Der französische Autor Charles Dantzig fühlt sich in vielen literarischen Gattungen zu Hause: Er verfasst Romane, Gedichte und Essays, schreibt aber auch fürs Feuilleton. Eine nun bei Steidl auf Deutsch erschienene Sammlung solcher Texte ist allerdings nicht unbedingt gut gealtert.
Die Biografie und der berufliche Werdegang des 1961 als Patrick Lefebvre geborenen Charles Dantzig lassen darauf schließen, dass das Lesen und die Literatur in seinem Leben eine nicht unwesentliche Rolle spielen. Für seine Romane, Gedichte und Essays wurde er mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, unter anderem 2010 mit dem Grand Prix Jean Giono für sein gesamtes bisheriges Schaffen. Dantzig hat auch Werke von Fitzgerald, Wilde und Joyce übersetzt. Angesichts all dessen bringt ihn die von ihm im Titel seines neuen Buches gestellte Frage „Wozu lesen?” auch nicht in Verlegenheit.
In kurzen Kapiteln erkundet Dantzig in dieser Textsammlung die verschiedensten Gründe, welche das Lesen von Büchern – hiermit meint er Belletristik, nicht Sachliteratur – rechtfertigen. Überschrieben sind diese Kapitel mit Titeln wie „Lesen, um Dinge zu entdecken, die der Schriftsteller nicht geschrieben hat” oder „Lesen, um Freunde zu finden”. Aber auch: „Lesen, um nicht mehr Königin von England zu sein”.
Dantzig ist überaus wortgewandt und er kleidet seine Überlegungen in zitierfähige Sätze: „Lesen ist dieser Moment der Ewigkeit, den ein paar Einzelgänger miteinander teilen in einem immateriellen und etwas bizarren Raum, nämlich dem Geiste.” Oder: „Was ist ein Buch, wenn nicht Dornröschen, was ist ein Leser, wenn nicht ihr Märchenprinz, selbst wenn er eine Brille trägt, kaum noch Haare auf dem Kopf hat und achtundneunzig Jahre auf dem Buckel?” Aber auch: „Mit der Wahl unserer Lektüre kleiden wir unsere Emotionen ein, legen uns Wörter in unsere stummen Münder, verleihen dem Grummeln unserer Gedanken Eloquenz.” Eben diese Eloquenz täuscht auch hie und da darüber hinweg, dass Dantzigs Ausführungen eher allgemeingültig als tiefgründig sind.
Dantzig huldigt seinen Idolen und zeigt sich unerbittlich gegenüber denen, die seinen hohen Ansprüchen nicht genügen.
„Wozu lesen?” ist oft amüsant, aber keine leichte Kost: Wer in Sachen Literaturgeschichte nicht ganz sattelfest ist, fühlt sich unter Umständen rasch abgehängt. Dantzig huldigt seinen Idolen, vor allem Stendhal, und zeigt sich unerbittlich gegenüber denen, die seinen hohen Ansprüchen nicht genügen. Die Beatniks zum Beispiel (zu esoterisch) oder J.K. Rowling (zu kommerziell). Die Tatsache, dass auch Erwachsene die Jugendbücher von Rowling gelesen haben, bezeichnet er provokativ als „freiwillige Retardation”. Wer sowohl die gesammelten Werke von Kerouac, wie auch die Harry-Potter-Bände in seiner Bibliothek stehen hat, darf sich an dieser Stelle ertappt fühlen.
Und nicht nur an unliebsamen Autor*innen arbeitet sich Dantzig mit spitzer Feder ab, sondern auch an Menschen, die zu wenig lesen oder die falschen Bücher oder die richtigen Bücher, aber auf die falsche Weise. Am meisten aber ärgert er sich über ignorante Buchhändlerinnen. Die „kräftige Blondine”, die Tolkien nicht richtig buchstabieren kann, betitelt er als „Walküre”. Das klingt gleich in mehrerlei Hinsicht abgeschmackt, denn schließlich arbeitet Dantzig nicht für einen kleinen Lohn in einer kleinen Pariser Librairie und berät dort fachmännisch die Kundschaft. Seine Arbeitgeber heißen stattdessen Grasset und France Culture.
Dabei ist er durchaus ein Autor, der es versteht, gesellschaftliche Themen aufzugreifen, wie er es zum Beispiel 2015 in seinem Roman „Histoire de l’amour et de la haine” gemacht hat, wo er mittels verschiedener Figuren die Debatten rund um den „Mariage pour tous” in eine literarische Form goss.
Dass auch Erwachsene die Jugendbücher von J.K. Rowling gelesen haben, bezeichnet Dantzig provokativ als „freiwillige Retardation”.
„Wozu lesen?” ist in Frankreich bereits 2010 erschienen und wurde wie nun auch die deutschsprachige Ausgabe allgemein sehr positiv aufgenommen. Was dann doch verwundert, denn manche von Dantzigs Pointen sind nicht amüsant, sondern wirken eher spöttisch und verletzend. Etwa wenn der Autor darüber sinniert, ob ein „Buckliger mit Hängebacken” wohl abends über ausgeliehener Erotika aus der Bibliothek „verschämt” masturbiere.
Natürlich schlüpft Dantzig bewusst in die Rolle des elitären Snobs und nutzt dies als Stilmittel, aber wer Worte so sehr schätzt, der sollte sich ihres Gewichts auch bewusst sein.