zwei Millionen Menschen eine Menschenkette durch Estland, Lettland und Litauen.
Ein Jahr nachdem die baltischen Staaten 2004 der EU und der Nato beigetreten waren, nannte der russische Präsident Wladimir Putin die Auflösung der Sowjetunion „die größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts“. Seit einigen Jahren bezieht sich Putin immer offener auf die Geschichte des Russischen Reiches, um Herrschafts- und Gebietsansprüche zu rechtfertigen. „Man könnte denken, er hätte gegen Schweden gekämpft und dessen Territorium erobert“, sagte Putin Anfang Juni in St. Petersburg über die Eroberungszüge des Zaren Peters I. Anfang des 18. Jahrhunderts. „Aber er hat nichts erobert, er hat es zurückgenommen“, so Putin weiter. Die Rede war nicht nur vom Gebiet des heutigen St. Petersburg, sondern auch von Teilen des Baltikums, die der Zar damals in das russische Reich eingegliedert hatte. „Es scheint, als sei uns das jetzt wieder aufgetragen, zu erobern und zu stärken“, sagte Putin.
Die lettischen Gewerkschaften fordern auch eine allgemeine Reduzierung der Mehrwertsteuer, um die stark gestiegenen Lebenshaltungskosten aufzufangen.
Ähnliche, oft noch direktere Drohungen werden in der russischen Politik und in Medien immer wieder ausgestoßen, oft mit Bezug auf die große russischsprachige Minderheit in Lettland. Der prominente russische Fernsehpropagandist Wladimir Solowjow nannte Mitte August in seiner Radiosendung die baltischen Staaten „Nazis“ und drohte: „Wir werden unsere Truppen schicken, um die russischsprachige Bevölkerung zu beschützen“.
Wenige Monate nach Beginn der russischen Invasion der Ukraine beschloss Lettland die Wiedereinführung der Wehrpflicht und erhöhte die Militärausgaben. Im Frühjahr begannen verschiedene Nato-Mitgliedsländer, ihre Truppenkontingente in den baltischen Ländern zu verstärken. In Lettland waren das etwa Dänemark und die USA, die Luxemburger Armee hat ihre Beteiligung an einer Nato-Einheit in Litauen von vier auf sechs Personen erhöht. Ein bestehendes règlement grand-ducal erlaubt dort derzeit eine gleichzeitige Stationierung von maximal zehn Soldatinnen und Soldaten.
Die spürbarsten Auswirkungen des Kriegs für die meisten Letten dürften im wirtschaftlichen Bereich liegen. „Die lettische Wirtschaft ist verwundbar für die Folgen des Krieges“, warnte kürzlich der Internationale Währungsfonds (IWF). Noch immer sei Russland, aber auch das Nachbarland Belarus, das ebenfalls mit Sanktionen belegt ist, ein wichtiger Handelspartner, obwohl die wirtschaftlichen Verbindungen in den vergangenen Jahren zurückgegangen seien. Besonders wichtig sei die „hohe Abhängigkeit Lettlands von importiertem Erdgas“. Der Krieg habe in Lettland zu steigenden Energie- und Nahrungsmittelpreisen, Lieferschwierigkeiten, dem Zuzug von Flüchtlingen und einer wachsenden Staatsverschuldung geführt. Die Inflation betrug in Lettland im Juli 21,5 Prozent gegenüber dem Vorjahresmonat.
Die Auswirkungen dieses Wirtschaftsschocks treffe vor allem Sektoren wie den Transport von Waren per Zug, erläuterte Martinš Svirskis, ein Wirtschaftsexperte des Freien Gewerkschaftsbundes Lettlands, des größten Gewerkschaftsverbands des Landes, auf Anfrage der woxx. Lettland ist ein Transitland zwischen den Häfen an der Ostsee und den östlichen Nachbarn. „Mit Einsetzen der Sanktionen ist die Nutzung der Züge stark zurückgegangen und viele Arbeiter wurden entlassen“, so Svirskis. Auch die Konkurrenzfähigkeit der Industrie sei durch die stark gestiegenen Energiepreise bedroht.
Als Sowjetrepubliken waren die baltischen Länder Teil der sowjetischen Wirtschaft und der dazu gehörigen Infrastruktur. So sind Estland, Litauen und Lettland bis heute Teil des gleichen Stromnetzes wie Russland und Belarus. Bis 2025 wollten sie den Anschluss an das Stromnetz der EU vollzogen haben, doch unter dem Eindruck der Invasion der Ukraine wurde diese Planung beschleunigt. Wie Reuters berichtete, könnten die baltischen Länder jetzt im Notfall sofort an das EU-Netz angeschlossen werden.
Ein weiteres sowjetisches Erbe sind die Pipelines, die Erdgas und -öl aus Russland ins Baltikum liefern. Lettland bezog im vergangenen Jahr 92 Prozent seines Erdgases aus Russland. Wie bei anderen Ländern der EU reduzierte Russland in den vergangenen Monaten auch die Gaslieferungen nach Lettland. Im Juli beschloss das lettische Parlament das ambitionierte Ziel, den Gasimport aus Russland bis zum 1. Januar 2023 vollständig einzustellen und die Importe teilweise durch Flüssiggas (LNG) zu ersetzen. Russland kam dem zuvor, und kappte Ende Juli kurzzeitig vollkommen die Gaslieferungen nach Lettland, die allerdings kurz darauf mit reduziertem Volumen wieder aufgenommen wurden.
Teile der lettischen Gasinfrastruktur waren im Besitz von Tochterfirmen des russischen Unternehmens „Gazprom“: Das Versorgungsunternehmen „Latvijas Gaze“ gehört neben „Uniper“ und anderen Teilhabern zu 34 Prozent „Gazprom“. „Latvijas Gaze sollte eher Russisches Gas oder Gazprom Gas heißen“, sagte der lettische Ministerpräsident Arturs Karinš Ende August in einem Fernsehinterview. Bis 2017 habe Russland quasi ein Monopol am lettischen Gasmarkt besessen, die Firma „Latvijas Gaze“ habe versucht, dem Staat die Regeln zu diktieren.
Die Preissteigerungen sind schon jetzt spürbar. Im Juli erreichte der Strompreis mit 304,96 Euro pro Megawattstunde den höchsten Stand seit der Liberalisierung des Strommarktes – 245 Prozent höher als im Vorjahresmonat. Auch die Erdgaspreise treffen schon jetzt die Privatkunden. Der lettische öffentliche Rundfunk interviewte am 23. August für sein Radioprogramm Passanten in Riga zur anstehenden Parlamentswahl am 1. Oktober. Der Rentner Janis gab sich dort pessimistisch: „Jeder verspricht, was gerade nötig ist, aber realistisch gesehen: das Gas ist teuer und die Elektrizität auch. Ich zahle jetzt 650 Euro für meine Gasversorgung, vorher waren das 180 Euro.“ Dennoch werde er zur Wahl gehen: „Was soll man sonst tun, solange man am Leben ist, muss man auch wählen gehen.“
Angesichts eines durchschnittlichen Monatseinkommens von knapp 1.000 Euro und eines Mindestlohns von nur 500 Euro monatlich sind solche Preise nicht nur für Rentner bedrohlich. Zwar werde die Regierung die Bevölkerung und besonders bedürftige Gruppen im Winter mit Sonderzahlungen unterstützen, doch forderten die Gewerkschaften auch eine allgemeine Reduzierung der Mehrwertsteuer, um die stark gestiegenen Lebenshaltungskosten aufzufangen, so der gewerkschaftliche Wirtschaftsexperte Svirskis.
Die insgesamt niedrigen Gehälter anzuheben, sei das wichtigste Anliegen der Gewerkschaften in Lettland, sagt auch Natalja Preisa vom Freien Gewerkschaftsbund der woxx. Weder mit dem Wirtschaftswachstum noch mit der derzeitigen hohen Inflation habe der Anstieg der Löhne mitgehalten. Nur 20 bis 24 Prozent der Angestellten würden in Gehaltsverhandlungen von Gewerkschaften vertreten und 2021 seien nur acht Prozent aller lettischen Arbeiter und Arbeiterinnen Mitglieder von Gewerkschaften gewesen – der niedrigste Stand seit der Unabhängigkeit.
Noch einen anderen Grund gibt es, dass die hohe Inflation zumindest bisher zu keinen Protesten führte: In Lettland gibt es derzeit keine bedeutenden politischen Kräfte, die wegen der hohen Energiepreise eine Zurücknahme der Sanktionen gegen Russland fordern. „Außer einigen Persönlichkeiten am politischen Rand sind sich die Gesellschaft und die politischen Parteien sowohl in der Regierungskoalition als auch in der Opposition ziemlich einig in der Unterstützung der Sanktionen und des Ziels der Energieunabhängigkeit“, sagt Svirskis. „Die Mehrheit der Öffentlichkeit und der politischen Führung unterstützt die Sanktionen, bis der Krieg in der Ukraine vorbei ist.“